Kirchen und Demokratie

Eine Rückschau auf die neunte GEKE-Vollversammlung

Christoph Weber-Berg, Kirchenratspräsident der Reformierten Kirche im Kanton Aargau und Mitglied der Delegation EKS, nahm im September an der Vollversammlung der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa im rumänischen Sibiu teil. Er arbeitete an einer Stellungnahme zu Kirchen und Demokratie mit und hat in der Begegnung mit den anderen Teilnehmenden viel über die Herausforderungen europäischer Kirchen in ihren politischen Kontexten erfahren. Sie sind gefordert, können aber auch Raum für offene und respektvolle Diskussionskultur bieten.

In der Stellungnahme «Demokratische Kultur stärken, damit Einheit in Vielfalt gelingt», die an der Vollversammlung der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa beschlossen wurde steht: die Kirchen «haben keine politische Definitionshoheit aus dem Wort Gottes, aber das Wort macht sie zu konstruktiv kritischen Partnerinnen im demokratischen Gefüge». Wie soll dieses Partnersein funktionieren, Herr Weber-Berg?

Bei dieser Aussage ging es uns zuerst darum festzuhalten, dass aus dem Wort Gottes, dem Evangelium, der Bibel – wie auch immer man referenzieren will – unmittelbar keine politische Definitions- oder Deutungsmacht abgeleitet werden kann. Das Evangelium muss in einem sorgfältigen hermeneutischen Prozess in jede konkrete politische Gegenwart hinein neu interpretiert werden. Und ja: kirchliche Stimmen zu Politik sind Stimmen unter anderen und können in modernen, demokratischen Gesellschaften nur durch gute Argumente überzeugen und nicht mit dem Verweis auf das Absolute. Die Partnerschaft von Kirchen zur Politik muss wiederum in jeder konkreten Situation anders gelebt werden.

Und wenn Sie an die Schweizer Situation denken? Die Politik möchte doch eigentlich keine Einmischung?

Das Stichwort «Keine politische Einmischung durch die Kirche» kommt mir manchmal auch sehr schweizerisch vor. Für uns bedeutet es, dass wir nicht zum politischen Tagesgeschäft Stellung nehmen. Sehr wohl aber, wenn es um existenzielle Themen wie Schwangerschaft/Geburt und Tod geht, um Menschenwürde und Menschenrechte, Gendergerechtigkeit, Frieden oder um die Stellung von Religion und Kirche in der Gesellschaft. Bezogen auf die Schweiz gibt es aber auch eine weitere, «typische» Form der Partnerschaft: Die Einladung zu Mitwirkungs- und Vernehmlassungsverfahren. Ohne öffentliches Aufsehen nehmen wir hier z.B. zu sozialpolitischen Themen auf Stufe «politisches Tagesgeschäft» gegenüber Verwaltung und Politik Stellung. Für Kirchen aus anderen europäischen Ländern – nicht zuletzt Deutschland – stand in Sibiu auch das Thema der Kirche als Fürsprecherin der (potenziell) bedrohten Demokratie im Fokus.

Weiter definierte die GEKE-Vollversammlung: «Das Verhältnis von Kirche zur Demokratie ist keine theologische Bekenntnisfrage, sondern bildet eine theologische und auf die Gesellschaft hin orientierte Suchbewegung ab.» Kurzum: Mit Kirche ist kein Staat zu machen, oder?

Wir haben diesen Hinweis in Sibiu so verstanden, dass das Verhältnis von Kirchen und Demokratie in unterschiedlichen demokratisch verfassten Gesellschaften unterschiedlich sein kann und muss. Die Frage der Gestaltung dieses Verhältnisses sollte keinesfalls kirchenspaltend wirken.

Können Sie ein Beispiel für die genannte «Suchbewegung» nennen?

