«It is just as valuable to pray into your disbelief, as it is to pray into your belief, for prayer is not an encounter with an external agent, rather it is an encounter with oneself. There is as much chance of our prayers being answered by a God that exists as a God that doesn’t.»
Nick Cave
«Angesichts des Kommunikations- und Konformitätszwangs stellt der Idiotismus eine Praxis der Freiheit dar. Der Idiot ist seinem Wesen nach der Unverbundene, der Nichtvernetzte, der Nichtinformierte. Er bewohnt das unvordenkliche Draussen, das sich jeder Kommunikation und Vernetzung entzieht. […] Der Idiot ist ein moderner Häretiker. Häresie bedeutet ursprünglich Wahl. Der Häretiker ist also jemand, der über eine freie Wahl verfügt. Er hat den Mut zur Abweichung von der Orthodoxie. Mutig befreit er sich vom Konformitätszwang. Der Idiot als Häretiker ist eine Figur des Widerstands gegen die Gewalt des Konsenses. Er rettet den Zauber des Aussenseiters.»
Byung-Chul Han
Im Oktober kommen Nick Cave & The Bad Seeds mit «The Wild God Tour – UK & Europe 2024» ins Hallenstadion nach Zürich. Der Veranstalter promotet die Band als einen «der besten Live-Acts der Welt», deren Gig zu den «am sehnlichsten erwarteten Konzerten des Jahres 2024 zu werden» verspricht. Die Gemeinde der Jünger:innen, die der charismatische Nick Cave und der quirlige Warren Ellis um sich versammeln, werden enthusiastisch zustimmen, und diejenigen, die das anders sehen, werden nicht dort sein. An dem australischen Musiker, Expunk, Underground-Bohemien, Singer-Songwriter, Bandleader, Schriftsteller, Drehbuchautor, Schauspieler und Filmkomponist Nick Cave scheiden sich nicht mehr die Geister, wie in den 1970er und 1980er Jahren, als der drogensüchtige Wave-Punker mit den Bands The Boys Next Door und The Birthday Party zunächst in Melbourne, dann in London und Berlin musikalisches Chaos, hemmungslose Aggressionsorgien und andere Desaster zelebrierten. Es hat nichts Ungewöhnliches, dass Künstler:innen im Laufe ihrer Karrieren Brüche und Wandlungen durchmachen, sich von Altem distanzieren, um sich mit Neuem zu identifizieren (oder identifiziert zu werden). Überraschend ist dagegen, dass Cave seine biographische und künstlerische Entwicklung auf die Pointe zuspitzt: «Sagen wir, ich bin ein erloschener Atheist.» Mit seinem Hang zu religiösen Themen bewegt sich Cave in bester Gesellschaft. Gott ist ein beliebtes Sujet in der populären Musik: John Lennon, Tori Amos und Prince besingen ihn, Faithless erklärt ihn zum DJ und Eminem zum Rapper, für Metallica irrt er, Bob Dylan weiss ihn auf seiner Seite, Coldplay bringt er zum Lächeln, Tom Waits setzt statt auf ihn auf die Liebe des «Chocolate Jesus» aus Zerelda Lee's candy store und bei Nick Cave & The Bad Seeds mutiert er zum «Wild God». Gott beflügelt die Musik schon immer. Von den biblischen Psalmen, altkirchlichen Antiphonen, gregorianischen Chorälen und mittelalterlichen Madrigalen bis hin zur Vielfalt der neuzeitlichen und modernen Kirchenmusik begegnet der Gesang als Medium des Gebets, der Verehrung, Klage, Liebe, des Trosts, Lobs und Danks, um den Glauben zu bekennen, auszudrücken und zu verkündigen. Musik ist nicht nur Aristoteles’ Musterbeispiel für das menschliche Handeln, sondern auch ein Ausdrucksmittel für überwältigende Stimmungen und Grenzsituationen des Lebens, in denen die Sprache versagt, aber der Gesang bleibt. Das gilt nicht nur aus emotionaler, sondern auch aus neurophysiologischer Sicht.
Lieder über Gott werden nicht nur in Kathedralen gesungen. Es gab sie lange vor der kirchlichen Sakralarchitektur und sie begegnen grundsätzlich überall, wo Menschen aufeinandertreffen. Die Frage, ob die Gottesgesänge diesseits und jenseits der Kirchenmauern von der gleichen Sache handeln, ist jüngeren Datums. Sie lässt sich nur schwer oder vielleicht gar nicht klären. Denn eine Antwort setzt einerseits ein gemeinsames Verständnis von der «Sache» voraus und andererseits Kriterien darüber, was die Artikulation dieser Sache «gleich» oder «ungleich» macht. Wie berechtigt die Frage ist, zeigt sich daran, dass auch in liberalen westlichen Gesellschaften ohne Apostasie-Gesetze das Blasphemie-Risiko gross ist, wovon die zeitgenössische Popkultur ein Lied singen kann. Wie anstössig muss Musik sein, um sich den Vorwurf der Gotteslästerung einzuhandeln und wie ernsthaft muss sie sein, um ihn trotz ihrer Provokationen abwehren zu können? Auch diese Fragen lassen sich nur schwer und unter Umständen nicht beantworten. Klar ist: Moralische und rechtliche Verbote können Gott nicht vor Angriffen schützen (wobei vorab zu klären wäre, was es bedeutet, Gott angreifen und ihn umgekehrt davor schützen zu wollen). Sinnvoll gestritten werden kann dagegen über den Schutz der Personen, die wegen ihrer Angriffe gegen Gott selbst angegriffen werden. Schutz verdient nicht zuletzt ihr Beharren darauf, dass es menschliche Gött:innenbilder sind, die angegriffen und verteidigt werden. Auch das biblische Gebot der Gottesverehrung richtet sich nicht an Gott, sondern an die Menschen und bestätigt das fundamentale anthropozentrische Prinzip, dass sich Menschen immer nur selbst (die eigene oder eine andere Person) schädigen können.
