Wir. Menschlichkeit zwischen Gemeinschaft und Differenz

Ingolf U. Dalferth widmet sich in We. Humanity, Community, and the Right to be Different der zentralen Frage, was es bedeutet, Mensch zu sein. In einer Welt, die von Individualisierung, Diversität und globalen Herausforderungen geprägt ist, stellt er die Verantwortung ins Zentrum – Verantwortung für unser Menschsein, für unsere Gemeinschaften und für die Zukunft. Mit der Verbindung philosophischer, theologischer und ethischer Perspektiven zeigt Dalferth, dass Menschlichkeit nicht bloß eine biologische Gegebenheit, sondern ein schöpferischer Prozess ist.

"Es wird schnell deutlich, dass Dalferths Reflexionen nicht in einem abstrakten akademischen Elfenbeinturm entstehen."

Kontext und Motivation hinter einer großen Frage

Im Vorwort skizziert Dalferth die persönlichen und gesellschaftlichen Hintergründe, die ihn zu diesem Werk inspirierten. Besonders prägend waren seine Erfahrungen in den kulturell und historisch unterschiedlichen Kontexten der USA und Südafrikas, die seine Sicht auf die Spannungen zwischen universellen menschlichen Idealen und kultureller Vielfalt schärften.

Es wird schnell deutlich, dass Dalferths Reflexionen nicht in einem abstrakten akademischen Elfenbeinturm entstehen. Stattdessen schreibt er mit einem klaren Bewusstsein für die Bedrohungen, die den Prozess der Menschwerdung und der Menschlichkeit heute gefährden. Dieser Antrieb durchzieht das Werk und zeigt sich deutlich, wenn er etwa die „bedrohlichen Seiten“ des normativen Universalismus im linken politischen Spektrum und der exkludierenden Nostalgien des rechten Flügels analysiert. Beide polemischen Ansätze – die Verengung durch moralischen Konformitätsdruck ebenso wie die Abgrenzung gegenüber Andersdenkenden – bedrohen das offene, dialogische „Wir“, das Dalferth in den Mittelpunkt stellt.

Spaltende Machtkämpfe

Ein besonders kontroverses Beispiel dieser Dynamik sieht Dalferth in den sogenannten „Language Taboos“. Diese versteht er als identitätspolitische Instrumente, die den Diskurs nicht öffnen, sondern neue Machtverhältnisse etablieren. Dabei unterscheidet er zwei Mechanismen: die positive Aneignung diskriminierender Begriffe, um Solidarität und Identität zu stärken, und die Durchsetzung von Sprachregulierungen durch Tabuisierung.

Gruppenabgrenzungen

Der erste Mechanismus, so Dalferth, verstärkt paradoxerweise Gruppenabgrenzungen, statt sie zu überwinden. Wenn etwa „Women label themselves as witches“ oder Bewegungen wie LGBTQI+ Begriffe wie „queer“ positiv umdeuten, bleibt die Identitätspolitik auf Exklusion gebaut – nur dass sich die Machtverhältnisse verschieben. Noch kritischer sieht Dalferth den zweiten Mechanismus, der sich in der Tabuisierung von Begriffen zeigt, etwa des N-Worts. Zwar anerkennt er die moralische Motivation hinter der Ächtung solcher Begriffe, doch er warnt vor einer „Tyrannei der Werte“, die den öffentlichen Diskurs ideologisch erstickt und keinen Raum für Verhandlung oder Kritik lässt. Wer gegen die Tyrannei der Werte streitet, sollte sich erinnern, dass die Väter - Carl Schmitt und Eberhard Jüngel - sich dabei nicht nur für eine wertlose Wahrheit, sondern auch für die Enthaltsamkeit von Wahrheitsansprüchen im Bezug auf Wertungen eingesetzt hatten.

"Man könnte versucht sein, sein Anliegen, seine Vorstellung von Menschlichkeit zu fördern und zu bewahren und auf ihre kulturelle Prozesshaftigkeit und Fragilität aufmerksam zu machen, als Vorwand für die Rechthaberei eines privilegierten, weissen, etwas älteren Akademikers abzutun."

Rechthaberei?