Die schon erwähnte, schweizerische Thematik könnte solche eine Suchbewegung sein. Wann, zu welchen Themen, soll die Kirche gegenüber Politik und Öffentlichkeit Stellung beziehen? Für deutschen Kirchen stellen sich Fragen wie: Wie verhalten sich Partei- und Kirchenmitgliedschaften zueinander? Mit welcher Parteizugehörigkeit geht Kirche, und mit welcher nicht? Sollen sich die Kirchen öffentlich äussern, wenn die AfD 30% der Stimmen holt. Oder sollen sie an Demos teilnehmen? Und die ungarischsprachigen Kirchen ausserhalb Ungarns fragen sich: Wie verträgt sich Kirche-Sein mit nationalistischen Träumereien von Gross-Ungarn? Es gäbe da noch viele weitere Beispiele.

Allfällige Brüche, welche die Gesellschaften durchziehen, durchziehen in aller Regel auch die Kirchen selbst. Kirchen sind also darin gefordert, schon mal intern eine respektvolle Diskussionskultur zu fördern. Vielfalt als Reichtum zu betrachten, Anders-Sein als Einladung zur Selbstreflexion

Die Stellungnahme bildet auch viele aktuelle Trends ab: Vertrauensverlust in die Demokratie, Menschenrechtsverstösse, Benachteiligung von Minderheiten, Bubbles, die nicht mehr miteinander diskutieren. Kirchen sollen hier an Menschenwürde erinnern, für offene und kritikfähige Diskussionskultur und Minderheiten eintreten. Was bedeutet das für die verschiedenen Mitgliedkirchen der GEKE?

Es bedeutet vor allem, dass die Kirchen enorm gefordert sind. Sie sind ja Teil der Gesellschaften, in denen sie existieren. Allfällige Brüche, welche die Gesellschaften durchziehen, durchziehen in aller Regel auch die Kirchen selbst. Kirchen sind also darin gefordert, schon mal intern eine respektvolle Diskussionskultur zu fördern. Vielfalt als Reichtum zu betrachten, Anders-Sein als Einladung zur Selbstreflexion etc. Sie sollen gegenseitigen Respekt fördern, wertschätzenden Umgang, und gleichzeitig auch klare Kante gegenüber Intoleranz, Rassismus, Sexismus etc. zeigen.

Und wie beurteilen Sie die Aussagen mit Blick auf die Schweiz?

Für uns bedeutet es: Wir sollten nicht den Bedeutungsverlust der Volkskirchen bejammern. Wir sollten genau in der Weise Vorbild und Erprobungsraum lebendiger demokratischer Kultur der Vielfalt auf der Basis gemeinsamer Werte und gemeinsamen Glaubens sein. Genau darum geht es übrigens der GEKE seit ihrer Gründung auf dem Leuenberg vor 51 Jahren: Einheit in versöhnter Vielfalt.

Wie lief die Diskussion zur Stellungnahme in Sibiu ab?

Es war zunächst eine sehr erfreuliche und angeregte Diskussion in der Arbeitsgruppe, die die Schlusserklärung vorbereitete. Wir waren Delegierte aus Frankreich, der Schweiz, Deutschland und Polen, die sich nie zuvor begegnet waren. Und nach den ersten zehn Minuten waren wir im Gespräch, als ob wir uns schon lange gekannt hätten. Wir feilten an Formulierungen, nahmen Anregungen aus Workshops und dem Plenum entgegen und wogen ab, strichen und setzten wieder ein.

Das tönt nach einer tollen Atmosphäre.

Ja. Es waren wirklich inspirierende Stunden, manchmal auch in die Nacht hinein. Im Plenum wurde dann recht wenig diskutiert. Vielmehr brachten Delegierte Bemerkungen und Anregungen zu unseren Textentwürfen ein und wir versuchten sie zu gewichten und in Form zu bringen. Das führte dazu, dass die letzte Version dann ohne Diskussion mit grossem Mehr angenommen wurde.

Wie hat Ihnen die Vollversammlung in Sibiu insgesamt gefallen?

Es hat mir sehr gut gefallen. Die Vollversammlung war für uns als Schweizer Delegierte hervorragend vorbereitet vom EKS-Team. Das GEKE-Generalsekretariat in Wien und die Teams vor Ort, inklusive Stewards, leisteten ebenfalls ausgezeichnete Arbeit. Aus meiner Sicht klappte alles perfekt. Das Programm war sehr dicht, manchmal auch anstrengend und ermüdend. Aber die Art und Weise, wie Verhandlungen im Plenum, