Theologie und Avantgarde
«Das Wort will ich haben, wo es aufhört und wo es anfängt. Dada ist das Herz der Worte. […] Das Wort, das Wort, das Wort ausserhalb eurer Sphäre, eurer Stickluft, dieser lächerlichen Impotenz, eurer stupenden Selbstzufriedenheit, ausserhalb dieser Nachrednerschaft, eurer offensichtlichen Beschränktheit. Das Wort, meine Herren, das Wort ist eine öffentliche Angelegenheit ersten Ranges.»
Hugo Ball
«Belonging hat kein Subjekt.»
Stella Konstantinou
In seinem Bibelkommentar zu Micha 4,6 bemerkt Johannes Calvin: «Obwohl die Kirche zur Zeit kaum zu unterscheiden ist von einem toten oder doch invaliden Manne, so darf man doch nicht verzweifeln; denn auf einmal richtet der Herr die Seinigen auf, wie wenn er Tote aus dem Grabe erweckte. Das ist wohl zu beachten; denn wenn die Kirche nicht leuchtet, halten wir sie schnell für erloschen und erledigt. Aber so wird die Kirche in der Welt erhalten, dass sie auf einmal vom Tode aufsteht, ja am Ende geschieht diese ihre Erhaltung jeden Tag unter vielen solchen Wundern. Halten wir fest: Das Leben der Kirche ist nicht ohne Auferstehung, noch mehr: nicht ohne viele Auferstehungen.» Die seltsame Verwendung des Ausdrucks «Auferstehung» im Plural irritiert nicht nur den theologischen Mainstream, sondern provoziert auch den Einspruch der Rechtschreibprüfung des Textverarbeitungsprogramms, mit dem dieser Beitrag erstellt wurde. Damit wäre die Ausgangslage von Avantgarden bereits im Kern beschrieben: Eine Entwicklung gelangt an einen Punkt, an dem ein «weiter so» in eine aussichtslose Sackgasse führt. Gleichzeitig besteht (1.) Unklarheit darüber, in welche Richtung es weitergehen soll, und wird (2.) die Dringlichkeit der Lage und der nötigen Veränderungen nur von einer Minderheit erkannt bzw. geteilt und mitgetragen.
Der Ausdruck «Avantgarde» stammt aus der französischen Militärsprache und bezeichnete die Vorhut, die zur Beobachtung und Erkundung feindlicher Gebiete vorgeschickt (avant) wird, um die nachfolgenden Truppen zu schützen (garde). Entsprechend betonte Carl von Clausewitz die militärisch-strategische Funktion der Avantgarde: «Jede Truppe, welche nicht vollkommen schlachtfertig ist, bedarf einer Vorhut, um des Feindes Anrücken zu erfahren und zu erforschen, bevor sie ihn selbst ansichtig wird». Avantgarden bilden – allgemein formuliert – exklusive Gruppen oder Gemeinschaften, die sich durch ihre Rollen und Funktionen von der Mehrheit oder Allgemeinheit unterscheiden. Sie sind ihrer Zeit voraus, überschreiten deren Normen, Regeln und Verhaltensweisen und zeichnen sich durch besondere Beweglichkeit, grosse Kreativität und subversive oder sogar umstürzend-revolutionäre Absichten in einer – im weitesten Sinn – gegnerischen Umwelt aus. Im 19. Jahrhundert wandert der Avantgarde-Begriff über den sozialphilosophischen Saint-Simonismus in die Kunst ein. Als Gründungsdokument der historischen Avantgarde gilt Filippo Tommaso Marinettis «Fondation et Manifeste du Futurisme», das am 20. Februar 1909 in «Le Figaro» erschien. Das Manifest bildete vom 16. bis 20. Jahrhundert einen hoheitlich-herrschaftlichen Akt, mit dem ein Fürst oder eine Regierung der Öffentlichkeit wichtige Angelegenheiten, insbesondere Kriegserklärungen, mitteilte. Mit der Adaption des Mediums durch die Avantgarde-Bewegungen verbanden sie den Anspruch, «dass ihr bzw. der Kunst eine führende, ja souveräne Rolle bei der Neugestaltung des Lebens zukommt, sich auf den Stuhl der Herrschenden zu setzen und gibt den Repräsentanten dieser Avantgarde quasi die Befugnis, Manifeste zu veröffentlichen».