Dalferths Ton und Thema erinnern hier an seine frühere Kritik an der „Bibel in gerechter Sprache“: Auch dort erkannte er den moralischen Impuls an, fand aber, dass er sich auf Kosten von Texttreue und intellektueller Redlichkeit durchsetzte. Man könnte versucht sein, sein Anliegen, seine Vorstellung von Menschlichkeit zu fördern und zu bewahren und auf ihre kulturelle Prozesshaftigkeit und Fragilität aufmerksam zu machen, als Vorwand für die Rechthaberei eines privilegierten, weissen, etwas älteren Akademikers abzutun. Und wer das will, findet in seinen Unterkapiteln zu «Identities and Conflicts» genügend Stellen, um sich zu empören. Ob diese Wokeness-kritischen Bezüge nach dem Wahlerfolg Donald Trumps bedenkenswerter geworden sind, ob sie die Polarisierung zwischen Bildungsschichten erhellen und insofern als akademische Selbstkritik verstanden werden sollten? Vielleicht.

Was uns hilft, zu werden, wer wir sein können

Sprachtabus gehören jedenfalls nicht zum eindrucksvollsten Inventar seines Archivs an gegenwärtigen Formen und Kräften, welche die menschlichen Fähigkeiten, ein verantwortungsvolles Wir zu bilden, bedrohen und schwächen. Die technologischen Entwicklungen im Bereich des Transhumanismus, die Möglichkeiten weltumspannender Echtzeitmedien, die gruppendynamisch kommunikativ erzeugte Zurechnung individueller Personen zu Gruppen, die ihre Identität abgrenzend bestimmen, Transhumanismus, der das Verständnis von Menschsein fundamental verändern könnte, bilden eine Umgebung, innerhalb derer Menschlichkeit und Menschwerdung orientiert werden sollen. Was bietet also Dalferth gegen die zersetzenden Kräfte von Individualisierung, identitär angetriebene Gruppenbildung oder die Fragmentierung von Gemeinschaften an?

Hilfsmittel

Dalferths Antwort auf diese zersetzenden Kräfte setzt sowohl beim Individuum als auch bei der Gemeinschaft an. Er entwirft eine Ethik, die (1) Gemeinschaften fördert, die Differenz anerkennen und Andersartigkeit wertschätzen, (2) individuelle Verantwortung als Grundlage menschlicher Freiheit betont und (3) ein erweitertes „Wir“ ins Zentrum stellt, das kulturelle und soziale Grenzen überwindet.

1. Grenzen der und Offenheit von Gemeinschaften:
Dalferth sieht in Gemeinschaften nicht nur eine Notwendigkeit für moralische Orientierung und Identität, sondern auch eine potenzielle Gefährdung individueller Freiheit. Eine gerechte Gemeinschaft muss die Balance zwischen sozialer Eingebundenheit und individueller Autonomie wahren. Gemeinschaften, die Andersartigkeit nicht nur tolerieren, sondern als Bereicherung anerkennen, schaffen die Grundlage für ein gerechteres Zusammenleben.

2. Verantwortung als Fundament der Menschwerdung:
Verantwortung ist für Dalferth die Essenz des Menschseins. Freiheit findet ihren Sinn nur in der Verantwortung für andere und die Welt. Gerade in einer Zeit technologischer Entwicklungen, die das Menschsein selbst infrage stellen könnten, etwa im Transhumanismus, ruft Dalferth zu einer Ethik auf, die die Endlichkeit und Verletzlichkeit des Menschen ernst nimmt. Diese Einsicht sieht er als Grundlage für Würde und für eine authentische Menschlichkeit.

3. Das erweiterte „Wir“ als moralische Orientierung:
Dalferths Idee eines erweiterten „Wir“ umfasst alle Menschen als Teil einer universellen Menschheit. Dieses Konzept zielt darauf ab, die Grenzen zwischen Gruppen zu überwinden und Solidarität zu stärken. Insbesondere im Christentum sieht er eine ethische Ressource, die das gemeinsame Menschsein über kulturelle, soziale und religiöse Differenzen hinweg betont. Die Vorstellung, dass alle Menschen Geschöpfe Gottes und damit gleichwertig sind, bietet eine ethische Grundlage, um Solidarität und Gerechtigkeit zu stärken.

Dalferth versteht Menschsein als einen Prozess, der in der Anerkennung der eigenen Geschöpflichkeit wurzelt: Menschen sind Geschöpfe, die ihre Existenz nicht selbst geschaffen haben, sondern sie als Gabe Gottes begreifen und in Harmonie mit der Schöpfung und anderen leben sollen. Aufbauend auf Kierkegaards Philosophie beschreibt er drei Entwicklungsstufen des Menschseins: die ästhetische Stufe, in der Begierden und Wünsche dominieren; die ethische Stufe, in der Freiheit durch Verantwortung für sich und andere entsteht; und die religiöse Stufe, die wahre Freiheit in der Anerkennung der Abhängigkeit von Gott findet. Diese Abhängigkeit wird als Grundlage, nicht als Einschränkung der Freiheit verstanden.

