Kleine Theologie des Als ob 

Sebastian Kleinschmidt (Claudius Verlag, München 2023). 

Der Philosoph Sebastian Kleinschmidt beschreibt in seinem Essay die Erfahrung eines Zwiespalts, der in der heutigen Religionslandschaft verbreiteter sein dürfte, als man denkt. Auf der einen Seite ist Kleinschmidt als Pfarrerskind mit dem kirchlichen Christentum vertraut – als Sache der Vergangenheit. Trotz aller christlichen Sozialisation ist ihm persönlicher Glaube fremd geblieben. Auf der anderen Seite kennt er Momente voller Glaubensanmutung. So etwas wie Beten lasse sich intellektuell eigentlich nicht rechtfertigen. Aber manchmal funktioniert es, tröstet und trägt.  

Es läge nahe, einen solchen Zwiespalt aufzulösen, sprich: auf Grund aller rationalen Einwände gegen die Religion positive Glaubenserfahrungen als Illusion abzutun, oder eben umgekehrt: der persönlichen Erfahrung mehr zu trauen als allen Vernunftgründen gegen den Glauben. Es macht den besonderen Reiz dieses Essays aus, dass Kleinschmidt die Auflösung dieses Zwiespaltes verweigert. Vielmehr möchte er in einer doppelten Treue verharren: gegenüber der eigenen Religionsskepsis und der eigenen Glaubenserfahrung. 

Wie soll das aussehen? Kleinschmidt nimmt uns mit auf seine Lebensreise. Seine Jugend verbrachte er als Pfarrerskind in DDR. Die religionskritischen Einreden gegen den alten Glauben wurden ihm früh und nachhaltig zu Wegbegleitern, ob durch Karl Marx, Ludwig Feuerbach oder Bertrand Russel. Was er an Skepsis gegenüber dem Religiösen lernte, wandte er jedoch auch gegen säkulare Versprechungen. „Ist es dem Kommunismus nicht so ergangen, ist er nicht wie eine löchrige Blase in sich zusammengefallen?“ (27) Wo der Kampf für das Gute sich von jeder religiösen Bindung absetzt und das Absolute in die eigenen Ideale und Utopien verlegt, ist auch er nicht selten gewalttätig geworden. Die „Absolutheitsethik humanitaristischer Diesseitsethiken“ (63) war vielfach nicht friedlicher als die Religion, nur trostloser. 

Die christliche Religion stiftet Worte und Bilder der Lebensdeutung, die auch demjenigen etwas sagen, der nicht glauben kann. Das gilt für die christliche Rede von der Sünde, die ein „Wissen und Ahnen der unauslotbar tiefen Zwiespältigkeit des Menschenwesens“ (70) ausdrücken kann. Das gilt vor allem für die Vollzüge des Glaubens, wie das Beten. 

„Auch Menschen, die nicht an Gott glauben, machen vielleicht irgendwann die Erfahrung, dass ein Mangel, eine Daseinsminderung so gross sein kann, dass nur noch das Bittgebet bleibt, und umgekehrt ein seelisches Erleben so tief geht, dass der Dank an eine höhere Macht sich ganz von allein einstellt.“

(45-46) 

Was macht man, wenn man weder von der intellektuellen Skepsis noch von der existenziellen Glaubensoffenheit lassen kann? Kleinschmidt ringt um eine angemessene Weise, gerade einen solchen Zwiespalt verstehen zu können. 

Das ist der Sinn seiner Formel einer „Theologie des Als ob“. Der Ausdruck steht in einer langen religionsphilosophischen Tradition (Friedrich Karl Forberg, Hans Vaihinger, Heinrich Scholz), die Kleinschmidt sehr gut kennt und in Ansätzen nacherzählt (101-110). Im Ansatz hat Immanuel Kant einen solchen Umgang mit dem Kirchenglauben gepflegt: Glaube ist zwar theoretisch nicht satisfaktionsfähig; aber in praktischer Wendung möglich und sinnvoll. Sein Schüler Forberg hat es auf ein “Als ob“ gebracht. Religion lebt jenseits von richtig oder falsch. Sie erschliesst sich in Bildern und Erzählungen einer letzten Ahnung von Lebenssinn. 

Kleinschmidt belässt es nicht einfach bei einer moralisch fundierten Religiosität. Es ist gerade das besondere der religiösen Metaphorik, dass sie Erfahrungsräume eröffnet, die sich absolut real anfühlen:  

„Es mag ja sein, dass Gott eine Idee des Menschen ist. aber zu dieser Idee gehört es, dass nicht Gott eine Idee des Menschen, sondern der Mensch eine Idee Gottes ist.“

(87)  

Kleinschmidt ringt um eine „Theologie in Schwebelage“ (87). Dabei hat er sich theologischer Literatur unterschiedlicher Art anregen lassen, wie die Verarbeitung von Klassikern von Luther bis Tillich, Rudolf Otto oder unter den Zeitgenossen Christian Lehnert zeigt. Offensichtlich vermag Theologie immer noch zu inspirieren, wo sie sich Lebenserfahrungen aussetzt. 

Für welche Menschen ist Kleinschmidts Essay geschrieben? Vor allem solche Zeitgenossen dürften sich angesprochen fühlen, die sich aus nachvollziehbar Gründen nicht entscheiden können, entweder ohne Religion zu leben oder sich ihren klassischen Vereinnahmungen vollständig zu unterwerfen. Auch für die Kirchen ist sein Essay lehrreich, weil hier eine verbreitete Lebenshaltung zur Sprache kommt, die in der Regel sehr viel wenig laut auftritt als die Extreme aus allen Lagern. Kirchen waren einst sozial mächtige Institutionen, deren vornehmste Sorge zu sein schien, dass die Menschen ja „alles“ glaubten, was man ihnen vorlegte. Und da diese Haltung jahrhundertelang vorherrschte, sollte sich niemand wundern über Zeitgenossen, die keine Sehnsucht entwickeln, sich von solchen Institutionen vorgeben zu lassen, wie man richtig glaubt. Wie viel heilsamer wäre ein Selbstverständnis, dass sich in den Kirchen nicht mehr die versammeln, die alles, sondern die, die etwas glauben? Offensichtlich kennen viele Menschen heute die Erfahrung: Glaube ist ein Ding der Unmöglichkeit, wo man soll. Aber er kann ein Geschenk sein, wo man darf. 

Thorsten Dietz ist promovierter evangelischer Theologe, Worthaus-Redner und arbeitet an der Stelle für Erwachsenenbildung der reformierten Kirchen in der Schweiz Fokus Theologie

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Thorsten Dietz

Prof. Dr. theol.

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