An seinen radikalen Ideen liess Marinetti, Jurist, Schriftsteller, Gründer des italienischen Futurismus und faschistischer Weggefährte Mussolinis, von Anfang an keinen Zweifel. Die ersten Thesen seines Gründungsmanifests lauten: «1. Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit. / 2. Mut, Kühnheit und Auflehnung werden die Wesenselemente unserer Dichtung sein. / 3. Bis heute hat die Literatur die gedankenschwere Unbeweglichkeit, die Ekstase und den Schlaf gepriesen. Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag.» Gegen die kulturellen Traditionen (einschliesslich ihrer literarischen Quellen und architektonischen Denkmäler) propagierte der italienische Futurismus eine Ästhetik der Technik, der Geschwindigkeit, Energie, Kraft und des Lärms der Maschinen und verherrlichte die militärische Gewalt und Zerstörung im Ersten Weltkrieg als notwendigen Preis für neue Lebensweisen.
Die von Zürich ausgehende Dada-Bewegung schloss an die futuristische Kultur- und Kunstkritik an, intensivierte die Sprachkritik aber lehnte die Gewaltverherrlichung und den Bellizismus konsequent ab. Tristan Tzara, prominenter Mitstreiter von Hugo Ball und Emmy Hennings in Zürich, erklärte: «Dada; Vernichtung der Logik, Tanz der Ohnmächtigen der Schöpfung: […] Dada; Vernichtung des Gedächtnisses: Dada; Vernichtung der Archäologie: Dada; Vernichtung der Propheten: Dada; Vernichtung der Zukunft: Dada; Absoluter indiskutabler Glauben an jeden Gott, den spontane Unmittelbarkeit erzeugte: Dada; eleganter, vorurteilsloser Sprung von einer Harmonie in die andere Sphäre; Flugbahn eines Wortes, das wie ein Diskurs, tönender Schrei, geschleudert ist; alle Individualitäten in ihrem Augenblickswahn achten: im ersten, furchtsamen, schüchternen, glühenden, kraftvollen, entschiedenen, begeisterten Wahn; seine Kirche von allen unnützen, schweren Requisiten abschälen, wie eine Lichtfontäne den ungefälligen oder verliebten Gedanken ausspeien, oder ihn liebkosen […]. Freiheit: Dada, Dada, Dada, aufheulen der verkrampften Farben, Verschlingung der Gegensätze und aller Widersprüche, der Grotesken und der Inkonsequenzen: Das Leben.» Bekannt wurden die dadaistischen Performances und Lautgedichte, mit denen Sprache, Wirklichkeitswahrnehmungen, soziale und kulturelle Normierungen absurd und anarchisch aufgeladen und erweitert wurden. Kunst wird zur karnevalistischen und (selbst-)ironisierenden Provokation, Gesellschafts-, Kultur- und Moralkritik.
Noch einen Schritt weiter geht der Surrealismus mit seiner, besonders durch die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse angeregten Hinwendung auf das Psychische. André Breton erklärt in seinem Surrealismus-Manifest von 1924: «Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität. [...] SURREALISMUS, Subst., m. – Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.» Bekannt wurde der Surrealismus einerseits durch die Technik des automatischen Schreibens, bei dem das absichtliche Formulieren durch die Selbstwirksamkeit des Unterbewussten ersetzt wird. Andererseits verschärft der Surrealismus die avantgardistische Erkenntniskritik an dem Verhältnis zwischen Objekt, Begriff und Repräsentation, die René Magritte in seinem bekannten Gemälde «La trahison des images» (Der Verrat der Bilder) von 1929 aufgreift, auf dem er die Darstellung einer Pfeife mit der Bildunterschrift «Ceci n’est pas une pipe» versieht. Es geht um eine traumhafte Überschreitung der Realität, eine Transzendierung des Sichtbaren und eine frei assoziative, spontane Praxis.