Das Christentum ermögliche eine radikale Neuorientierung des Menschseins, indem es die Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf in den Mittelpunkt stellt und ein universelles „Wir“ fördert, das Einheit in Vielfalt sucht. Wahres Menschsein ist ein fortwährender Prozess des Werdens, der Gemeinschaft erfordert, denn nur in Beziehung zu anderen können Identität und Verantwortung wachsen. Die Liebe Gottes bildet dabei die Grundlage, um sowohl die eigene Würde als auch die der Mitmenschen zu erkennen und zu achten.

"Die Forderung nach Einheit birgt die Gefahr, dass die spezifischen Anliegen und Perspektiven marginalisierter Gruppen in einem alles umfassenden „Wir“ unsichtbar werden."

Universalismus als Machtinstrument?

Angesichts der weitverbreiteten Wahrnehmung, wonach das soziale Band mürbe, die Gräben zwischen Gruppen tiefer und die Polarisierung stärker wird, scheint die Vision eines universellen „Wir“ verlockend. Sie könnte aber auch eine bittere Medizin sein: Kann ein solcher Universalismus wirklich den Ansprüchen jener gerecht werden, die sich als marginalisiert oder unterdrückt begreifen? Die Forderung nach Einheit birgt die Gefahr, dass die spezifischen Anliegen und Perspektiven marginalisierter Gruppen in einem alles umfassenden „Wir“ unsichtbar werden. Die Feministin, der ausgebeutete Arbeiter, die rassistisch diskriminierte Aktivistin müssten sich zunächst als Menschen verstehen und ihre Marginalisierungs- und Diskriminierungserfahrungen in den Kontext einer - vielleicht dann doch sehr weissen, männlichen und abstrakten - Idee von Menschheit einfügen. Diskriminierung und Ausschluss sind dann immer noch kritisierbar. Aber nicht als spezifische entmenschlichende und abwertende Erfahrungen: Diskriminierung ist immer falsch und es spielt keine Rolle, ob sie sexistisch, rassistisch, ableistisch oder kapitalistisch motiviert ist.

Einheit stören

"Vielleicht zeigt sich dieses Gefühl gestört zu werden, in der allergischen Empfindlichkeit gegenüber jenen, die den Diskurs um Pronomen, Tabuworte oder die Macht von Sprache mitgestalten wollen."

Wenn das ein Werturteil ist, kann man zustimmen. Aber dieses Werturteil verschafft sich seine Geltung gerade nicht durch den gedanklichen Nachweis, dass Diskriminierungsformen mit der Idee von Menschlichkeit kollidieren, sondern durch das politische Eintreten für spezifische Gerechtigkeit und gegen konkretes Unrecht. Wer Gruppen-Abgrenzungen als zu überwindende Realitäten auf dem Weg zu einer universalen Menschheitsidee darstellt, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass dies selbst ein hegemonialer Akt ist, der Differenz vereinnahmt und dabei bestehende Machtverhältnisse verschleiert. Wer entscheidet, welche Differenzen integriert und welche relativiert werden? Die Betonung der Einheit - auch im schönen Gewand der Gottebenbildlichkeit und Geschöpflichkeit - könnte zur Unterdrückung jener führen, die bewusst ihre Identität und Solidarität in Abgrenzung zu dominanten Strukturen suchen. Sie stören die Einheit. Vielleicht zeigt sich dieses Gefühl gestört zu werden, in der allergischen Empfindlichkeit gegenüber jenen, die den Diskurs um Pronomen, Tabuworte oder die Macht von Sprache mitgestalten wollen.

