Dieser Beitrag wurde erstmals für Fokus Theologie am 10 October 2024 veröffentlicht.
Was steckt dahinter? Evelyne Baumberger hat auf RefLab eine schöne Zusammenfassung prozesstheologischer Anliegen vorgelegt, die im Offenen Theismus so ähnlich verfolgt werden.
Gott soll weniger statisch gedacht werden, sondern dynamisch, in Bewegung, eben prozessorientiert, freiheitsfreundlich und kooperativ. Es geht um eine Theologie nicht nur für die Ewigkeit, sondern für die Welt: Theologie von einem Gott in Verbundenheit mit der ganzen belebten Schöpfung. Für viele ist das sehr anregend. Auch für uns. Vergleichbare Ansätze gibt es im Offenen Theismus, über den Manuel Schmid viel veröffentlicht hat. In unserem Podcastgespräch haben wir uns über diesen Ansatz angeregt ausgetauscht.
Doch nicht ohne Spannungen… Das passt natürlich zum Offenen Theismus, der seit seiner Entstehung in den USA vor allem in der evangelikalen Bewegung eine Reihe von Auseinandersetzungen ausgelöst hat.
Worum drehen sich diese Auseinandersetzungen? An dieser Stelle wird es interessant, denn es kommt sehr darauf an, aus welcher Perspektive man die Konflikte schildert.
Die eine Seite würde es so darstellen: Der Offene Theismus (und die Prozesstheologie sowieso) bricht mit zentralen Überzeugungen der reformatorischen Gottesrede, egal, ob man sich an Zwingli, Luther oder Calvin orientiert.
In der Reformation ging es um die Entdeckung der bedingungslosen Gnade Gottes. Gott liebt die Menschen nicht erst dann, wenn sie sich durch ihre Werke und ihr Leben als würdig erweisen. Gottes Liebe gilt nicht, weil die Menschen gut (genug) sind, Gottes Liebe bewirkt, dass die Menschen gut werden.
Bei allen Reformatoren ist die Botschaft von der Liebe Gottes verbunden mit der Überzeugung: Gottes Liebe ist kein Angebot. Sie ist kein Vorschlag, und alles hängt daran, ob der Mensch sich gnädigerweise darauf einlässt; oder auch nicht. Die Liebe Gottes ist schöpferisch. Sie verwandelt, gewinnt, erneuert.
Gottes Liebe ist keine mögliche Wahl des Menschen; sie ist Gottes Erwählung des Menschen. Der Mensch ist ihr gegenüber nicht frei. Glaube ist keine Entscheidung, sondern ein Geschenk. Menschliche Freiheit geht dem Glauben nicht voraus, sondern ist eine Folge des Glaubens.
In den letzten Jahrzehnten gab es im US-Evangelikalismus eine interessante Entwicklung. Auf breiter Front kam es zu einer Erneuerung reformatorischer, vor allem calvinistischer Theologie. Für viele Evangelikale war die Entdeckung der radikalen Gnade Gottes – und der Unfreiheit des Menschen – befreiende Erfahrung. Gerade in einem Frömmigkeitsumfeld, wo sehr viel Wert gelegt wurde auf die menschliche Entscheidung für Gott, war diese Theologie eine grosse Entlastung. Es liegt nicht daran, dass ICH mich für Jesus entscheide, dass ich MEIN Leben ihm übergebe. Gott hat sich für mich entschieden. Und dass ich darauf vertraue, ist schon die Wirkung dieser Gnade.
Auch in Deutschland gab und gibt es immer wieder den Effekt, dass vor allem Evangelikale diese reformatorische Botschaft auch heute noch als Befreiung erfahren. Inmitten einer entscheidungsfixierten Bekehrungsfrömmigkeit ist es eine grosse Erleichterung zu hören: Nicht deine Entscheidung für Gott, sondern Gottes Entscheidung für dich ist wesentlich. Zuletzt hat Siegfried Zimmer mit vielen Worthaus-Vorträgen eine solche reformatorische Theologie verkündet. In einem Vortrag zu diesem Thema betont Zimmer: «Das Thema «Der freie Wille des Menschen» gehört zu den wichtigsten und grundlegenden Themen. Je nachdem, wie wir uns bei dieser Frage positionieren, wird das enorme Auswirkungen haben auf das Verständnis des Menschen auf das Verständnis des Glaubens und auch auf das Verständnis Gottes und seines Wirkens. Man kann sagen, diese Frage berührt das tiefste Geheimnis unseres Lebens.» (0:0.17ff) Entscheidend ist die Einsicht:
«Der Glaube kommt nicht aus dir, er kommt zu dir .» (Siegfried Zimmer, 0:58.58f)
Diese Einsicht macht gelassen und frei. Sie erlöst aus allen Selbstbespiegelungen. «All die Christen, die ich kenne, die aus dem Ich-habe-mich ausgestiegen sind und jetzt sagen: «Gott hat mich gewonnen», bereuen das nicht. Niemand von denen will wieder zurück in die alte Enge und in die strukturelle Arroganz.» (1:29.30)
Muss man daher sagen: Finger weg vom Offenen Theismus und der Prozesstheologie? Wird dort nicht alles verspielt, was in der Reformation errungen wurde? Wo es am Ende doch wieder an uns hängt, ob Gott mit uns zum Ziel kommt, ist nicht mal mehr gewiss, ob es überhaupt mit dieser Welt ein gutes Ende nimmt.