Ungeachtet der Pluralität, Uneinheitlichkeit und radikalen Offenheit der historischen Avantgarden sind regelmässig wiederkehrende Elemente, Methoden und Strategien erkennbar: (1.) der Bewegungscharakter von Avantgarden, der gegen jede Institutionalisierung und Kategorisierung gerichtet ist; (2.) der Bruch mit der Kunst als autonome Institution in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft; (3.) ein gesellschaftskritischer, anarchistischer oder revolutionärer politischer Antrieb; (4.) die Aufhebung des Kunstsystems, die Kritik an der exklusiven Künstler:innenrolle und am Kunstwerk; (5.) die Vereinigung von Kunst und Lebenswirklichkeit (vgl. Joseph Beuys: «Jeder Mensch ist ein Künstler»); (6.) der starke positive Bezug auf technische Entwicklung und Reproduzierbarkeit; (7.) das «Denken der Unmittelbarkeit» mit dem Widerstand gegenüber Beständigkeit und Kontinuität und (8.) das visionäre Selbstverständnis der Aktuer:innen als Vorreiter:innen zukünftiger Entwicklungen.
Eine «Theologie der Avantgarde» – die unter diesem Titel auftritt – gibt es genauso wenig, wie einen etablierten Diskurs über Theologie oder Kirche und Avantgarde. Die Theologie verfügt im Gegensatz zu den Kunst-, Literatur-, Kultur- und Sozialwissenschaften über keinen systematischen oder konzeptionellen Avantgardebegriff. In den über 2.3 Millionen Google-Einträgen zum Suchbegriff «Avantgarde» verlieren sich die wenigen Hinweise auf theologische und kirchliche Bezüge. Aktuell tauchen lediglich drei Publikationen auf, die beide Begriffe im Titel enthalten: die katholisch-theologische Studie von Jon Kirwan «An Avant-garde Theological Generation. The Nouvelle Théologie and the French Crisis of Modernity» und die beiden Monographien der Stockholmer Theologin Petra Carlsson Redell «Foucault, Art, and Radical Theology. The Mystery of Things» und «Avantgarde Art and Radical Material Theology. A Manifesto. Darüber hinaus finden sich lediglich vereinzelt aktuellere Hinweise im Zusammenhang von (Kirchen-)Musik und Liturgie.
Der Befund erstaunt angesichts der biblischen Sonderrolle Israels unter den Völkern und des urchristlichen Missionsauftrags, der den Aposteln eine klare Vorreiter- und Vorbildfunktion in der Welt zuschreibt. Darüber hinaus sind das weite Feld der biblischen Profetie, die biblisch-theologischen Eschatologien und Apokalyptiken durch eine mahnende und zur Umkehr rufende Perspektive gekennzeichnet, die der Wirklichkeit nicht nur weit vorausliegt, sondern auch mit den mehrheitlichen und staatstragenden Sichtweisen und Überzeugungen notorisch konfligiert. Aufgrund einer fehlenden Rezeption kann über die theologische Avantgardeabstinenz nur spekuliert werden. Einmal abgesehen von den historischen und ideologischen Verstrickungen der Kirchen und Theologien im ausgehenden 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa sind einige sachliche Gründe naheliegend: (1.) der aktualistische und zeitlich begrenzte Vorhut-, Aufbruchs- und Übergangscharakter der Avantgardebewegungen, der einem institutionellen Kirchenverständnis diametral widerspricht; (2.) der rhetorisch unverhohlene Atheismus und eine auf den ersten Blick schroffe Antikirchlichkeit; (3.) die avantgardistische Affinität zu anarchistischen, revolutionären und sozialistischen politischen Bewegungen und Programmen, die für staatstragende Kirchen und ihre Theologien als Legitimationsressourcen schlechterdings unakzeptabel sein mussten; (4.) die radikale avantgardistische System-, Struktur-, Ordnungs- und Moralkritik, die auch die real existierenden Kirchen miteinschloss; (5.) die Antistaatlichkeit, Hierarchiekritik und das egalitär-demokratische Pathos, die der kirchlichen Zwei-Reiche- und Ämterlehre widersprachen; (6.) die konsequente Ablehnung traditionelle Autoritäten und der Autorität der Tradition, die auch vor religiösen Autoritäten nicht Halt machte, und (7.) eine fehlende (theologische) Heilserwartung der Avantgarden.