Die beeindruckendsten und prägendsten Erlebnisse von Menschen mit Gott in der Bibel finden in unglaubwürdigen und verrückten Situationen statt: Die Natur und ihre Gesetze werden aus den Angeln gehoben, um keine nassen Füsse zu bekommen, die Biologie wird ausgehebelt, damit eine Frau ohne Sex schwanger wird und ihr am Kreuz gestorbener Sohn wieder aufersteht, Physik und Mathematik kapitulieren vor den Speisungswundern und die Grundlagen der Neuro- und Kognitionswissenschaften werden an Pfingsten vom Sturm weggefegt. Unglaubwürdig sind die seltsamen Erzählungen für einen Glauben an die Naturgesetze und naturwissenschaftlichen Theorien, gegen den resp. die in den Geschichten verstossen wird. Denn das Irritierende steckt nicht in den erzählten Taten selbst, sondern entsteht durch die menschlichen Erwartungsstandards und Normalitätshorizonte, in denen solche Ereignisse nicht vorgesehen sind.
Die Theologie bemüht sich seit ihren Anfängen um eine Vermittlung zwischen dem nach menschlichem Ermessen Erwartbaren und dem Einfall von Unerwartetem. Unter dem Strich muss es erstaunen, dass die theologischen Domestizierungsversuche der biblischen Zeugnisse zwar häufig unter Häresie-, aber nicht unter Blasphemieverdacht geraten sind. Als folgenreiche Belastung entpuppt sich die theologische Idee, dass sich Gläubige und Kirchen auf einen Gott einigen müssten, eine Art theoretisch-ökumenischer Universalismus, der die Gotteserkenntnis und -erfahrung der Gläubigen, mit dem einen (trinitarischen) Gott der kirchlichen Verkündigung kurzschliesst. Das erscheint merkwürdig angesichts des Bekenntnisses des Apostels Paulus – «Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir» (Gal 2,20) – und der mathematischen Grundrechenarten: Wenn der eine Christus in seinem einzigartigen Einleben in der gläubigen Person präsent ist, dann bildet das je persönliche Erleben des innewohnenden Christus die vielfältige und komplexe Erfahrungswelt, gegenüber der das Dogma von dem (in allen Gläubigen präsente) eine Christus lediglich eine abstrakte theoretische Behauptung darstellt. Strenggenommen kommt die theoretische Hypothese nicht über die im Grunde triviale Einsicht hinaus: »Wir sind alle Häretiker.»
Natürlich ist die theologische Behauptung von dem einen Christus biblisch korrekt. Sinnvoll wird sie erst im Rahmen einer Gemeinschaft, die sich durch das geteilte Erleben des Christus in mir konstituiert. Das Erleben kann nicht durch theoretische Spekulation oder empirische Überprüfung gestützt oder bestätigt werden. Es zeigt sich im gemeinsamen Gebet, im Hören und Erzählen der biblischen und eigenen Glaubensgeschichten und in der Verbundenheit gemeinsamen Feierns. Den geteilten Praktiken ist gemeinsam, dass mit ihnen nichts begründet und gerechtfertigt wird. Ihre einzige Bestätigung besteht paradoxerweise darin, dass die Glaubenspraxis keine Bestätigung braucht. Auch die Theologie gründet in diesem Paradox und hat ein System theoretischer Sprachspiele mit enormem Einfluss auf die westlichen Denktraditionen und -stile entwickelt. Der Preis ihres Erfolgs besteht in einem Dilemma: Die Theorie ist eine Tochter des Zweifels, entsprechend zielt Theologie darauf, die Zweifel systematisch-rational zu bestätigen oder zu dekonstruieren. Von theoretischen Zweifeln unterscheiden sich Glaubenszweifel darin, dass sie nicht theoretisch bestritten und ihnen streng genommen nicht einmal theoretisch zugestimmt werden kann, weil Glaube, Glaubenszweifel und Nichtglaube keiner theoretischen Grammatik folgen. Zu glauben, am Glauben zu zweifeln und nicht zu glauben sind keine Sache rationaler Begründung und Verwerfung von theoretischen Behauptungen. Das hat Konsequenzen weit über die Theologie hinaus: Von den neuzeitlichen Wissenschaften, die angetreten sind, die Verrücktheiten aus der Welt zu verbannen, indem sie Abweichungen erklärbar machen, sollte nicht erwartet werden, dass sie den Blick für das Phantastische und Unglaubliche wachhalten und schützen.
In einer durchrationalisierten Welt, der die irrationalen Stürme immer kräftiger ins Gesicht blasen, bleiben wenig Zwischenräume für den Glauben diesseits wahnsinniger Realitätsverleugnung und jenseits wissenschaftlich-technologischer Wirklichkeitsschrumpfung. Die Luftnot westlicher Theologien spiegelt sich im Ringen der Kirchen um ihr Proprium und ihr Selbstverständnis wider. Es scheint, als wirke das grosse, mächtige, einflussreiche und ehrfurchteinflössende kirchengeschichtliche Erbe wie eine Blockade, die die Kirchen daran hindert, in der Welt mitzuspielen. Zwar hatte Johannes Calvin die Schöpfung als «theatrum gloriae Dei» gewürdigt, aber das Spiel auf dieser Bühne überliessen Kirche und Theologie weitestgehend anderen Künsten. Für Nick Cave kann die Musik das «gottesförmige Loch […] am wirksamsten […] füllen». Sein Selbstverständnis als «religiöser Künstler» – auf die Bezeichnung besteht er auch, um «die Leute zu ärgern» – scheint eine theologisch-künstlerische Arbeitsteilung zu bestätigen.
