Vor kurzem besuchte ich in Zollikon, ganz in der Nähe von Zürich, ein winziges Museum, das Ortsmuseum, und sah mir dort eine faszinierende Ausstellung mit dem Titel "A mile in my shoes" (Eine Meile in meinen Schuhen) an. Der Titel stammt von einem Lied, das Elvis Presley gesungen hat: "Walk a mile in my shoes". Das Lied wird am Eingang des Museums zitiert, als Vorspiel zu der Erfahrung, die mich erwartet.
If I could be you, if you could be me ; For just one hour, if we could find a way to get inside each other’s mind ; Walk a mile in my shoes
Elvis Presley
In dieser Ausstellung geht es um das Experimentieren. Die Ausstellung ist eine Einladung, sich in die Lage des anderen zu versetzen, zu fühlen, was er oder sie fühlt, seine oder ihre Perspektive einzunehmen, "eine Meile in seinen oder ihren Schuhen zu gehen".
Und um das zu erreichen, bietet die Ausstellung die Möglichkeit, buchstäblich in die Schuhe eines anderen zu schlüpfen. Auf Regalen, wie in einem Geschäft, stehen vor mir eine ganze Reihe von Schuhkartons. Auf jedem Karton steht eine Schuhgröße und ein Vorname. Ich wähle einen Karton aus, öffne ihn und entdecke ein Paar Schuhe und einen Kopfhörer. Wenn ich möchte, kann ich mir die Schuhe an die Füße schnallen und bei einem Spaziergang dem Leben desjenigen lauschen, dem die Schuhe gehören.
In bequemen, schicken Campern hörte ich Sylvie erzählen, wie sie, seit sie sehbehindert ist, anders sieht. Ändus Turnschuhe erzählten mir von seinem erfolgreichen Kampf gegen den Alkohol. Und dann sind da noch Simones Birkenstocks, die mich in die Windungen ihrer Seele führen, und Beckys Tennisschuhe, die mir ihre Sorgen als Mutter eines nicht sprechenden Kindes anvertrauen.
Die Geschichten werden auf Französisch, Deutsch, Schweizerdeutsch und Englisch erzählt. Dank einem Paar Schuhe und einer Stimme, die erzählt, trete ich für einige Minuten in das Leben eines anderen ein.
Die Erfahrung ist verwirrend. Manchmal passen die Schuhe; sie passen zu mir und ich fühle mich wohl darin. Manchmal stören sie mich, tun weh und ich möchte sie am liebsten ausziehen. Manchmal kann ich sie einfach nicht anziehen.
Aber auf jeden Fall lassen mich diese Schuhe nicht gleichgültig, denn indem ich die Schuhe des anderen sehe, sie berühre und trage, werde ich mir der Realität einer Existenz bewusst, die von einer anderen Person als mir gelebt wird. Der andere ist nicht mehr anonym, sondern durch seine Schuhe steht er/sie hier vor mir.
Und genau das ist der Sinn dieser Ausstellung, die Teil eines größeren Projekts des Empathy Museum in London ist. Das Projekt wurde von der Künstlerin Clare Patey ins Leben gerufen, die seit 2015 erforscht, wie unsere persönlichen Beziehungen durch Empathie gestärkt werden können, wie Empathie ein harmonischeres Zusammenleben in der Gesellschaft fördern kann. So finden verschiedene "A mile in my shoes"-Ausstellungen auf der ganzen Welt statt, wobei jedes Mal auch Aussagen von Menschen aus der Region zu hören sind. So zeigt die Ausstellung in Zollikon auch Lebensgeschichten von Männern und Frauen aus der Deutschschweiz und der Romandie.
Durch die Geschichten und die Schuhe nähert sich die Ausstellung dem Begriff der Empathie somit nicht auf theoretische Weise, sondern durch Erfahrung. Es geht darum, Empathie zu erleben: Wenn wir einem anderen zuhören und in seine Schuhe schlüpfen, werden unsere Vorurteile in Frage gestellt, unsere Barrieren fallen; wir sind eher in der Lage, den anderen zu verstehen; wir können uns besser in seine Lage versetzen; wir können seine Perspektive übernehmen. Die Annahme ist, dass diese Erfahrung uns zu mehr Wohlwollen, Offenheit und Toleranz führt und so unsere Fähigkeit zur Empathie erhöht.
Gleichzeitig wirft die Erfahrung aber auch Fragen auf: Inwieweit kann ich mich wirklich in die Lage des anderen versetzen? Ist es unbedingt wünschenswert, "in den Schuhen des anderen zu laufen"? Muss man Distanz wahren, um den anderen nicht nur zu verstehen, sondern ihn/sie auch unterstützen zu können?
Die Ausstellung bietet die Möglichkeit, eine originelle Erfahrung zu machen, die Fragen aufwirft, ohne Antworten zu geben.
Die Ausstellung "A mile in my shoes" ist bis zum 11. Februar im Ortsmuseum Zollikon zu sehen.
Sarah Nicolet ist Doktorin der Politikwissenschaften und Pfarrerin in der reformierten Kirchgemeinde von Delémont.
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