Aufgrund ihres globalen Ausmasses forderte die Coronapandemie die Menschheit heraus wie keine Krise zuvor. Das Virusvarianten waren genauso unbekannt, wie dessen Folgen und die exponentielle Geschwindigkeit und Reichweite seiner todbringenden Verbreitung. Die Welt wurde zum Labor und das globale Experiment verlief in Echtzeit. Sozialität wurde neu definiert und kalibriert, Homeoffice zum neuen Arbeitsstandard, Kommunikation ging endgültig digital, die Kirchen machten in ihrer zweitausend jährigen Geschichte erstmals dicht und neben die täglichen Börsenberichte rückten in gleicher Regelmässigkeit nationale und globale Todesstatistiken. Die Menschen verschwanden hinter Masken, Mobilität wurde prekär oder strafbar und Stubenhockerei zur neuen Tugend.
Auf die Grenzenlosigkeit des Virus reagierte die Politik mit immer weitreichenderen Begrenzungen. Auf Ohnmacht folgte Hilflosigkeit, darauf Solidarität, dann Trostlosigkeit, anschliessend Wut und schliesslich Ignoranz. Die Zustände waren auf Chaos programmiert, aber die Welt blieb auf seltsame Weise geordnet. Zwar fehlten apokalyptische Untergangsszenarien nicht, aber unter dem Strich reagierten die Gesellschaften technisch-pragmatisch und flexibel auch in ihren Erklärungen und Deutungen. Stabil blieben schliesslich die globalen Defekte. Zwar war die Menschheit mit ein und demselben Problem konfrontiert, aber die Wahrnehmung der wechselseitigen Dependenzen und Abhängigkeiten mündete nicht in eine globale Solidarität, sondern bestätigte und zementierte die vertrauten Hegemonien. Nichts zeigte sich in der Pandemie so krisenresilient wie die Ungleichheit zwischen den Menschen.
Die Staaten reagierten mit verschiedenen Massnahmen und unterschiedlicher Strenge auf das Virus. Einen im europäischen Vergleich behutsamen und liberalen Kurs verfolgte der Schweizer Bundesrat. Eine Ausnahme bildete der Umgang mit den besonders vulnerablen gesellschaftlichen Gruppen in der zweiten Pandemiephase. Nachdem er die älteren und kranken Bevölkerungskohorten als besonders schutzbedürftig deklariert hatte, ordnete er für sie rigide Freiheitsbeschränkungen an. Die normative Güterabwägung lautete: Gesundheitsschutz vor Lebensschutz vor Freiheitsschutz. Der nachgeordnete Status des Freiheitsschutzes zeigte sich darin, dass die Patientinnen bzw. Bewohnerinnen und Besucher in Spitälern, Alters-, Pflegeheimen und Langzeitinstitutionen sehr viel restriktiveren Regelungen unterworfen sind, als die übrige Bevölkerung. Zwar fokussierte der Staat in Übereinstimmung mit der Präambel der Bundesverfassung auf das «Wohl der Schwachen», aber beschränkte dieses «Wohl» auf das nackte Überleben und übersah den anderen Satzteil der Präambel, «dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht». Das Wohl der Person setzt den Gebrauch ihrer Freiheit voraus. Dafür argumentiert der Text Menschenwürde in der Krise, der heute Eulen nach Athen trägt, aber zum Zeitpunkt seiner Entstehung von Vertreter:innen von Pflegeinstitutionen scharf kritisiert worden war.
Zu den garantierten Freiheiten der liberalen Gesellschaft gehören (1.) das Recht eines jeden Menschen auf persönliche Begegnung, (2.) das Recht, integriert in der sozialen Gemeinschaft zu leben, in der ein Mensch leben will (3.) das Recht, das eigene Leben mit den Menschen zu teilen, mit denen ein Mensch sein Leben teilen will, (4.) das Recht, in existenziellen Lebenssituationen nicht isoliert und zur Einsamkeit gezwungen zu werden, (5.) das Recht, die eigenen Rechte mit Hilfe Dritter jederzeit wahrnehmen zu können, (6.) das Recht, aufgezwungenen Massnahmen widersprechen zu dürfen und das nötige Gehör zu finden und (7.) das Recht, in jeder Situation und in jedem Zustand die eigene Würde respektiert und gewahrt zu wissen. Diese Rechte gelten nicht nur für vulnerable Personen in pandemischen Krisenzeiten, sondern für jede Person in grundsätzlich jeder Lebenssituation. Ihre besondere Aufmerksamkeit erhalten sie dort, wo Menschen nicht oder nur eingeschränkt in der Lage sind, für diese Rechte selbst einzutreten.
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