Biblische Motive und Anspielungen begegnen bei dem 1957 in Warracknabeal (Victoria/Australien) geborenen Cave bereits Ende der 1970er Jahre, als er mit Mick Harvey in Melbourne die Punk-Wave-Band The Boys Next Door gründet, die sich nach dem Umzug nach London 1980 in The Birthday Party umbenennt, und heute als eine der einflussreichsten Post-Punk-Bands gilt. Der Ortswechsel nach West-Berlin 1982 führt nicht nur 1983 zur Bandauflösung, sondern im selben Jahr auch zur Gründung von Nick Cave & The Bad Seeds. Zu den prägenden Gründungsmitgliedern zählen – neben Cave – der kongeniale und exzentrische Kopf der Einstürzenden Neubauten Blixa Bargeld, bis 2003 Bandgitarrist, und der Zürcher Thomas Wydler von Die Haut, bis heute der Drummer der Band. Harvey, dem die Band ihr Überleben in den wilden Anfangsjahren verdankt, steigt 2009 endgültig aus, nachdem sich die Zusammenarbeit zwischen Cave und Warren Ellis, der seit 1994 zur Band gehört, immer weiter intensiviert. Cave und Ellis gründen 2006 die Band Grinderman, ein archaisch krachendes Begleitprojekt, in dem Cave seine überschaubaren Fähigkeiten als Gitarrist austobt und musikalisch zu seinen Anfangszeiten zurückkehrt. Die erste Phase der Bad Seeds beginnt mit dem wüsten Debütalbum «From Her to Eternity» (1984), dem Bluesalbum «The Firstborn Is Dead» (1985), dessen Titel an Jesse Garon, den totgeborenen Zwillingsbruder von Elvis Presley erinnert, dem der apokalyptische Song «Tupelo» gewidmet ist, gefolgt vom Coveralbum «Kicking Against the Pricks» (1986) und dem im gleich Jahr erschienen «Your Funeral, My Trial» (1986), auf dem erstmals Balladen zu hören sind, und reicht bis zu dem von der Kritik gelobten «Tender Prey» (1988) mit dem irrwitzigen Song «The Mercy Seat», dem entspannten «The Good Son» (1990) mit dem ersten Minihit «The Weeping Song», dem etwas uninspirierten «Henry’s Dream» (1992) und dem pompös-skurrilen «Let Love In» (1994).
Mit Caves Heroin-Entzug Ende der 1990er Jahre beginnt die zweite Bandphase, in der sich die Musik beruhigt und der Songwriter sein Talent als Geschichtenerzähler auslebt. Auf dem Album «Murder Ballads» (1996) mit dem bis heute einzigen Band-Hit – dem Duett mit Kylie Minogue «Where the Wild Roses grow», einem fiktiven Dialog zwischen einem Mörder und seinem Opfer –, schaukeln sich düstere Klänge mit noch dunkleren Geschichten über Tod und Töten gegenseitig hoch. Auf dem deprimiert, klagenden Album «The Boatman’s Call» (1997), das während einer Lebenskrise entsteht, hadert Cave mit Gott und der Welt, ein Thema das sich in den elegischen Hymnen auf «No More Shall We Part» (2001) fortsetzt und auf dem etwas quer dastehenden «Nocturama» (2003) zu einem vorläufigen Abschluss kommt. Die drei folgenden Alben, das Doppelalbum «Abattoir Blues/The Lyre of Orpheus» (2004), auf dem erstmals ein Gospelchor zu hören ist, «Dig!!! Lazarus Dig!!!» (2008) und «Push the Sky Away» (2013), dokumentieren Caves nun entspannter klingende Suche nach Gott und nach seiner Art zu glauben.
Einen zweiten Einschnitt bildet im Jahr 2015 der Unfalltod seines 15-jährigen Sohnes, der nach LSD-Konsum von einer Klippe gestürzt war. Cave macht – im Gegensatz zu seinem bisherigen Umgang mit Medien und Publikum – seine persönliche Trauer öffentlich und sein Publikum nicht nur zu Mitwissenden, sondern Beteiligten seiner Verzweiflung. Das abgrundtief traurige Album «Skeleton Tree» (2016) und sein melancholischer Nachfolger «Ghosteen» (2019), der die Kitschtoleranz strapaziert, weil Cave komplett auf seine ansonsten traumwandlerische Ironie verzichtet, kreisen um die persönliche und familiäre Tragödie und loten die Emotionen eines mitlauschenden Voyeurismus aus. 2018 startet Cave seinen Blog «Red Hand Files», in dem er Fragen über Gott und die Welt beantwortet. Die Isolation während der Corona-Pandemie beflügelt den Musiker. Auf das Album «The Idiot Prayer» (2020), eine Art Best-of-Kompilation, auf dem Cave 22 essentielle Songs am Piano einspielt, folgt der filmische Konzertmitschnitt. Ein Jahr später veröffentlichen Cave und Ellis das Album «Carnage» (2021), auf dem der Songwriter vom melancholisch klagenden, über den manisch fluchenden, zum heiter verzückten Cave mutiert, und wiederum ein Jahr danach das Spoken-Word-Album «Seven Psalms» (2022), auf dem Cave – ungeachtet von Sex, Monstern und Blutvergiessen – einem weitgehend versöhnlichen Gott begegnet. Das aktuelle Album «Wild God» (2024) kann als eine Art vorläufiges Resümee des Gott- und Glaubenssuchers Cave gehört werden: «Die Welt ist noch da, und sie ist sogar schön! Mein eigener wilder Gott, der ja gleich durch mehrere Songs der neuen Platte geistert, ist aber vielmehr ein Suchender. Und das kann Gott an sich, dem in einer säkularen Welt die Herde abhanden gekommen ist, ebenso sein wie ich selbst oder andere Menschen, die glauben möchten und mitunter genau daran verzweifeln.»
Bei Nick Cave tauchen Gott, Glaube, Transzendenz und Spiritualität nicht nur spontan und zufällig auf, sondern ziehen sich als roter Faden durch sein gesamtes Schaffen und bilden eine Art Konstruktionsprinzip seiner Kunst. Er gehört zu den ganz wenigen Stars der populären Musik, die nicht nur sporadisch mit knackigen Äusserungen zu religiösen und theologischen Themen zitiert werden, sondern dessen Texte einen systematisch-theologischer Anspruch vermitteln resp. aus dieser Perspektive rezipiert werden. Cave, der als Kind im Chor der anglikanischen Kirche seines Heimatortes sang und vier Jahre lang zweimal wöchentlich den Gottesdienst besuchte, ist ein profunder Bibelkenner – «I am a King James guy» –, dessen Interessen sich im Laufe seiner Karriere vom Alten hin zum Neuen Testament verschieben. Er verfasst eine Einleitung ins Markusevangelium, veröffentlicht mit Seán O’Hagan den umfangreichen Interviewband «Faith, Hope and Carnage» und betreibt den Blog «Red Hand Files», der manche kirchlichen Seelsorgeangebote in den Schatten stellt. Für viele Fans und Kritiker:innen fallen bei seinen Auftritten die Grenzen zwischen Kulturevent und Gottesdienst.