Standpunkte, nicht Fluchtpunkte

Das Recht different zu sein und zu bleiben, darf jedenfalls nicht einer universalen Menschheitsidee geopfert werden. Das will Dalferth auch nicht: „Only communities that allow the right to be different cultivate freedom, independent judgment, responsible decision-making, and voluntary commitment – the basic virtues of a democratic society." (We, Vorwort, S. X​) Wenn aber das Ringen um ein universelles „Wir" nicht nur eine philosophische Fingerübung bleiben, sondern eine gemeinschaftstransformierende Kraft entwickeln soll, wären die religionsphilosophischen und theologischen Bezüge wissenssoziologisch und politiktheoretisch zu umrahmen. In einer pluralen Gesellschaft, die eben nicht Community im Sinne einer Gemeinschaft ist, bilden sich geltende Werte und Moralvorstellungen nicht durch die Ableitung von Begriffen, sondern durch Diskursverfahren, Meinungsbildungsprozesse innerhalb demokratischen Umgangs. Dalferth gelingt es, wichtige christliche und z.T. auch andere religiöse Grundlagen und Motive herauszuarbeiten, die in solche Diskurse eingebracht werden können. Sie sind aber - gerade wenn Menschsein als Prozess verstanden wird - keine teleologischen Fluchtpunkte gesellschaftlicher Orientierung, sondern ihrerseits bestenfalls wohlüberlegte Standpunkte und Motive, die die Perspektive einer bestimmten religiösen Selbstdeutung voraussetzen.

Christliches Werden

Das christliche Denken bietet wertvolle Motive für die Idee einer universalistischen Menschheit, indem es die menschliche Existenz als Gabe Gottes versteht und daraus Verantwortung für die Schöpfung ableitet. Es setzt die Abhängigkeit des Menschen vom Schöpfer voraus, ohne diese als Einschränkung wahrzunehmen, sondern als Grundlage wahrer Freiheit: Freiheit, die nicht in egoistischer Selbstverwirklichung endet, sondern in der verantwortungsvollen Fürsorge für andere ihren Ausdruck findet. Gemeinschaft ist nicht Zwang.

Christliches Denken bietet Orientierung für die Gestaltung des Menschseins im Sinne einer Aufgabe, das Leben als sein Leben bewusst zu gestalten. Das christliche Leben ist dabei keine Abkehr von der Welt, sondern eine Akzentuierung: Christen begreifen sich als Geschöpfe Gottes, die inmitten aller Lebensbereiche handeln, und setzen dabei einen besonderen Fokus auf die Anerkennung und Achtung des Andersseins.

Das Konzept eines universellen „Wir“, das alle Menschen in ihrer gemeinsamen Geschöpflichkeit vereint, bietet eine Grundlage für ein friedliches Miteinander, das Differenzen nicht ausblendet, sondern integriert. In diesem „Wir“ liegt die Aufgabe, sich selbst und andere zur Entfaltung der eigenen Geschöpflichkeit zu ermutigen. Die Liebe Gottes, die jeden Menschen in seiner Würde bejaht, bildet dabei die Grundlage für eine hoffnungsvolle Zukunft, in der Menschlichkeit nicht nur ein Ideal bleibt, sondern in Gemeinschaft konkret gelebt wird.

"Christliches Denken müsste von seinen Grundlagen und seiner Geschichte her nicht zwangsläufig die Geschöpflichkeit oder die Gottebenbildlichkeit zum Zentrum universalistischer Welt- und Selbstdeutungen machen."

Diese Motive sind alle hilfreich und richtig, insofern man entschieden hat, das Christentum als universalitische Kraft zu verstehen. Es gäbe durchaus Alternativen.

Christologische Störung

Christliches Denken müsste von seinen Grundlagen und seiner Geschichte her nicht zwangsläufig die Geschöpflichkeit oder die Gottebenbildlichkeit zum Zentrum universalistischer Welt- und Selbstdeutungen machen. Besonders für eine protestantische Perspektive scheint die Christologie naheliegend. Kurz skizziert ist sie eine partikularisierende Denkfigur mit universalem Wahrheitsanspruch:

Menschen streben in ihrem Denken danach, vom Einzelnen zum Allgemeinen, von der Erscheinung zum Phänomen und vom Individuellen zum Universellen vorzudringen. Diese universellen Begriffe, wie das Universum oder Gott, fassen das Ganze in umfassenden Kategorien zusammen. Das Christentum jedoch verankert diese Universalität in einer konkreten Person – in einem Menschen mit einer Geschichte und einer Botschaft. Es verdichtet das Universelle auf das Partikulare, indem es behauptet, dass in diesem einen alles enthalten ist. Darum gibt es diese Person nicht als Wir, sondern als Du. Hoffnung, Gerechtigkeit und Fürsorge finden hier nicht in abstrakten Prinzipien oder kosmischen Plänen ihren Ausdruck, sondern in der konkreten Beziehung: dem Besuch bei Gefangenen, dem Brot für die Hungrigen, dem Wasser für die Durstigen. Die christliche Theologie bietet kein Wissen um eine universelle Ordnung an, sondern eine Orientierung, die sich in der Begegnung mit dem Einzelnen ereignet. Ihre Leistung liegt nicht in der Universalisierung des Partikularen, sondern in der Konzentration des Universalen auf die Partikularität – und darin, diese als Begegnungsraum für das Göttliche zu deuten. Die christliche Zumutung „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ (Joh 14,6) bindet die universale Wahrheit an einen konkreten Menschen, dessen Person die Grundlage für den Zugang zu Gott bildet.