So oder so ähnlich würde die eine Seite den Konflikt beschreiben. Für Vertreter:innen des Offenen Theismus und der Prozesstheologie stellt sich die Frage in einem ganz anderen Licht dar, vor allem im Kontext der US-Evangelikalen Umgebung.
Für sie ist das Bild des zugleich absolut mächtigen und liebenden Gottes nicht glaubwürdig. Sie fragen sich, wie wir uns Gott vorstellen, wenn wir von einem allmächtigen Gott reden? Müssen wir Gott als absolute Autorität denken, die alles kann, was sie will, und die auch nur so in der Lage ist, uns bzw. die Welt zu erlösen? Für den Neocalvinismus (und auch für seine reformatorischen Vorgänger) ist das ganz entscheidend.
Eine solche Theologie mag für Menschen mit der Angst vor dem Gericht Gottes eine Befreiung sein. Aber um welchen Preis? Wenn man die Allmacht Gottes so radikal denkt, dann sind auch das Böse, die Sünde, menschliches Leid, Verlorenheit in Zeit und Ewigkeit Dinge, die Gott mindestens zulässt, wenn nicht bewirkt. Und was wäre der Unterschied zwischen Zulassen und Bewirken? Wer Gottes Macht so radikal denkt um der Gnade willen, löst am Ende das Gnädige an der Gnade auf.
Und schlimmer: Eine solche Theologie ist anscheinend insgesamt mit einem autoritären Komplex verbunden. Es ist kein Zufall, dass in den USA die Vertreter des Neocalvinismus heute in grosser Mehrheit grundsätzlich Anhänger von autoritären Ordnungen sind.
Wer Gott als absoluten Diktator denkt, gegenüber dem es nichts anderes geben kann als Unterwerfung, setzt damit insgesamt eine solche autoritäre Logik ins Recht.
So wie Gottes Autorität absolut ist, so gilt das dann auch für die Bibel. Die absolute Autorität der Bibel anzuerkennen, heisst logisch: An ihrer Irrtumslosigkeit in allen Fragen festzuhalten – und alles, was als Kritik der Bibel auch nur gedeutet werden könnte, entschieden abzuwehren. Und diese Logik setzt sich fort: In vielen Gemeinden einer solchen Prägung ist die Leitung durch Pastor und Leitung autoritativ. Kritik ist grundsätzlich problematisch. Kritische Aufarbeitung der eigenen Geschichte gilt als Nestbeschmutzung.
Da ist man in der Erziehung von Kindern besessen von der Idee, dass Liebe unbedingt Grenzen setzen muss. Da kann man das Verhältnis von Mann und Frau nicht als gleichberechtigt denken.
Da muss man vor allem warnen, was Hierarchien in Frage stellt. Darum ist man so feindselig gegen alles, was mit Feminismus, Gender oder Critical-Race-Theory zu tun hat.
Denn all das ist zutiefst gefährlich: Weil es traditionelle Autoritäten hinterfragt. Darum gibt es auch keinen Dialog mit anderen Religionen. Da ist jede Säkularisierung bedrohlich, da eine Gesellschaft ohne christliches Fundament nur als chaotisch vorgestellt werden kann.
Und da gibt es eben auch selten oder nie die Möglichkeit, unterschiedliche Positionen als möglich anzuerkennen, was gerade die Vertreter:innen des Offenen Theismus drastisch erlebt haben. Obwohl sie die Bibel nicht nur lieben, sondern von ihrer Irrtumslosigkeit überzeugt sind, auf Jesus allein vertrauen – wurden sie aus evangelikalen Zusammenhängen ausgeschlossen wo immer das möglich war. Im Bann des Autoritarismus gibt es keine Vielfalt in theologischen Wahrheiten.
Und dieser autoritäre Komplex zeigt sich zuerst in einer Gotteslehre, die Gott als absolute Macht denkt, gegenüber der es keine Freiheit, keine Kooperation und keinen Dialog gibt.
