Die Metapher des "protestantischen Korridors" in der ethischen Urteilsfindung der protestantischen Kirchen
Die protestantische Rhetorik legt häufig grossen Nachdruck auf die Bedeutung des Streits und die Produktivität von Konfliktstellungen. Sie muss folglich die Räume denken und erklären, in denen legitime Konflikte stattfinden.
Die jüngsten Texte der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) schlagen vor, den Konflikt, der durch sie hindurchgeht, in Form eines ”Korridors” zu beschreiben.
In diesem Artikel untersuche ich zunächst, wie die ethischen Orientierungshilfen des Rates der GEKE von der Metapher des "Korridors" Gebrauch gemacht haben, und schlage anschliessend einige Wege zur Erweiterung der Vorstellungswelt des Konflikts vor. Dieser Text ist Teil einer Überlegung zum positiven Status von Streitigkeiten und Konflikten in der Kirchengemeinschaft.
In der GEKE wird der Begriff "protestantischer Korridor" zum ersten Mal in einer Handreichung zu den ethischen Herausforderungen der Reproduktionsmedizin verwendet: "Bevor ich Dich im Mutterleib geformt habe...". Eine Orientierungshilfe zu ethischen Fragen der Reproduktionsmedizin des Rates der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (2017). Diese Studie gehört zu einer Reihe von Texten, die vom Rat der GEKE veröffentlicht wurden – der erste befasste sich mit der Ethik am Lebensende ("Leben hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit", 2011). Diese Texte werden nicht der Generalversammlung vorgelegt. Es handelt sich um Vorschläge des Rates an die Mitgliedskirchen, nicht um gemeinsame Texte.
Ich zitiere die Passage, in der der Begriff "protestantischer Korridor" zum ersten Mal erwähnt wird, in voller Länge.
Die Orientierungshilfe setzt nicht voraus, dass zwischen den evangelischen Kirchen ein Konsens zu all den hier behandelten Fragen herrscht. Zu manchen Problemstellungen werden konkrete Lösungen vorgeschlagen, doch im Allgemeinen ist das Ziel, einen „Korridor“ authentischer evangelischer Positionen zu entwerfen, innerhalb von dessen Grenzen Diskussion, Auseinandersetzung und moralische Beurteilung stattfinden kann. Der Korridor mag an manchen Stellen schmaler sein als an anderen, und bei manchen Kernfragen kann er sich zu einem einzelnen Standpunkt verengen, auf den Protestanten aufgrund ihrer theologischen und moralischen Kernüberzeugungen festgelegt sind. Doch an anderen Stellen kann er breiter sein und ein Spektrum Meinungen umfassen, die deutlich im Widerspruch zueinander stehen mögen, die sich jedoch alle aus authentischem evangelischem Denken ergeben. Die Grenzen des „Korridors“ zu definieren und die Bedingungen zu klären, unter denen evangelische Meinungsverschiedenheiten in diesen Fragen ausgetragen werden sollten, kann zu einer Lösung dieser Differenzen helfen.
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Die Ausgangslage ist ein Streit innerhalb der Kirchengemeinschaft – im Rahmen dieser Orientierungshilfe geht es um Themen wie In-vitro-Fertilisation, Eizellspende, Leihmutterschaft, Klonen etc. Die Studie erkennt an, dass es im Rahmen der Kirchengemeinschaft de facto eine konfliktträchtige Pluralität möglicher Positionen zu diesen Themen gibt: Was die In-vitro-Fertilisation betrifft, stellt die Studie beispielsweise eine Position (a) vor, die In-vitro-Fertilisation bestenfalls als letzten Ausweg ansieht, und eine andere Position (b), die sie als Segen für kinderlose Paare betrachtet (Mutterleib, 84-86).
Die Frage für die Kirchengemeinschaft lautet: Können die konflikthaften Positionen (a) und (b) nebeneinander existieren? Gibt es einen Punkt, an dem die Präsenz beider Positionen in der Kirchengemeinschaft nicht mehr möglich ist? In Bezug auf die Debatte um den Status des Embryos formuliert der Text die Frage folgendermassen um: Was sind "die zulässigen Grenzen kommunikativer Freiheit aus evangelischer Perspektive" (Mutterleib, S. 60)? Wo liegen die Grenzen dessen, was man in Bezug auf diese Thematik sagen und denken darf?