Auf die Frage auf seinem Blog, ob seine Lieder von Gott kommen, antwortet er mit den Schlusszeilen aus William Butler Yeats’ Gedicht «The Circus Animals’ Desertion»: «I must lie down where all the ladders start / In the foul rag and bone shop of the heart». Anders als die Himmelsleiter in Jakobs Traum, auf dem Engel auf- und absteigen und Gott sich oben auf der Leiter zeigt (Gen 28,10–22), bleibt unklar, woraus und wohin die Leitern von Yeats und Cave führen. Klar ist für Cave nur, dass er sich selbst die Sprossen aufwärts kämpfen muss: «Ein Lied zu schreiben erfordert eine Abrechnung. Wir krempeln die Ärmel hoch und begegnen durch rigorose Anstrengung dem desaströsen und beschämenden Zustand unseres inneren Selbst. […] Vielleicht, wenn wir Glück haben, entstehen aus diesem düsteren Geschäft unsere Lieder, und wir schicken diese geflügelten und singenden Dinge hinaus, um Gott hervorzulocken und seine Präsenz in der Welt zu beleben.» Der personalen Innenseite des Songwriting im Ringen mit sich und Gott, das Cave dem Gebet gleichstellt, steht die soziale Aussenseite gegenüber, in der Cave der Musik eine kathartisch-reinigende Funktion zuschreibt. Sie verfüge in besonderer Weise über die «Fähigkeit, all die beschissenen Muster, die wir uns angewöhnt haben, um mit der Welt klarzukommen, zu durchstossen – all die Vorurteile und Parteilichkeiten und Agenden und Ausreden, die sich im Grunde zu einer Art aufgeschichteten Leids zusammenfügen – und dass sie an den Punkt vorstossen kann, der all dem zugrunde liegt und der die Essenz von uns allen ist, die rein und gut ist. Die heilige Essenz. Ich glaube, Musik ist von allem, was wir tun können – zumindest im Bereich der Kunst –, einer der besten Indikatoren, dass etwas vor sich geht, etwas Unerklärtes, da sie uns erlaubt, wahrhafte Augenblicke der Transzendenz zu erleben.»
Theologie und Musik gehören für Cave zusammen. Die Musik ist das bevorzugte Medium, um Gott auf die Spur zu kommen, und die Theologie ihr thematischer Taktgeber. In Caves Musik spiegeln sich die vier Konstanten wider, die sein impulsives, rhapsodisches und offenes theologisches Nachdenken inspirieren und zusammenhalten: (1.) Bei Cave begegnen Gott, Glaube, Transzendenz und Spiritualität in einer lebenspraktischen Unmittelbarkeit: «Dem Göttlichen muss die Freiheit gegeben werden, durch uns zu fliessen, durch die Sprache, durch die Kommunikation, durch die Vorstellungskraft. […] Durch uns findet Gott seine Stimme, denn so wie wir Gott brauchen, braucht er uns.» In (unbewusster) Übereinstimmung mit der reformierten Lehre von der Königsherrschaft Christi und der II. These der Barmer Theologischen Erklärung kann es für den Musiker keine Unterscheidung oder gar Trennung zwischen profanen und religiösen Lebensbereichen geben. (2.) Cave geht die Wandlung des Saulus zum Paulus nicht mit, sondern beharrt auf der unhintergehbaren Ambivalenz zwischen beiden Persönlichkeiten. Der Glaube findet nicht in der einen oder anderen Persönlichkeit statt, sondern in dem sich zwischen beiden aufbauenden Spannungsfeld: «Im Kern ist Glaube vielleicht lediglich eine Entscheidung wie alle anderen auch. Und Gott ist möglicherweise die Suche selbst.» (3.) Eine Metanoia oder Konversion, die im Album «Wild God» eine wichtige Rolle spielt, betrifft das Leben, das eine Person führt, und nicht bloss die Innerlichkeit der Person, die vollständig durch den Modus des Suchens bestimmt wird. Die Person verliert sich, indem sie jemanden oder etwas verliert, ohne Aussicht darauf, sich auf andere Weise wiederzufinden. Niemand verliert sich selbst (aus sich selbst heraus), es sei denn durch eine andere Person. Darauf gründet Caves wütender Protest gegen religiöse, literarische oder cineastische Happy Ends: «Wir werden alle irgendwann in unserem Leben von einem Verlust ausgelöscht. Wenn es bisher noch nicht geschehen ist, dann irgendwann – das ist sicher.» (4.) Mit seiner ruhelos vorwärtstreibenden Gottsuche erinnert Cave an den in die Fremde aufbrechenden Abraham: «cause people often talk about being scared of change / but for me I‘m more afraid of things staying the same / cause the game is never won / by standing in any one place for too long».Der Musiker erinnert an einen radikalen Calvinisten, der ein irdisches Ankommen kategorisch ausschliesst und den Gedanken von der institutionalisierten Kirche als Ziel pauschal verwirft. Verstand der Genfer Reformator Johannes Calvin die christliche Gemeinde als wanderndes Gottesvolk und die Kirche als portables Gotteshaus, spitzt der Musiker nochmals zu, wenn er gegen die institutionalisierte Kirche einen seiner Lieblingsverse aus der Bibel platziert: «Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.» (Mt 18,20)