Offene Theist:innen und Prozesstheolog:innen hingegen sind davon überzeugt, dass diese Machtfixierung den Gedanken der Liebe Gottes unmöglich macht.
Wo Gott ein Diktator ist, wird es nie eine freiheitsfreundliche Kultur geben.
Wo wir an Gott als Befreier*in glauben, muss die Freiheitsliebe in Gott beginnen. Gott handelt daher stets kooperativ, nie diktatorisch, immer mit und nie ohne seine Geschöpfe. Ist es nicht angemessener, an einen Gott zu glauben, »der die Menschen ernst genug nimmt, um sich von ihrem Handeln beeinflussen und mancherorts sogar zur Reue bewegen zu lassen?», wie Manuel Schmid in einem Beitrag auf Reflab formulierte. Denn Gottes Macht kann nie etwas anderes sein als die Macht der Liebe.
Darum betonen sie die Offenheit Gottes so sehr: Ein Diktator liebt nicht. Wer aber liebt, kann und will nicht allein durchregieren.
Wenn Gott Liebe ist, dann gibt es kein göttliches Wirken, das nicht kooperativ ist, kreative Anregung, phantasievolle Verlockung für das Gute. Dann gibt es keine Pläne – die gnadenlos durchgesetzt werden.
Dann ist Gott immer schon mittendrin, leise und weise. Dann machen Gottes Erwählungen unsere Entscheidungen nicht überflüssig, sondern wirksam. Und ja, dann ist Gott eben nicht mehr so allwissend, dass er einen vollendeten Plan für diese Welt hat, für ihre Geschichte insgesamt wie auch für unsere einzelnen Biographien. Dann kann Gott eben auch nicht alles, wie Jason Liesendahl in seiner höchst lesenswerten Einführung in die Prozesstheologie schon im Titel formuliert. Und wenn die Welt dadurch zu einem offenen Abenteuer wird, ist das allemal besser als ein Determinismus als Bedingung jedes möglichen Happy Ends.
Den allmächtigen Gott von Luther, Calvin und Zwingli – dessen Liebe absolut vertrauenswürdig ist als Erbarmen des absolut Mächtigen? Oder einen offenen Gott, der bzw. die lockt und nicht zwingt, Gott im Modus der Kooperation und nicht fixiert auf Konflikt, um Menschen zu gewinnen und nicht zu unterwerfen?
Ist das heute eine der entscheidenden Weggabelungen des Gottesglaubens, Offener Theismus oder Reformation? Na klar, wer so zuspitzt, hat meistens im Sinn, dass eine so einfache Alternative nicht das letzte Wort sein kann… Aber lassen wir die Frage mal so offen stehen – vielleicht hat ja auch sonst noch jemand schon darüber nachgedacht.
Seid ihr dieser Debatte schon einmal begegnet?
Welche Gottesvorstellung ist spontan anziehender – oder abstossender?
Welche Passagen in der Bibel sprechen für welche Gotteskonzeption?
Mit welchem Gottesbild hat man eher das Gefühl, dass sie das Leben sinnvoll und nachvollziehbar deutet?
Mit welchem Gottesbild kommt man besser durchs Leben, generell bzw. in menschlichen Erfahrungen von Schicksal und Leiden?
Liesendahl, Jason (2024): Gott kann auch nicht alles. Einführung in die Prozesstheologie. Ruach jetzt.
Schmid, Manuel (2021): Kämpfen um den Gott der Bibel: Die bewegte Geschichte des Offenen Theismus. Brunnen Verlag.
Schmid, Manuel (2022). Gott hat kein Plan für dein Leben: aber 1000 Möglichkeiten, mit dir ans Ziel zu kommen. Brunnen Verlag.
Piper, John (2017): Überwältigt von Gnade. Aurelius Augustin, Martin Luther, Johannes Calvin. CLV.
Zimmer, Siegfried (Worthaus): Der Glaube und der freie Wille des Menschen.
https://youtu.be/QVYUvBk68m0?si=AEDuFTubx7DWHh8K
Jason Liesendahl (Schöner glauben): Thorsten Dietz – Kann Gott wirklich alles?
https://open.spotify.com/episode/2CNMcZTztW0k7VsYBbUws2?si=9gw7hRjXTtqhfs_xc4Vphg
Bild: https://pixabay.com/de/photos/himmel-wolken-strahlen-1107952
Thorsten Dietz ist promovierter evangelischer Theologe, Worthaus-Redner und arbeitet an der Stelle für Erwachsenenbildung der reformierten Kirchen in der Schweiz Fokus Theologie.
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