Erstens geht der Text davon aus, dass zu bestimmten Themen eine Vielzahl von Positionen legitim ist und zu anderen nicht - wobei nicht ganz klar ist, ob es sich hierbei um eine Grundsatzaussage oder um eine Tatsachenfeststellung handelt. Zweitens: Wenn es eine Vielzahl von möglichen Positionen gibt, organisiert der Text diese in Form eines Spektrums von Positionen und nicht in Form einer Polarität. Drittens wird das Verhältnis zwischen den Positionen in einem Deliberationsverfahren innerhalb jeder Mitgliedskirche der Gemeinschaft ausgehandelt - nicht auf der Ebene der Kirchengemeinschaft selbst (z.B. über ihre Generalversammlung). Viertens soll die vom Rat der GEKE vorgeschlagene Studie das legitime Spiel klären - nicht die ethischen Positionen als solche festlegen. Die Metapher des "Korridors" soll einen Diskurs und eine Vorstellungswelt zu dieser Situation erzeugen.
In diesem Leitfaden wird die Metapher im Wesentlichen auf einer einzigen Dimension dekliniert: seiner Breite. Die Breite des Korridors ermöglicht es, sich das denkbare Spiel, um ein bestimmtes Thema und die Variationen des Spiels entsprechend den Themen vorzustellen. Der Korridor wird von seinen Wänden und dem Abstand zwischen den Wänden ausgedacht. Je grösser der Abstand, desto mehr Positionen können eingenommen werden. Stellenweise verschwindet der Korridor und wird auf einen Punkt reduziert: "bei manchen Kernfragen kann er sich zu einem einzelnen Standpunkt verengen, auf den Protestanten aufgrund ihrer theologischen und moralischen Kernüberzeugungen festgelegt sind " (22)
Eine metaphorische Verwendung des Raums hat nie eine rein illustrative Funktion: Allein durch die Tatsache, dass man die Konfliktpositionen im Raum eines Korridors denkt, beginnt man, diesen Raum zu gestalten, seine Realität zu konstituieren und die Entwicklung der Beziehungen zu bestimmen, die derselbe Raum ausdrückt. Das liegt daran, dass der Raum ein konstitutives Medium für die Konstitution von Sinn ist und dass seine Genese untrennbar mit dem Prozess der Konstitution von Sinn selbst verbunden ist (Wüthrich 2015, 460-482 mit Bezug auf Cassirer 1995). So trägt die Verwendung einer räumlichen Metapher zur Veranschaulichung des Konflikts dazu bei, die Konflikthaftigkeit zu gestalten. Die Wahl der Metaphern kommt also mit bestimmten Konsequenzen, die es kritisch zu reflektieren gilt.
Die Verwendung der Metapher wird in einer späteren Studie präzisiert: „There is no longer male, and female...". A guide to gender and sexuality from the Council of the Communion of Protestant Churches in Europe). Dieser Text muss noch in seiner endgültigen Fassung veröffentlicht werden. Er wurde im Rahmen eines Konsultationsprozesses innerhalb der GEKE zugänglich gemacht.
Die Abschnitte, in denen der "Korridor" erwähnt wird, sind länger und erläutern die Verwendung dieser Metapher ausführlicher.
The metaphor of “corridor” is meant to suggest a couple of important points. First, that even though several responses might be warranted as compatible with basic Protestant convictions, it is not just a matter of “anything goes.” The corridor’s outer boundaries are defined by key Protestant commitments and principles, and responses conflicting with those basic convictions fall outside of it. Second, a corridor fulfils its function by its directionality, by leading from one part of a building to another, and holding people to that direction. This should emphatically not be understood as though all churches are expected to move towards the same standpoints, only some at a more rapid pace than others. The direction indicated by a “Protestant corridor” is, through continuous and mutual exploration and explication of basic Protestant commitments, moving towards deeper and renewed understanding of these commitments and their implications in concrete and actual situations.
(« There is no longer male, and female… », 17)
Im Vergleich zur Verwendung der "Korridor"-Metapher in der vorherigen Studie wurden drei Elemente hinzugefügt. Erstens soll die Metapher es ermöglichen, Ausschlüsse zu denken - die Betonung liegt auf äusseren Grenzen, die der "Grundüberzeugungen". Sie soll es ermöglichen, zu erkennen, welche Positionen von der Deliberation, die der Kirchengemeinschaft eigen ist, ausgeschlossen sind. Dies unterstreicht die politische Dimension des "Korridors". Zweitens präzisiert der Text die durch den Korridor vorgegebenen Richtung: Die Metapher konzentriert sich auf das gemeinsame Engagement der Mitgliedskirchen der Kirchengemeinschaft und nicht auf die Position, die zu einem bestimmten Thema eingenommen werden soll. Drittens erläutert der Text, was er für die Grenzen der Metapher hält.