Christus reduziert

Dalferth reduziert die Rolle der Christusfigur auf die eines Lehrers, der lediglich wiederholt, was für Gott schon immer wahr ist: „The orientation towards the universality and unlimitedness of God’s creative love is the core of Christian universalism. All group-related demarcations are alien to this love. It does not apply to certain groups in contrast to other groups with their respective difference-based identities, but to all people, to whatever groups they belong. (...) Christians base their conviction on what they have learned from and through Jesus Christ about God’s unlimited creative power, his merciful and compassionate heart for his creatures, and his unconditional fatherly love for all people. That is why they call Jesus the Christ and themselves Christians. As Christians, they do not advocate what is only true for them, but what, according to Christ, is true of God and therefore of all people: that God is their Creator and that they owe everything good that they are and can be to his boundless fatherly love. (We, 286.)

Mehr als eine Botschaft

"Die arme Witwe ist ein Mensch. Aber darauf wird sie gerade nicht reduziert, sondern in ihrer Besonderheit zum Ausdruck des Ganzen."

Selbst wenn die Botschaft, dass Gott eine unbegrenzte schöpferische Macht ist, sein barmherziges und mitfühlendes Herz für seine Geschöpfe schlägt und seine bedingungslose väterliche Liebe allen Menschen gilt, richtig ist, bleibt sie eine Botschaft. Diese Botschaft ist in der Darstellung des Neuen Testaments aber nicht eine abstrakte Mitteilung an alle Welt. Die Botschaft ist die sekundäre Verdichtung dessen, was in den Beziehungen und den kontextsensiblen Begegnungen Jesu durch die Kraft der Auferweckung als gültig anerkannt worden ist. Vor der Botschaft steht das Sein Jesu, der in seinem Leben als Sohn Gottes erkannt wird. Er handelt nicht nach einer Lehre (Mt 12,1ff), er ist kein besonders gutes Vorbild (Lk 7,34), neigt - so wird erzählt - manchmal auch zum Chauvinismus (Mt 15, 21ff). Er verkündigt nicht die Idee der Freiheit, er befreit. Befreiung, Liebe und Hoffnung ereignen sich in Beziehungen und folgen deren Logiken. In bestimmten Kontexten und zwar so, dass die arme Witwe als arme Witwe, der Blinde als Blinde anerkannt wird, an denen das Reich Gottes sich denen zeigt, die hinschauen, deren Heil aber gerade nicht darin liegt, ihre konkrete Identität in einem universalen Menschheitsgedanken aufzulösen. Die arme Witwe ist ein Mensch. Aber darauf wird sie gerade nicht reduziert, sondern in ihrer Besonderheit zum Ausdruck des Ganzen. Individualität und Gruppenzugehörigkeit sind aus einer so verstandenen christologischen Perspektive nicht Hindernisse für die Gemeinschaft, sondern Vorläufer der himmlischen Polis. Es ist diese Verankerung, die die universalen Ansprüche des Glaubens nicht abstrakt oder hegemonial erscheinen lässt, sondern sie in die partikularen Lebensrealitäten einbettet.

Fazit

Christlichen Denkens gelingt, wenn es die Spannung zwischen Universalität und Partikularität aushält, von der christlicher Glaube angetrieben wird. In einer fragmentierten Welt mag dies herausfordernd sein und es ist gut, dass sich Dalferth dieser Herausforderung nicht nur als wissenschaftlicher Beobachter sondern auch als engagierter Mitmensch stellt. Wer nach Möglichkeiten sucht, wie das Christentum aus eigenen Gründen den Universalismus bejahen und stärken kann, wird das Buch geniessen. Wer den Universalismus weniger als Chance und eher als Problem der Christentumsgeschichte sieht, lernt hier einen besonders eloquenten und gelehrten Gegner kennen. Lesen sollten es beide.

We. Humanity, Community, and the Right to be Different, Aus der Reihe Religion in Philosophy and Theology, 2024.

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Stephan Jütte

Dr. theol.

Leiter Theologie und Ethik
Mitglied der Geschäftsleitung

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