Diese Gegensätzlichkeiten gelten aus der Sicht der institutionalisierten Kirchen und ihrer Lehren, aber nicht in gleicher Weise aus der Perspektive der biblischen Verkündigung und des Glaubens. Im zweiten Fall ergäben sich instruktive Schnittstellen, etwa: (1.) das Motiv der Dekonstruktion des handelnden Subjekts in der Kritik am Status der Künstler:innen und die intentionsfreie Kreativität mit «Schuldig mache ich mich dann, wenn ich wieder aufrichte, was ich abgerissen habe. […] Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.» (Gal 2,18.20); (2.) das antiinstitutionelle Bewegungsmotiv und die Verweigerung gegenüber dogmatischen Regulierungssystemen mit «[D]enn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir» (Hebr 13,14); (3.) das Anliegen der Überwindung der Theorie-Praxis- und Zweck-Mittel-Dichotomie in einem alle Status-, Norm- und Wertbestimmungen egalisierenden Lebensbegriff mit «Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus.» (Gal 3,28); (4.) das Motiv der Dynamisierung der Zeitdimension mit «Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. Denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.» (Offb. 21,1); (5.) das Motiv der Ent- und Neukontextualisierung von Wahrnehmung, Erleben und Sprache mit «Und sie wurden alle erfüllt von heiligem Geist und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie der Geist es ihnen eingab.» (Apg 2,4) oder (6.) das Motiv der Dislozierung und Ortlosigkeit mit «Und der Herr sprach zu Abram: Geh aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde.» (Gen 12,1)
Es geht nicht um eine (heimliche) Nähe oder Affinität der Avantgarde-Bewegungen zur Theologie. Dafür sind die etablierten kirchlichen Theologien viel zu weit entfernt von einer avantgardistischen Unruhe. Vielmehr stellt sich umgekehrt die Frage, was von den eben exemplarisch zitierten Bibelbezügen ausgehen könnte, wenn sie nicht nur einem vorgegebenen oder etablierten Erkenntnis- und Verhaltenssystem entsprechend gedeutet und kompatibel gemacht würden, sondern eine wilde und spontan-unkontrollierte Dynamik entfalten und in dieser Weise wirklich werden und eine Praxis hervorbringen könnten.
Theologisches Nachdenken über Avantgarde kann nicht darin bestehen, Elemente eines Konzepts von Avantgarde oder Versatzstücke von Avantgardebewegungen für die eigene Theorie und kirchliche Praxis zu adaptieren. Dagegen spricht einerseits die avantgardistische Ablehnung jeder Art konzeptioneller und strategischer Blaupausen und andererseits das Selbstverständnis von Kirche, die sich ihren Auftrag nicht selbst gibt, und die niemandem vorangeht, sondern Christus gemeinschaftlich nachfolgt. Der theologische Ort von Kirche befindet sich hinter dem vorausgehenden Christus und vor der geschöpflichen Welt, in der die Kirche existiert. Dabei schützt die vorgegebene Marschordnung von Vorhut und Nachfolge nicht vor Holz- und Umwegen, wie die unzähligen Varianten zum Prototyp der 40-jährigen Wüstenwanderung des auserwählten Gottesvolks in der Kirchen- und Theologiegeschichte demonstrieren. Deshalb braucht die Kirche – gemäss der eingangs zitierten Aussage Calvins – «viele Auferstehungen», also Impulse und Antriebe, die sie nicht selbst herstellen und sich selbst nicht verordnen kann.