Admittedly, the metaphor also has its weaknesses, and should not be taken too far. Boundaries do not always take the form of clear-cut and sharp walls between inside or outside. And whereas the metaphor might indicate that outside or inside is more important than closeness or distance to a centre of a pathway, that should not be implied by the notion of “Protestant corridor”.
(« There is no longer male, and female… », 17)
Diese Klarstellung unterstreicht, dass die Frage des Ausschlusses der Frage des gemeinsamen Weges untergeordnet ist. Die Studie ist in der Tat sparsam, was Ausschlüsse zum Thema "Geschlecht und Sexualität" betrifft. Zwei Ausschlüsse werden explizit im Zusammenhang mit der Idee des "protestantischen Korridors" ausgesprochen: "It is outside the corridor to state that from a Christian perspective, a gender transition is in principle ruled out as a possibility." (74); ebenso würde das Argumentieren für die Exklusivität heterosexueller Beziehungen auf der Grundlage der Geschlechter Binärität ausserhalb des Korridors fallen (109).
Der Raum der Konflikthaftigkeit, der sich hier abzeichnet, ist also ein poröser Raum, der einer bestimmten Richtung folgt: der Richtung der Gemeinsamkeit. Gleichzeitig bleibt dieser Raum von seinen äusseren Grenzen hergedacht. Diese lassen sich etwas genauer betrachten.
Die Grenzen werden anhand der "Grundüberzeugungen" der Kirchengemeinschaft definiert. Die Handreichung "There is no longer male, and female..." identifiziert sie an folgenden Stellen: in der Anthropologie, im gemeinsamen Bezug auf die Heilige Schrift und im Verständnis der Rechtfertigungslehre.
Die gemeinsame Orientierung in der Anthropologie wird wie folgt ausgedrückt: "human being is relationally determined, qualified through its relations of belief or unbelief, rather than through a self-contained inner essence." (34) Diese Aussage wird aus dem Handeln Gottes am Menschen abgeleitet, wie es in der Leuenberger Konkordie und dem Augsburger Bekenntnis dargestellt wird. Ein Essentialismus oder ein Denken des Menschen, das von seiner Beziehung zu Gott abstrahiert, würde sich ausserhalb des Korridorraums befinden.
Es ist die Orientierung durch die Auseinandersetzung mit der Heiligen Schrift und ihrer ständig erneuerten Auslegung, die dazu führt, dass man sich im Korridor befindet oder ihn verlässt. Eine Position, die die Orientierung an der Schrift ablehnt, ebenso wie eine Position, die die Arbeit mit der Schriftauslegung ablehnt, verlässt den Korridor. Der Leitfaden kann sich dabei auf die Lehrgespräch Schrift - Bekenntnis - Kirche (2012) stützen.
Eine Position, die nicht mit der Rechtfertigungslehre, wie sie in der Konkordie (§§ 8-12) dargelegt wird, übereinstimmt, wird für ausserhalb des Korridors erklärt. Das Verständnis dieser Vereinbarung und ihres Wesens wird im Text Die Kirche Jesu Christi (III.1) entwickelt. Es handelt sich um eine Übereinkunft, die sich in einem doppelten Konsens konkretisiert: (i) einem Konsens über die Formulierung des "rechten Verständnisses des Evangeliums" (ii) einem Konsens in der "gemeinsamen Überzeugung, dass die »Rechtfertigungsbotschaft als die Botschaft von der freien Gnade Gottes Massstab aller Verkündigung der Kirche ist« (LK 12)." (Die Kirche Jesu Christi, 70). Der Konsens hat selbst den Status einer Bestätigung der Einheit, die von Gott selbst gegeben wurde. Er kann nur die Frucht und der Ausdruck von Gottes Handeln sein (69) - der Konsens erzeugt nicht die Einheit, sondern bezeugt eine gegebene Einheit.
In der Tradition der "versöhnten Verschiedenheit" (Lutherischer Weltbund) bedeutet Konsens keine Nivellierung. Es ist ein Konsens, der Unterschiede bewahrt - insbesondere Unterschiede in der Art und Weise, wie das Evangelium im Leben der Kirchen zum Ausdruck gebracht wird. "Der Konsens hat die Fähigkeit, Unterschiede einzuschliessen und sie sogar zu erzeugen" (Birmelé 2023, 200, n1). Er impliziert eine Unterscheidung zwischen einerseits dem Akt des Bekennens des Glaubens, der in der gemeinsamen Praxis der Predigt und der Sakramente mündet, und andererseits der Vielfalt der lehrmässigen Formulierungen - insbesondere der Bekenntnisse (Schrift, 35-40). Der doppelte Konsens ist das Medium, um sich in der gemeinsamen Praxis zu engagieren.