Nick Cave hat sein theologisches Denken in drei Texten – den für eine Radiosendung entstandenen Beitrag «The Flesh Made Word» von 1996, die Einführung zu «The Gospel according to Mark, authorized King James Version» von 1998 und «A Lecture on Love Songs» von 1999 – sowie in einigen Passage des Interviewbands mit Seán O’Hagan von 2022 erläutert. In den weitgehend parallel angelegten drei Texten erzählt Cave im Blick auf den jeweiligen Schwerpunkt von den bewegten und emotionalen Erlebnissen seiner Bibellektüren und ihren Einfluss auf seine Musik und sein Leben. Würde der leichtsinnige Versuch unternommen, die Lektüre- und Lebensgeschichten Caves auf eine knappe Formel zu bringen, läge die Quintessenz nahe: Gewalt und Unglück bilden keine Ausnahmen, die mit Hilfe von Religion bewältigt oder überwunden werden können, sondern die Lebensrealität und den religiösen Normalfall. Am Anfang steht seine empörte rhetorische Frage: «Wie können Inspiration oder in diesem Fall Gott moralisch sein?» Der junge chaotisch-aggressive Wave-Punker liest die alttestamentlichen Geschichten über den zornigen und strafenden Gott wie eine Bestätigung. Er sucht keine Erlösung von dem Bösen, sondern von einer kirchlichen Moral, die das Böse für schlecht erklärt. Caves Zustand ähnelt dem des Protagonisten Euchrid Eucrow aus seinem ersten Roman «And the Ass Saw the Angel», der «explodes in a catharsis of rage»: «In der harten Prosa des Alten Testaments [fand ich] eine perfekte Sprache, die gleichzeitig geheimnisvoll vertraut war und nicht nur den Geisteszustand widerspiegelte, in dem ich mich zu dieser Zeit befand, sondern auch meine künstlerischen Bemühungen aktiv beeinflusste. Ich fand dort die Stimme Gottes, und sie war brutal und eifersüchtig und unbarmherzig. Für jede gallige Vorstellung, die ich über mich und die Welt hegte – und davon gab es viele –, gab es im Alten Testament ihr Äquivalent, das mit gefletschten Zähnen von der Seite sprang. Der Gott des Alten Testaments schien ein grausamer und nachtragender Gott zu sein, und ich liebte die Art und Weise, wie er aus einer Laune heraus ganze Nationen auslöschte. [… A]lles was ich tun musste war, auf die Bühne zu gehen, meinen Mund aufzumachen und den Fluch Gottes durch mich hindurch brüllen zu lassen. Überschwemmungen, Feuer und Frösche sprangen aus meiner Kehle.»
Ein anglikanischer Geistlicher empfiehlt dem ausgelaugten und deprimierten Jungmusiker – «Ich war krank und ich war angewidert, und mein Gott war in einem ähnlichen Zustand» – die Lektüre des Markusevangeliums. In seiner späteren Einleitung zu dem Evangelium beschreibt Cave rückblickend die Zäsur: «Deine Wut braucht keinen Namen mehr. Du findest keinen Trost mehr, wenn du zusiehst, wie ein niedergeschlagener Gott eine elende Menschheit quält, während du lernst, dir selbst und der Welt zu vergeben. Dieser Gott des Alten beginnt in deinem Herzen zu transmutieren, unedle Metalle werden zu Silber und Gold, und du erwärmst dich für die Welt.» Auch wenn es so klingt, geht es nicht um Konversion. Der Christus ist bei Cave mit einem schwachen Licht unterwegs, wird seine Einsamkeit und das notorische Unverständnis seiner Jünger und aller anderen nicht los und leidet an der Welt schon vor seinem Kreuzestod. Christus steht zwar seinem Vater gegenüber, aber die Welt ist die turbulente aus dem Alten Testament geblieben und die bekommt nun der Sohn mit aller Macht zu spüren. «Christus sprach zu mir durch seine Isolation, durch die Last seines Todes, durch seine Wut auf das Weltliche, durch seine Trauer. Christus, so schien es mir, war das Opfer des Mangels an Vorstellungskraft der Menschheit, wurde mit den Nägeln kreativer Geistlosigkeit ans Kreuz gehämmert.» Auf für den theologischen Mainstream abenteuerliche Weise spielt Cave das göttliche Vater-Sohn-Verhältnis analog zu der eigenen Geschichte mit seinem Vater durch. Keine moralische Zensur und hermeneutische Besänftigung schützen den einen vor den Eigenarten des anderen, niemandem wird etwas vorenthalten und niemandem bleibt etwas erspart. Die Welt der Väter lässt sich nicht übergehen und schon gar nicht ungeschehen machen. Die Beziehung wird – weit über Biologie und Metaphysik hinaus – durch die Aufforderung und den Auftrag der Älteren an die Jüngeren in einer Unmittelbarkeit wachgehalten, die in Worte gefasst, eigentlich nur Missverständnisse produzieren kann: «Wie Christus komme auch ich im Namen meines Vaters, um Gott am Leben zu erhalten.»
Die seltsame Äusserung erschliesst sich aus den Umständen von Caves eigener Vater-Beziehung: «Ein grosses klaffendes Loch wurde durch den unerwarteten Tod meines Vaters, als ich neunzehn Jahre alt war, aus meiner Welt gesprengt. Die Art und Weise, wie ich lernte, dieses Loch, diese Leere zu füllen, war zu schreiben. […] Ich fand durch den Gebrauch der Sprache heraus, dass ich Gott ins Dasein schrieb. […] Die Verwirklichung Gottes durch das Medium des Liebesliedes bleibt meine Hauptmotivation als Künstler. Das Liebeslied ist vielleicht die wahre und markanteste Gabe des Menschen, Gott zu erkennen, und eine Gabe, die Gott selbst braucht. Gott hat uns diese Gabe gegeben, damit wir sprechen und Ihn lebendig machen, weil Gott in der Kommunikation lebt. Wenn die Welt plötzlich verstummen würde, würde Gott zusammenbrechen und sterben. […] Obwohl das Liebeslied in vielen Gestalten auftritt – Lieder des Jubels und des Lobpreises, Lieder der Wut und der Verzweiflung, erotische Lieder, Lieder der Verlassenheit und des Verlusts –, wenden sie sich alle an Gott, denn es sind die gespenstischen Prämissen der Sehnsucht, in denen das wahre Liebeslied lebt. Es ist ein Heulen in die Leere, nach Liebe und nach Trost, und es lebt auf den Lippen des Kindes, das nach seiner Mutter weint. Es ist das Lied der Liebenden, die ihren Geliebten braucht, das Wüten des Wahnsinnigen, des Bittstellers, der seinen Gott anfleht. Es ist der Schrei eines an die Erde, das Gewöhnliche und Banale Gefesselten, der sich nach einem Flug sehnt; einem Flug in Inspiration, Vorstellungskraft und Göttlichkeit. Das Liebeslied ist der Klang unserer Bemühungen, gottähnlich zu werden, um aufzusteigen und sich über das Irdische und Mittelmässige zu erheben.»