Der Genfer Reformator verweist – modern gesprochen – auf eine Alterität, die für den christlichen Glauben und die Kunst konstitutiv ist. «Fremdheit zur Welt ist ein Moment der Kunst; wer anders denn als Fremdes sie wahrnimmt, nimmt sie überhaupt nicht wahr.» Trotz der von ihm selbst eingestandenen Unkenntnis, hat Karl Barth die dadaistische Herausforderung theologischer Arbeit deutlich gespürt. Nach dem Besuch der umstrittenen zweiten Ausstellung des Modernen Bundes im Kunsthaus Zürich, bei dem sich ein Besucher lautstark über die «Schmierereien» beschwerte, notierte Barth in einem Brief vom 26. Juli 1912 an seine Verlobte Nelly: «Die Futuristen wurden mir unwillentlich lieb [,] als ich diese Kritik hörte. Ich musste an die Herren Hüssy denken, und an die andern Lieben im Bezirk Zofingen. So etwa wie diesem Zürcher Bürger die Futuristenbilder, müssen ihnen meine Predigten vorkommen!!! Natürlich, das ist etwas Anderes und doch die gleiche Stimmung: das ist Kunst, was ich Kunst nenne [,] und wenn ihrs anders macht, will ich meinen Franken wieder». Und die avantgardistische Sprachkritik drängt sich dem Theologen beim Nachdenken über die Prädestinationslehre im «Römerbrief» auf, «[d]ass alle unsre religiös-sittlichen Begrifflichkeiten angesichts der Realität dieses Gottes gegeneinander fallen wie auf die Spitze gestellte Kegel, wie die Häuser und Bäume auf einem futuristischen Bilde».
Die lange Geschichte der theologischen Traditionen und ihrer Lehrbildungen haben eine Formelhaftigkeit theologischer Sprache befördert, die in dem Moment befremdlich und unverständlich wurde, als sie mit dem entliturgisierenden, historisch-kritischen Anspruch wissenschaftlicher Propositionalität in rationalen Denksystemen verbunden wurde. In der Folge wurden weitreichende Fragen unabweisbar, etwa wer der Gott ist, «der ganz anders» (Karl Barth) oder «der ganz Andere» (Rudolf Bultmann) ist, oder worin das besteht, «was uns unbedingt angeht» (Paul Tillich), oder was aus der Einsicht folgt, dass es «einen Gott den ‹es gibt›, [nicht] gibt» (Dietrich Bonhoeffer), oder worin sich theologische Gotteslehren und ihre kirchliche Verkündigung vom Motto der «Cafeteria-Religion», «Was Gott ist, bestimme ich!» (Ingolf U. Dalferth) unterscheiden. Solche Fragen finden keine Antworten in den Geheimnissen, Rätseln und Irritationen der biblischen Erzählungen, prophetischen Reden, Psalmgebete und -lieder, Verkündigung Jesu und ihrer urchristlichen Deutungen. Die Fragen und «Antworten» passen nicht zusammen. Verfallen die Versuche, die biblischen Texte als Hinweise und Antworten auf die theologischen Fragen zu lesen, nicht – mehr als alles andere – dem Protest Hugo Balls? «Das Wort will ich haben, wo es aufhört und wo es anfängt. Dada ist das Herz der Worte. […] Das Wort, das Wort, das Wort ausserhalb eurer Sphäre, eurer Stickluft, dieser lächerlichen Impotenz, eurer stupenden Selbstzufriedenheit, ausserhalb dieser Nachrednerschaft, eurer offensichtlichen Beschränktheit.» Ein Plädoyer für das biblische Wort anstelle einer theologischer Antwort findet sich in dem dadaistisch-lautspielerischen Gedicht «schriftgelehrte» des Hugo Ball-Lesers Kurt Marti über die «gotteserörterer»: «wir örtern / gott / vergeblich / mit wörtern / doch / er ist / der geist / und lässt sich nicht / örtern / er ist das wort / und lässt sich nicht / wörtern». Der katholische Dadaist Hugo Ball, zeigt sich mit seiner Suche nach dem «Herz der Worte» als Verfechter einer reformiert-reformatorischen Hörpraxis: «Heute abend sang ich das Credo unvermittelt, wie es mir immer wieder in diesen letzten Worten durch den Sinn geht. […] Die Worte berauschten mich. […] Es kämpft und tobt in mir. […] Das hätte ich früher nicht glauben können. Glauben können, glauben können. […] Was ist das doch für ein wunderbarer Gesang! Alle Vokale geben sich hier, in der Kirche, ein rauschendes, ewiges Stelldichein.»
Etwas davon muss auch Karl Barth in seinen Münsteraner und Bonner Ethikvorlesungen gehört und beeindruckt haben: «Kunst bezieht sich als reines Spiel auf Erlösung. […] Dieser Trost bedeutet doch endgültig eben Heimatlosigkeit […]: dass ihre Werke sich so unzweideutig als Spiel und eben nur als Spiel charakterisieren, dass sie nur, aber auch nur als aufgerichtete Zeichen der Verheissung möglich sind, dass sie gerade in ihrem seltsamen, bodenlosen Seitabstehen von allen Werken der gegenwärtigen Wirklichkeit so ganz und gar nur von der Wahrheit der Verheissung leben, dass der Künstler bei den Anderen schon an ihre Offenheit für das Allerletzte appellieren muss, um mit seiner höchst sonderlichen Sprache auf Gehör und Verständnis rechnen zu können, dass er den Anderen eine Frage stellen muss, bei der er auf Antwort eigentlich gar nicht rechnen kann, bei der das Erfolgen einer Antwort eigentlich das Geschehen eines Wunders bedeutet, das ist die eigentümliche Grösse, aber auch die eigentümliche Tragik der Kunst. […] Und Kunst ist Schaffen aus dieser Empfindung. Insofern spielt die Kunst mit der Wirklichkeit. Sie lässt die Wirklichkeit in ihrem Das-Sein und Sosein nicht gelten als letztes Wort. Sie überbietet sie mit ihrem Wort. Sie meint es besser wissen und machen zu können. Sie überbietet menschliche Rede durch die eschatologische Möglichkeit». Theologie ist keine Kunst, aber sie kann darüber nachdenken, was sie der Kunst zu überlassen hätte.
In einem fulminanten Essay hat der Philosoph Norbert Bolz die gegenwärtig inflationären Krisenrhetoriken als Produkte einer depressiv-apokalyptischen Bewusstseinsindustrie kritisiert, die aus der säkularen Umbesetzung der Moralinstanz Kirche durch Massenmedien und Politik hervorgegangen sei. Unter der Überschrift «Die Notsüchtigen» notiert er: «Wenn es Menschen oder gar Gesellschaften an Hoffnung fehlt, wie das offenbar heute in der westlichen Welt der Fall ist, dann müssen Feinde der Hoffnung am Werk sein. Und diese kann man genau benennen: die mediale Angstindustrie, der Katastrophenkonsum und der Entrüstungspessimismus. Die auf schlechte Nachrichten spezialisierten Massenmedien, die Politiker des Ressentiments und die ‹Notsüchtigen›, von denen Nietzsche so hellsichtig gesprochen hat, wirken hier zusammen. Pessimismus ist die Krankheit eines Zeitalters, das nicht mehr an den Fortschritt zu glauben wagt. Und immer mehr Leute scheinen eine Art Krankheitsgewinn aus dem Schwarzsehen ziehen zu wollen. Hoffnungslosigkeit verkauft sich gut. Deshalb hat sich eine riesige Angstindustrie entwickelt.» Bolz verweist in dem Zusammenhang auf die ältere Beobachtung von Hans Magnus Enzensberger von den Medien als Moralgeneratoren: «Wen der Terror der Bilder nicht zum Terroristen macht, den macht er zum Voyeur. Jeder von uns sieht sich auf diese Weise einer permanenten moralischen Erpressung ausgesetzt. Denn nur wer zum Augenzeugen gemacht wird, kann als Adressat der vorwurfsvollen Frage dienen, was er denn gegen das, was ihm gezeigt wird, unternehme.» Die moralisch infizierten Voyeur:innen erscheinen gewissermassen als Gegenentwurf zu den avantgardistischen Aktvist:innen. Moralisch-räsonierende Positionen reklamieren für sich jenen Autonomiestatus, den der romantisch-bürgerliche Kunstbegriff hervorgebracht hatte und gegen den die künstlerischen Avantgarden sturmgelaufen waren. Die Moralaktivist:innen von heute werden mit der gleichen Widersprüchlichkeit konfrontiert wie die historischen Avantgarden: Während die älteren nicht verhindern konnten, vom bürgerlichen System okkupiert, in Kunstmuseen gesperrt und als veritable Kapitalanlagen auf dem Kunstmarkt gehandelt zu werden, kommen die jüngeren nicht über eine subversive Geste hinaus, die ihnen gesellschaftlich zugewiesene und kontrollierte Protesträume gestatten. Das Dilemma jeder verständlichen moralischen Entrüstung besteht darin, nicht nur im kritisierten System stecken zu bleiben, sondern dieses gerade durch die Kritik zu bestätigen. Auch in der liberalen Gesellschaft kann es kein richtiges Leben im falschen geben.
Auf dieses Dilemma hat die Stockholmer Theologin Petra Carlsson Redell mit dem programmatischen Entwurf einer «Radical Material Theology» reagiert. Dabei geht es ihr «um Verspieltheit und ernsthaften Respektlosigkeit, um das Neuordnen und Rekonstruieren der Theologie um Gott und der Menschheit willen, um der Vielfalt des Lebens willen – sei es innerhalb, am Rande oder ausserhalb christlicher Gemeinschaften und des Kirchenlebens. Ich spreche von ‹ernsthafter Respektlosigkeit›, weil ich vermute, dass experimentelle oder sogar blasphemische Behandlungen des theologischen Erbes uns davor bewahren können, ewige Denkmäler zu er-richten, die zu Leblosigkeit, Unterdrückung und Zerstörung führen. Ungehorsame Verspieltheit, in demütigem Respekt vor dem Geheimnis der Dinge, vor der überlieferten Weisheit der Traditionen, aber unter Hinzufügung von Gedanken, Worten, Taten, Objekten zur Oberfläche der Erscheinungen, kann die Welt neu erschaffen.» Carlsson Redell erläutert ihren Ansatz, der für traditionell geschulte theologische Ohren eine Zumutung darstellt, an dem legendären Putin-Protest von Pussy Riot in der Moskauer Christ-Erlöser-Kirche von 2012. Die Theologin zitiert Nadezhda Tolokonnikova, «dass es für sie im Christentum um die Suche nach Wahrheit gehe, verstanden als ‹ein ständiges Überwinden dessen, (…) was man früher war.› Die Gruppe habe nach einer Form gesucht, um wahre Aufrichtigkeit und Einfachheit auszudrücken, und diese in der ‹heiligen Torheit› des Punk-Konzerts gefunden. Sie wählten den Punk-Stil für ihre Performance, um mit Leidenschaft, Offenheit und Naivität die Heuchelei und die künstliche Anständigkeit, die die Verbrechen verdecken, zu besiegen.»
Hanno Rauterberg hat jüngst an das «futuristisch Wutbürgertum» erinnert, deren Kreationen in den Kunstmuseen und Galerien der Gegenwart zu bestaunen sind. «Gesellschaftliche Trieb- und Wutabfuhr, das war die Kunst. Und sie wurde umso inniger geliebt, je mehr man sie hassen durfte. Die Museen sind heute voll von den Gesten des unmöglichen Betragens, der Provokation und Überheblichkeit. […] Schön einerseits, dass ihre Anti-Kunst nun zum Kanon gehört. Andererseits schrecklich, weil die Wut jetzt als ästhetisch wertvoll gilt. Das Museum entgiftet, verwandelt toxische Gefühle in Wohlgefallen.» Umgekehrt seien aber die künstlerische Wut und der Stolz darauf, «sich widersinnig aufzuführen und immer schön dagegen zu sein: Ich wüte, also bin ich», aus den Kulturtempeln aus- und in die Gesellschaft eingewandert. «Lange war die Kunst der Rageroom einer formierten Gesellschaft. Hier tobte sich aus, was anderweitig kein Ventil fand. Nun aber wird sie zum pädagogisch wertvollen Safe Space, weil draussen, im wahren Leben, in einer normativ entregelten Gesellschaft einzig die Wut noch als Sinn-Quelle erscheint, als das, was einem niemand nehmen und abstreiten kann.» Der Diagnose Rauterbergs muss nicht zugestimmt werden, um die Ahnung zu verspüren, dass sie auch die aktuelle Situation der Kirchen und ihrer Theologien betreffen könnte.
Text mit Fussnoten und Quellenangaben:
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