Eine Anmerkung am Rande: Dieses Verständnis von Konsens artikuliert seine Konfliktdimension noch nicht ausreichend. Den Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedskirchen der Kirchengemeinschaft liegen Machtverhältnisse zugrunde, die Ausdruck grundlegender Asymmetrien sind (symbolische Autorität, finanzielles Gewicht, Präsenz im Rat, Minderheit/Mehrheit usw.). Die besondere Aufmerksamkeit, die die GEKE den Minderheitenkirchen widmet, deutet darauf hin, dass die GEKE diese Machtverhältnisse anerkennt (vgl. LK § 45 und die Studie Theologie der Diaspora, 2019). Die Konflikthaftigkeit dieser Beziehungen muss auch auf der Ebene der (politischen) Entscheidungsdynamik gedacht werden, die die Konsensbildung anleitet.
Der "Korridor" gehört zum Register der Architektur und Stadtplanung - oder auch der Geografie. In einem allgemeineren Sinn handelt es sich um eine Raummetapher, deren Verwendung einem heuristischen Zweck dient: der Entdeckung von Möglichkeiten, den Umgang mit dem Streit zwischen den Mitgliedskirchen der Kirchengemeinschaft zu gestalten. Die Raummetapher ermöglicht sowohl die Anordnung von effektiven Einschränkungen für das Verhalten (über Anordnung, Entfernungen und Begrenzungen), als auch die Eröffnung von Handlungsmöglichkeiten. Aus struktureller Sicht ist der Raum Ausdruck einer Beziehung zwischen Körpern (Gütern und Agenten) und der Transformation dieser Beziehung durch Handeln (Löw 2015).
Wie ich oben bereits erwähnt habe, ist die Wahl von Raummetaphern zum Denken von Konflikten nicht ohne Folgen: Diese Entscheidungen geben dem Konflikt eine konkrete Form und eröffnen seine Wirklichkeit. So muss man den Nutzen der Metapher des "Korridors" abschätzen können. Ich schlage vor, dies im Kontakt mit anderen Metaphern zu tun und mit dem, was sie über die Gestaltung von Konflikten aussagen können. Gehen wir durch einige Variationen.
Bühne. Die Metapher der "Bühne" ermöglicht es, den Unterschied zwischen den Akteuren und Akteurinnen des Konflikts und ihren Zeugen und Zeuginnen zu betonen. Der Konflikt, der auf einer "Bühne" stattfindet, wird aufgebaut, organisiert, orchestriert und geskriptet. Er ist räumlich und zeitlich abgegrenzt. Wenn die "Bühne" in Form der "Arena" präzisiert wird, kann sie sowohl die scheinbare Gewalt des Konflikts als auch seine Kontrolle durch den Herrscher ausdrücken. Die "Bühne" weist dem Konflikt einen besonderen Platz im gewöhnlichen oder alltäglichen Raum zu: Der Konflikt wird öffentlich und sichtbar gemacht, nimmt aber nicht den gesamten Raum ein. Er ist Teil des Spiels. Das Zimmer, das Theater oder der Plenarsaal sind die Räume, die mit dieser Art der Konfliktgestaltung in Verbindung gebracht werden. Sie ermöglichen eine geordnete Verteilung der Positionen: klassischerweise auf der Achse "extrem - links - Mitte - rechts - extrem". Grenzen spielen hier eine zentrale Rolle, da sie die Konstitution einer konfliktträchtigen Pluralität ermöglichen (Mouffe 2016).
Platz. Die Aussenräume der "Agora", des "Forums", des "Dorfplatzes" oder auch des "Palaver Baums" stellen ihrerseits das Ideal eines für alle zugänglichen Raums dar, der die Bildung einer zivilen Identität ermöglicht. Der Platz als Treffpunkt und Versammlungsort, der sowohl auf Mechanismen der Personalisierung als auch der kollektiven Selbstregulierung setzt: Der öffentliche Raum als Ort der Politik. Die Grenzen dieses Raums sind viel durchlässiger als die der "Bühne". Der öffentliche Platz als Raum, der in der Lage ist, die Menge zu empfangen und gegnerische Meinungen unter freiem Himmel aufeinandertreffen zu lassen, was den prüfenden Blick des Souveräns übersteigt. Ausserdem: Er muss nicht unbedingt ein vom Menschen gestalteter (städtischer oder ländlicher) Raum sein. Er kann auch ein in der Natur gewählter Platz sein: ein bestimmter Stein, ein bestimmter Baum, eine bestimmte Ebene oder Vertiefung, die für eine gewisse Zeit von der Gemeinschaft genutzt wird. Der Platz funktioniert wie eine offene, kurzlebige und modulierbare Bühne - der Konflikt muss nicht immer nach demselben Muster ablaufen, und die transgressiven Effekte werden verringert. Darüber hinaus hat die Virtualisierung der offenen Räume durch das Internet die Möglichkeiten, aber auch die Zersplitterung dieser Verräumlichung des Politischen vervielfacht. Die Vervielfachung der offenen Räume erzeugt so viele Blasen, die zwar nicht in sich geschlossen sind, sich aber aufgrund der nahezu unendlichen Zunahme an Wahlmöglichkeiten voneinander isolieren.
Strasse. Wenn sich der Konflikt dorthin verlagert, ist er übergelaufen oder - je nach Perspektive - beginnt er endlich, sich zu entfalten. Auf der "Strasse" stört der Konflikt den normalen Kommunikationsfluss, die Verteilung von Rollen und Funktionen. Es ist komplizierter zu erkennen, wer sich ihr anschliesst. Sie anonymisiert, ist der Ort des Gedränges und des Guerillakriegs. Der Konflikt ist schwieriger zu kanalisieren und gewinnt an Dynamik. Auf der "Strasse" ist der Konflikt nicht mehr auf einen Spielraum beschränkt: Er wird ernst und deutet die Möglichkeit eines Aufstands an. Die "Strasse" macht die Bewegung des Konflikts und sein transformatives und kreatives Potenzial sichtbar - von den mehr oder weniger friedlichen Formen des Protestmarschs bis hin zu den zerstörerischen Formen des Riot.
Indem sie sich für die Metapher des "Korridors" entscheidet, scheint sich die GEKE auf die Raumordnung des Gebäudes, des gestalteten und gestaltbaren Raums einzulassen. Gleichzeitig muss man darauf hinweisen, dass der Begriff nicht der Architektur vorbehalten ist. Man spricht auch von humanitären, migratorischen oder auch ökologischen/biologischen Korridoren: die Einrichtung eines Kommunikationswegs innerhalb eines feindlichen Raums. Das gilt auch für den Luft- oder Schiffskorridor. Bleiben wir aber zunächst beim Gebäude.
Das Gebäude ist ein gestalteter Raum. Es drückt de facto die Handlungsfähigkeit des Menschen und die Veränderung seiner Umwelt aus. Das Gebäude setzt Grenzen, die mehr oder weniger porös sind zwischen innen und aussen, zwischen Respekt und Überschreitung, zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Gebäude haben heute oft Korridore, aber das ist nicht immer der Fall.
Manche Gebäude haben nur Räume - oder sogar nur einen Raum -, denen eventuell ein Vorzimmer oder eine Eingangshalle, ein Wartezimmer oder ein Vorraum vorausgeht. Dieser erste Raum gibt Zeit. Er gibt Zeit zum Ankommen und gibt auch Zeit zum Empfangen. Es ist eine statische Zeit, analog zu der der in einer Zelle gelebt wird. Darüber hinaus impliziert der Warteraum eine Asymmetrie: Eine Person empfängt, die andere wartet darauf, empfangen zu werden. Beide bereiten sich vor, aber die eine ist zu Hause und die andere nicht.
Der Grundraum eines Gebäudes ist der Raum. Dieser wird durch eine bestimmte Nutzung (Esszimmer, Schlafraum, Toilette, Schlafzimmer, Badezimmer, Gemeinschaftsraum, Büro, Werkstatt, Waschküche usw.) und durch seinen festen Benutzer oder sogar Besitzer definiert. Zwei Räume auf demselben Stockwerk können lediglich durch eine Tür miteinander verbunden sein. Nur die Schwelle markiert den Übergang zwischen den Räumen für die Personen, die sie bewohnen. Es gibt verschiedene Räume, aber keine Abstände. Eine Öffnung, aber keine Dauer.
Der Korridor ist der Abstand zwischen den Räumen eines Gebäudes. Er hat in erster Linie einen funktionalen Zweck: Er ermöglicht Austausch und Kommunikation, schnell, effizient und diskret - im viktorianischen England wurde der Korridor insbesondere so angeordnet, dass die verschiedenen sozialen Klassen im selben Gebäude zusammenarbeiten konnten, ohne sich begegnen zu müssen (Jarzombek 2010, 752-753). Die Weite des Korridors ermöglicht Dauer, Bewegung und Flanieren. Sich in den Korridor zu begeben, bedeutet, das Risiko einzugehen, sich in der Symmetrie auszustellen: ausserhalb des eigenen Territoriums, aber gefangen in ein und demselben geschlossenen Raum. Eine Aussetzung, die umso riskanter ist, je eingeschränkter die Fluchtwege sind oder je mehr sie blockiert werden können. Der Korridor kann Menschen in eine angstauslösende prekäre Situation bringen, die in Thrillern Honig ums Maul schmiert.