Wenn der Love Song eine wie immer verklausulierte Gottesanrufung oder die vielleicht innigste Form des Gebets darstellt, dann gehört er selbstverständlich in die Welt, in die Gott und Christus auf je ihre Weise präsent sind. Cave lotet die damit verbundenen Spannungen aus. Liebeslieder sind der blanke Wahnsinn, «Manifestationen unseres Bedürfnisses, uns vom Rationalen loszureissen, sozusagen von unseren Sinnen Abschied zu nehmen». Sein Paradebeispiel ist Psalm 137, der ihm als Blaupause für viele seiner «more sadistic love songs» dient: «Der Psalm ist schaurig in seinen gewaltsamen Gefühlen, während er aus Liebe zu seinem Heimatland und seinem Gott singt und darum bittet, dass er durch das Töten der Kinder seiner Feinde glücklich gemacht wird. Was ich in der Bibel, besonders im Alten Testament, immer wieder fand, war, dass Verse der Verzückung, der Ekstase und der Liebe scheinbar gegensätzliche Gefühle in sich tragen konnten – Hass, Rache, Starrsinn usw. – und dass sie sich nicht gegenseitig ausschlossen.»
Dass Cave – anders als traditionell sozialisierte Christ:innen – beim Thema Liebe nicht automatisch an Bergpredigt, Nächsten- und Feindesliebegebot denkt, erstaunt nach dem bisher Gesagten nicht. Sein leitendes Motiv, Gott und Christus persönlich zu nehmen, in dem Sinn, wodurch und in welcher Weise sie für Gläubige präsent sind, zeigt kein Interesse an einem moralisch harmonisierten und versöhnlichen Gottesbild, das die realen menschlichen Verhältnisse ausblendet oder den Gott notorisch in einer imaginierten äussersten Gegenposition lokalisiert. Cave lässt die theologischen Gott-Mensch-Abstandhalter und ihr Konstruktionsprinzip, binäre Gut-Böse-Antagonismen, nicht gelten und begreift die Geschöpfe als von Gott tatsächlich Angesprochene und zum konkreten Handeln aufgeforderte Menschen. Diese stolpern genauso über ihre unversöhnlichen Unmenschlichkeiten, wie Gott selbst an seiner Menschlichkeit feilen muss und Christi Menschlichkeit ohnmächtig an den anthropologischen Realitäten abperlt. Das klingt auf den ersten Blick nach dem radikalen Universalismus Omri Boehms, mit dem Abraham im Streit um die Opferung seines Sohns, sogar Gott selbst moralisch in die Knie zwingt, bestätigt aber bei genauerem Hinsehen Caves Anliegen, immer und zugleich alle menschlichen Facetten und Möglichkeiten im Spiel zu halten.
Wie ernst es dem Musiker damit ist, zeigt exemplarisch die erste Strophe seines Liebeslieds «Into My Arms» vom Album «The Boatman’s Call»: «Ich glaube nicht an einen eingreifenden Gott / Doch ich weiss, Liebste, dass du es tust / Aber wenn ich es täte, würde ich niederknien und ihn bitten / Sich nicht einzumischen, wenn es um dich geht / Nicht ein Haar auf deinem Kopf anzurühren / Dich so zu lassen, wie du bist / Und wenn ihm danach ist, dich zu leiten / Dann leite er dich geradewegs in meine Arme / In meine Arme, oh Herr / In meine Arme, oh Herr / In meine Arme, oh Herr / In meine Arme». Das Lied entsteht nach den traumatischen Trennungen von seiner langjährigen Partnerin Vivian Carneiro und ihrem gemeinsamen Sohn Luke und anschliessend von der Schwester im Geist und kongenialen Singer/Songwriterin Polly Jean (PJ) Harvey. Auf das theologische Statement in der ersten Zeile, folgt die Anrede der Geliebten, die die gegenteilige Überzeugung vertritt. Der Ich-Erzähler besteht darauf, dass Gott sie in Ruhe lassen soll, auch mit ihrer Entscheidung, sich zu trennen. Aber mit dem nächsten Wort wendet sich der Ich-Erzähler mit seinem Wunsch nach Versöhnung unvermittelt an die Geliebte und anschliessend in Gebetform an ihren/seinen (?) Gott selbst. Cave lässt das moderne utilitaristische Nutzenkalkül gleich doppelt an der Liebe scheitern. Zunächst bekennt er sich zu einem wirkungslosen Gott, weil die Hinwendung an eine Instanz wegen ihrer Wirkungen, kein Glaube/keine Liebe, sondern Kalkül wäre. Und anschliessend adressiert er genau an diese Instanz seine aussichts- und nutzlose Bitte um Versöhnung. Alles zu erwarten, ohne auf irgendeine Erfüllung zu setzen, ist keine Paradoxie, sondern der Glaube an einen Gott, der in der menschlichen Liebe bei sich und in der Welt ist. Das Gebet singt der «Idiot Prayer» einsam am Flügel im Alexander Palace «into the void».
Ein theologischer Kollege stellt die Gretchenfrage: Haben Theologie und Kirche einen Grund, Nick Cave zur Kenntnis zu nehmen? Das ist zunächst eine streitimmune Geschmacksfrage. Caves Meinung über die Kirche macht die Sache aber nicht einfacher: «Der Christus, den uns die Kirche anbietet, der blutleere, friedliche ‹Retter› – der Mann, der eine Gruppe von Kindern gütig anlächelt oder ruhig und gelassen am Kreuz hängt – verleugnet Christi mächtige, schöpferische Trauer oder seinen kochenden Zorn […]. So verleugnet die Kirche Christi Menschsein und bietet eine Gestalt an, die wir vielleicht ‹loben›, mit der wir uns aber niemals identifizieren können. […] Das ist eindeutig nicht das, was Christus im Sinn hatte. Christus kam als Befreier. Christus verstand, dass wir als Menschen für immer durch die Anziehungskraft der Schwerkraft am Boden festgehalten werden – unsere Gewöhnlichkeit, unsere Mittelmässigkeit –, und durch sein Beispiel gab er unserer Vorstellungskraft die Freiheit, sich zu erheben und zu fliegen. Kurz gesagt, wie Christus zu sein.» Die Kritik ist nicht neu, die von Cave skizzierte Alternative liegt den nüchternen Vorstellungswelten reformierter Kirchenmitglieder eher fern und gegenüber intellektuellen Wagnissen hegen Kirchen ein dezent stabiles Misstrauen. Gleichzeitig lässt sich die Tatsache nicht wegdiskutieren, dass Nick Cave & The Bad Seeds demnächst das gefüllte Zürcher Hallenstadion mit genau diesen Botschaften beschallen werden. Das verdient mehr als einen neidischen Blick der Kirchen, weil dort ein Phänomen demonstriert wird, dass sich – zumindest bei sorgfältigem Hinhören – nicht mit Wokeness, evangelikaler Erlösungspotenz, esoterischen Harmonieexzessen und kollektivem Weltuntergangsschmerz erklären lässt.
Gewiss wird Cave das jüngste Album «Wild God» vorstellen und das Publikum mit dem Song «Conversion» darüber aufklären: «Diese Stimmen hörten nie, nie wieder auf / Sie hörten nie wieder auf! Ich wurde von der Flamme berührt! / Ich habe nie wieder wirklich Schmerz gefühlt! Nie wieder Schmerz! / Nicht einmal durch gewöhnlichen Schmerz. Nicht einmal durch gewöhnlichen Schmerz!» Bereits in der folgenden Wiederholungskaskade kommt es zu einer nicht auflösbaren Mehrdeutigkeit: «I never ever really hurt again! Oh hurt again! / Oh hurt again!» – «Ich habe nie wieder wirklich Schmerz gespürt». Und dann? «Oh nie wieder Schmerz gespürt! / Oh nie wieder Schmerz gespürt!»? Oder doch wörtlich: «Oh wieder Schmerz / Oh wieder Schmerz!»? Cave sagt nichts dazu. Für weitere Konfusion sorgt die Frage nach dem Konversionsgrund bzw. Bekehrungsziel. Wenn das Album «Wild God» heisst, muss davon ausgegangen werden, dass er den Grund und das Ziel der «Conversion» bildet. Im Song «Wild God» wird er als «alter, kranker Gott, der stirbt, weint und singt» dargestellt, der durch seine Erinnerungen, die ihn gefangen halten, fliegt und durch die Menschen auf der Suche nach seinem Volk. Angesichts dessen, was er sieht, könnte er mit Walter Benjamins «Engel der Geschichte» unterwegs sein. Der Gott muss aufgemuntert werden: «O Herr, wenn du dich einsam fühlst und wenn du dich traurig fühlst / Und nicht weisst, was du tun sollst / Hol deinen Geist herunter». Was mit «Bring the spirit down» gemeint ist, bleibt offen: Soll Gott seinen Geist auf die Erde bringen oder muss der eigene «spirit» zuerst vollständig «down» sein, damit eine Konversion stattfinden kann? Und um wessen «spirit» und «conversion» ginge es überhaupt? Der Song endet – offenbar, wenn auch nicht eindeutig – mit einem Subjektwechsel, der musikalisch durch ein gewaltiges Gospelchorfinale unterstrichen wird: «Ich bin ein wilder Gott, Baby, ich bin ein wilder Gott. / Hier gehen wir! Ja, hier gehen wir!» Cave äussert sich nur knapp zum Song: «Der Typ in diesem Lied ist eigentlich ein alter Mann, der irgendwie durch die Welt zieht, durch verschiedene Situationen und seine eigenen Erinnerungen, all diese Dinge, und nach jemandem sucht, der an ihn glaubt. Schliesslich ruft er dieses Wesen/diesen Kern des Glaubens herbei, und das ganze Lied explodiert.»
Eine neue Strophe des alten Lieds vom missionarischen «Idiot Prayer» mit seiner Antimission: Ja, glaube! Aber glaub bloss nicht, dass du mit deinem Glauben auf der sicheren Seite bist! Mit dieser Botschaft lassen sich Kirchen, im Gegensatz zu Konzertsälen, nicht füllen. Die Bedürfnisse und Erwartungen von Konzert- und Kirchenbesucher:innen liegen weit auseinander. Aber ist die empirisch unbestreitbare Diskrepanz zwischen der Attraktivität beider Locations eine notwendige oder zumindest unvermeidbare oder nur eine irrtümliche oder am Ende sogar selbst verursachte? Attraktivität ist eine schwierige kirchliche und theologische Kategorie. Wenn Sie als Lesende bis zu diesem Wort durchgehalten haben, war das Thema für Sie vermutlich attraktiv genug. Für die Lesenden, die von diesen Sätzen nichts wissen, weil sie die Lektüre schon vorher eingestellt haben, war der Text vielleicht zu unattraktiv, um dafür ihre Bibellektüre zu verschieben oder den geplanten Gottesdienstbesuch ausfallen zu lassen. Unattraktivität kann ein Segen sein. Es könnte auch sein, dass das Thema unattraktiv sein muss, weil es andernfalls die Attraktivität der Person für sich selbst gefährden könnte. Attraktivität kann riskant sein, sogar hochriskant, wenn sie Löcher in die eigenen Selbstverständnisse und -bilder brennt. Das wäre dann ein Gottesfeuer und Herzensbrand, ganz nach Geschmack von Nick Cave und den Jüngern in Emmaus (Lk 24,32).