Wie ich bereits erwähnt habe, ist der "Korridor" nicht für das Innere des Gebäudes reserviert - ursprünglich bezeichnet er übrigens eher einen offenen Anbau (Jarzombek 2010, 731-740). Ausserhalb des Gebäudes soll der (biologische, humanitäre) "Korridor" den Übergang von einem Lebensraum zu einem anderen Lebensraum ermöglichen. Er ist im Prinzip ein konfliktfreier Ort, an dem man weiss, dass man gefahrlos von einem Punkt zum anderen gelangen kann, sei es, weil man zwischen zwei Lebensräumen, die bewohnbar sind, überwechselt, aus einem Lebensraum flieht, der nicht mehr bewohnbar ist, oder weil man versucht, andere in einem Raum zu erreichen, dessen Bewohnbarkeit immer mehr abnimmt. Begegnungen im Korridor sind wahrscheinlich. Sie sind jedes Mal eine Erinnerung an die unsicheren Umstände, in denen man sich befindet.
Der Korridor fragt nach dem Platz, den die einen und die anderen bereit sind, demjenigen zu überlassen, dem man möglicherweise begegnet. Er ruft zu einer Ethik der Kontraktion auf, bei der es in erster Linie darum geht, Platz - Raum - zu geben und nicht, ihn zu nehmen (Wirth 2019; Wirth 2020, 369-374). Im Flur lässt man anderen Platz, oder man versperrt den Weg - aus Versehen oder im Gegenteil, um sein Gegenüber in die Enge zu treiben. Man lässt den Durchgang zu oder verhindert ihn. Der Korridor ermöglicht es auch, die Zeit der Aktivität - die in den Zimmern gelebt wird - hinauszuzögern, sich Zeit zu nehmen. Die Begegnung auf dem Korridor ermöglicht auch die Wiederaufnahme oder Vorwegnahme dessen, was sich im Raum abspielen wird. Das Korridorgespräch als zufällige oder spontane Verzögerung, als strategischer oder taktischer Hebel - oder sogar als poetisches Ereignis.
Im Anschluss an diese Reihe von imaginären Variationen möchte ich vier Anmerkungen zur Relevanz der Metapher des "protestantischen Korridors" machen.
Der Korridor lädt erstens zu einer Abschwächung der Konflikthaftigkeit ein. Der Korridor ist kein Ort, an dem gekämpft wird - dafür ist er nicht gedacht. Im Gegenteil, wenn der Konflikt in den Korridor getragen wird, kommt es eher zu einem Ausbruch von Gewalt - ähnlich wie auf der Strasse. Der Korridor ist ein Ort der gegenseitigen Aussetzung in der Unsicherheit und nicht ein Ort der Stärke. Die Konfrontation, die im Korridor stattfindet, kann keine gewünschte Konfrontation sein - oder nur um der dramatischen Spannung willen, wie bei einer Duellszene oder einem Hinterhalt. Im öffentlichen Raum sind Polizeipräsenz, Denunziation oder Überwachungskameras Indizien für den Widerstand gegen diese grundlegende Risikobereitschaft, die mit dem Korridor verbunden ist, oder sogar für seine Ablehnung.
In diesem Sinne soll die Metapher des "Korridors" eher die konfliktfreie Begegnung unterschiedlicher Positionen fördern. Was vom Korridor ausgeschlossen werden soll, ist genau das Zusammentreffen, das eine bedrohliche Kraft auf die Beziehung ausüben würde. So hat der Korridor zwar die Tugend, den Konflikt zu mässigen, aber er ermöglicht es nicht, den Raum zu identifizieren, in dem sich der Konflikt konkret vollzieht. Die Metapher des "protestantischen Korridors" verschiebt nur die Zeiten der Konfrontation und sagt noch nichts über die Orte aus, an denen sie ausgelebt werden soll. Die Grenzen des Korridors sind nicht die Grenzen der Konfrontation von Meinungsverschiedenheiten: Sie sind die Grenzen des Abstands zwischen einer Vielzahl von Orten ("Zimmern" oder "Lebensräumen"), deren Nutzung und Lebensfähigkeit noch identifiziert werden müssen.
Zweitens führt der Korridor die Distanz zwischen Räumen herbei und ermöglicht so, ihre Unterschiedlichkeit zu artikulieren. In diesem Sinne ermöglicht er die Verdeutlichung besonderer Positionen (der Räume) und ihre gegenseitige Aussetzung in einem Raum, der ihnen nicht eigen ist. In diesem Sinne kann der "Korridor" als Metapher für Synodalität verstanden werden. Sich in den Korridor zu begeben bedeutet, dass man seinen eigenen Raum aufgibt, um sich in Bewegung sowie in Unsicherheit zu begeben - in das Risiko der Begegnung. In gewisser Weise ist die Existenz im "Korridor" das Wesen der kirchlichen Existenz in der Welt: "Denn wir haben hier keinen bleibenden [Raum], sondern den zukünftigen suchen wir" (Hebr 13,14). Die GEKE weist diesen Weg, wenn sie die Fremdheit der Kirche als eines ihrer Grundmerkmale wieder betont (Theologie der Diaspora, 76-86).
Dort, wo die Kirche sich sesshaft gemacht und so etwas wie einen eigenen Raum entwickelt hat, drückt der "protestantische Korridor" den Eintritt in den ursprünglichen kirchlichen Zustand aus. Oder besser gesagt: Er bringt die Kirche zurück in die Modalität ihrer Existenz in der Welt, als Ort, der sich unermesslich von der Raum-Zeit des Reiches unterscheidet. Hier sagt der Eintritt in den "Korridor" etwas darüber aus, was mit kirchlichen Organisationen geschieht, wenn sie sich ihrem Sein aussetzen: in Bewegung gesetzt aus ihrem eigenen Raum heraus, um sich dorthin zu begeben, wohin ihr Herr sie ruft. Der "Korridor" kann die grundlegende Unsicherheit der Kirchen ausdrücken, aber er erlaubt es noch nicht, den Konflikt zu denken, der in der Begegnung entstehen kann - oder er tut dies in einem Modus, der diese Kirchen einer grenzenlosen Gewalt aussetzt.
Drittens: Der " Korridor" kann zwar ein Ort der Begegnung sein, ist es aber nicht zwangsläufig. Er ist erstens ein Ort des Durchgangs, der mehr oder weniger anonym und funktional ist, der mehr oder weniger so genutzt wird, wie er konzipiert wurde, und der mehr oder weniger zweckentfremdet wird. Es ist nicht der Korridor, der den Übergang von der spontanen oder gesuchten Begegnung zur Gemeinschaft herstellt. Der "Korridor" ist eine Möglichkeit für das Zusammentreffen von Positionen. Die Begegnung in einem Raum oder im offenen Raum wäre eine andere. Der Korridor ist nicht - und kann auch nicht - die Voraussetzung für die Gemeinschaft kirchlicher Organisationen sein. Stattdessen öffnet er die Positionen für die Möglichkeit ihrer Konfrontation - eine Konfrontation, die man jedoch verschieben sollte, bis man den richtigen Ort und den richtigen Zeitpunkt gefunden hat, um sie voll zu entfalten.
Schliesslich ist noch zu betonen, dass der "Korridor" zwar eine Affinität zur diasporischen Existenz der Kirche hat, aber nicht alles über diese Existenz aussagt: Der "Korridor" behält die Vorstellung von Grenzen, von Mauern (so porös sie auch sein mögen). Diese existieren jedoch nicht in der Pilgerschaft, die die Kirche in der Welt lebt. Oder besser gesagt: Die Grenzen dieses Korridors, als ein Korridor, der die Bewegung der Kirche als Kirche kanalisiert und ermöglicht, sind nicht stabil und endgültig errichtet, das heisst: in einer Weise, in der sie in der Welt einfach zur Verfügung stehen würden. Die Existenz dieser Grenzen kann nicht von der kirchlichen Praxis selbst losgelöst werden, von dem, was sie hervorbringt und in die Welt setzt.
Ich würde es wagen, von dem doktrinären Rahmen aus, den die Konkordie bietet, etwas weiter auszuarbeiten. Die Welt ist ein Aussetzungsraum. Die Grenzen, die Wände des kirchlichen "Korridors", sind durch das Wort gegeben, wie es die Kirche mit Hilfe des Heiligen Geistes im Glauben aufnimmt und bezeugt. Das Hören des Evangeliums, der Gang durch das Taufwasser und die Versammlung um den Tisch des Herrn bezeugen die Grenzen des "Korridors" als "kirchlicher Korridor", Grenzen, die sowohl kanalisieren als auch den Raum für eine Bewegung auf das Reich Gottes hin und für eine mögliche Begegnung in dieser Bewegung geben.
In seiner ursprünglichen Verwendung sollte der "protestantische Korridor" es ermöglichen, den Streit, der die Gemeinschaft durchzieht, zu denken und auszusprechen und gleichzeitig einen Weg zu fördern, von dem man glaubt, dass er gemeinsam beschritten wird - den Weg der in Christus geschenkten Gemeinschaft.