Die vertrauten Theologien, kirchlichen Formeln und Rituale funktionieren grosso modo wie Ganzkörper-Geist-und-Seelen-Protektoren, die die Hitze des Gottesfeuers auf eine angenehme Temperatur herunterkühlen und den Aufprall der biblischen Botschaft auf ein erträgliches Mass abfedern. Dagegen setzt Cave seine exzentrische Bibellektüre, die nicht auf diejenigen fokussiert, die im Leben und Glauben Bescheid wissen, sondern denjenigen Aufmerksamkeit schenkt, deren Zweifel nicht zur Ruhe kommen. Caves Songs bestechen nicht durch die Themen, sondern durch ihren eigentümlichen Zugang. Sie klingen, als kämen sie aus den Mündern der biblischen Schatten- und Gegengestalten: Lieder von dem ums goldene Kalb tanzenden Volk, der missbrauchten Hagar, dem verrückten Saul, dem von Gott verwetteten Hiob, dem reichen Jüngling, dem älteren Bruder des verlorenen Sohns, der verzweifelten Maria, dem ungläubigen Thomas oder dem vom Tod auferweckten Lazarus, dessen Freude über das wiedergewonnene Leben in Caves moderner Grossstadtversion in der Ratlosigkeit untergeht, was er mit seinem neuen Leben überhaupt anfangen soll.
Caves Zugang hat eine auch theologisch instruktive, methodische Pointe. Der narrative turn in Literatur, Ethik, Theologie und anderen Disziplinen hat nicht nur neue Ausdrucksformen von Authentizität etabliert, sondern auch eine Pluralisierung und Egalisierung der Erzählsubjekte angestossen. Gleichzeitig hat er Kohärenzzumutungen erzeugt, die trotz aller Beteuerungen des Fragmentarischen und Unperfekten eine «komplette» Story mit Anfang, Spannungsbogen und Schluss verlangen. Die Befreiung zum Erzählen wird belastet durch einen Kohärenz-, Vollständigkeits- und Strukturierungsstress, der zu einem schmerzhaften Schleifen von Lebensecken und -kanten sowie zu gewaltsamen Schliessungen von Unabgeschlossenem nötigt. Denn Geschichten wird zugehört, wenn sie einen Anfang und ein Ende haben und – um die Zuhörenden auf der Spur und bei Laune zu halten – eine «Moral von der Geschicht’» bieten. Geschichten sind elegante Formen normativer Geiselnahme, die das Publikum in die Geschichte und ihren formenden Sinn hineinziehen und die auf eine Art kollektive Bekenntnishaftung hinauslaufen. Dieser Effekt verschärft sich bei Erzählungen in der dritten Person, die für gemeinsame Bibellektüren und Gottesdienstpredigten typisch sind. Vereinigung ohne Vereinnahmung gibt es nicht. Ein «Wir» funktioniert nur als Mitgegegangen-Mitgefangen-Mitgehangen-Wir. Die Crux besteht darin, dass das «Wir» am Anfang als blosse Anrede auftritt, die zu einem harmlosen, sozial adäquaten sich-ansprechen-Lassen motiviert. Die ritualisierte «Wir»-Eröffnung setzt ein «Wir»-Spiel in Gang, das einer Grundregel folgt: Das «Wir» bestimmt, was wir meinen, denken, tun, lassen, teilen, ausgrenzen etc. Der «Wir»-Effekt zeigt sich darin, dass jede Abweichung nicht für ein sich so bestimmendes «Ich» steht, sondern für eine «Wir»-Scherbe, die durch Verletzung oder Bruch der «Wir»-Spielregel aus dem «Wir» herausgebrochen ist. Das «Ich» der Person steht nicht am Anfang, es ist nicht aus sich selbst da, sondern konstituiert sich erst sekundär durch sein delinquentes Verhalten. Das «Wir» respektiert das «Ich» der Person eigentlich nicht.
Den begnadeten Geschichtenerzähler Cave packte ein Zweifel, der jeder «Wir»-Rhetorik eingeimpft gehört. «Irgendwann war ich es leid, Songs in der dritten Person zu schreiben, die eine strukturierte Geschichte erzählen, die mit einem Anfang beginnen und sich dann brav auf einen Schluss zubewegen. Mir wurde die Form einfach suspekt. Es fühlte sich nicht richtig an, den Menschen ständig diese Geschichten zuzumuten. Es fühlte sich an wie eine Art Tyrannei. Fast so, als hätte ich mich hinter diesen netten, aufgehübschten Narrativen versteckt, weil ich Angst vor den Sachen hatte, die in mir vor sich hinbrodelten.» In der Folge wurden «die Storylines immer verworrener, verschlungener, verstümmelter […] – die Form selbst wurde traumatischer. Meine Musik begann, das Leben so zu reflektieren, wie ich es sah.» Die Songs bleiben narrativ, aber die Erzählungen sind «jetzt durch einen Fleischwolf gedreht worden».
Bei Nick Cave geht es weiterhin martialisch zu. Als Dauersucher schenkt er der Sorge um die Sicherung des Gefundenen wenig Aufmerksamkeit. Das macht nicht sorglos und erst recht nicht sorgenfrei, aber leichtsinnig. Leichtsinnigkeit braucht es um «sowohl an die Anwesenheit Gottes als auch an Seine Abwesenheit» und «mehr an die Suche selbst als an das Ergebnis dieser Suche» zu glauben. Die ganze Leuchtkraft von Caves frommer Leichtsinnigkeit zeigt sich in Tilmann Mosers dunkler Kammer der «Gottesvergiftung», in die der katholische Psychoanalytiker mindesten eine Generation von Pfarrpersonen und Theolog:innen führte, um die Rebellion gegen Gott einzuüben. Seine rasante Abrechnung beginnt mit einer Gottesanrufung: «Lieber Gott, ich möchte mit einem Fluch beginnen, oder mit einer Beschimpfung, die mir bald Erleichterung brächte. Eine Art innere Explosion müsste es werden, die dich zerfetzte.» Am Ende des Buchs teilt Moser Gott seinen Entschluss mit: «Und was du für dich an wunderbaren Eigenschaften gepachtet hattest, werde ich bei den Menschen wiederfinden. Wenn ich in manche Gesichter sehe, empfinde ich keinen Verlust mehr, und menschliche Gesichter werden deines ersetzen, weil deines unmenschlich war. Meine Augen lernen sehen, seit du mir nicht mehr den Horizont verdunkelst.» Gleiches Problem – entgegengesetzte Konsequenz. Nick Caves Abrechnungen spekulieren niemals auf eine Absetzung Gottes. Im Gegensatz zu Moser und vielleicht auch zum «Wild God» kann dessen «Idiot Prayer» als glücklich gelten.
Original mit Fussnoten und Quellenangaben:
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