Am Ende dieses Weges werden die Grenzen dieser Metapher deutlich: Während sie einerseits die Artikulation des diasporischen Zustands der Kirche in der Welt sowie ihrer Prekarität ermöglicht, ist sie andererseits nicht geeignet, um die Konfrontation der Positionen innerhalb der Gemeinschaft zu sagen und zu denken. Sie ist geeignet, das Aufeinandertreffen von Positionen und ihre gegenseitige Exposition zu denken und zu sagen. Andererseits eignet sie sich nicht dazu, den Raum und die Zeit der Konfrontation innerhalb der Gemeinschaft zu identifizieren: eine Bühne, eine Arena, eine Agora, ein Palaver Baum oder eine Parlamentskammer. An dieser Stelle müssen Grenzen wie die in der Studie zur Sexualethik vorgeschlagenen (relationale Anthropologie, Auseinandersetzung mit der Heiligen Schrift und Rechtfertigung allein aus Gnade) gesetzt werden und ihre Relevanz kann sich messen lassen. Als Grenzen des "Korridors" scheinen sie eher wie bedrohliche elektrische Barrieren zu wirken als wie eine sichere Markierung. So sehr diese Art von Grenzen in einem Raum erwartet wird, der die Entfaltung von Konflikten und sogar von Gewalt ermöglicht, so sehr sind sie im Korridor fehl am Platz. Der Korridor soll nach aussen hin schützen und keine Bedrohung für diejenigen sein, die sich darin aufhalten.
Wie ich im ersten Teil dieses Beitrags dargelegt habe, konstituiert sich der Diskurs um den "protestantischen Korridor" in Handreichungen, die den GEKE-Mitgliedskirchen eine Orientierung für ihre ethische Urteilsbildung in Bezug auf Themen geben sollen, die sie und die Gesellschaft spalten - Lebensende, Reproduktionsmedizin, Gender und Sexualität. Da diese Handreichungen nicht den Vollversammlungen der GEKE vorgelegt werden, ist ihre Autorität relativ: Es handelt sich eher um ein Angebot als um eine anerkannte Orientierung. Dennoch tragen diese Handreichungen, indem sie den Begriff des "protestantischen Korridors" entfalten, dazu bei, einer solchen Orientierung Gestalt zu verleihen.
Die Verwendung der Raum-Metapher des "Korridors" lädt zum einen dazu ein, über die Vorstellungswelt des Konflikts - oder vielmehr das Fehlen einer solchen Vorstellungswelt - innerhalb der GEKE nachzudenken. Nicht, weil der Konflikt an sich wünschenswert wäre, sondern weil er für eine Organisation unumgänglich ist, deren Aufgabe es ist, eine protestantische Stimme auf europäischer Ebene zu erheben, die die Pluralität der kirchlichen Wirklichkeiten repräsentiert und die diese verschiedenen Wirklichkeiten in die Bildung dieser Stimme einbezieht. Raummetaphern können hier als heuristisches Werkzeug dienen, um die Räume des legitimen Konflikts zu identifizieren und ihnen eine konkrete Form zu geben, aber sie müssen mit Bedacht gehandhabt werden.
Eine letzte Bemerkung: Die Überlegungen zu dieser Metapher sollten Hand in Hand gehen mit einer ekklesiologischen Analyse der Räume, in denen Positionen bereits konkret aufeinanderprallen: bei der Arbeit an gemeinsamen Texten, in Vollversammlungen und Räten, in Regionalgruppen, bei gelegentlichen Treffen und dort, wo Zusammenarbeit auf der Ebene von Ortsgemeinden stattfindet. Diese Analyse sollte mit einer theologischen Würdigung der kirchlichen Räumlichkeit einhergehen (Wüthrich 2015, 427-460), insbesondere bei der Klärung der Beziehung zwischen Räumen, die das Geschenk der kirchlichen Einheit bezeugen und die Gemeinschaft konstituieren (Verkündigung des Evangeliums und Verwaltung der Sakramente), und Räumen, die das Fortbestehen einer unversöhnten Differenz manifestieren (wobei zu berücksichtigen ist, dass ein und derselbe Ort Anlass für verschiedene Räume sein kann, vgl. 1 Kor 11,19-34). Diese Arbeit muss noch geleistet werden und setzt die Entwicklung einer stärkeren Wahrnehmung der positiven Funktion von Konflikten innerhalb der Kirche voraus.
Text im Original mit Quellenangaben:
Dieser Text wurde maschinell übersetzt und vor der Veröffentlichung noch kurz überprüft.
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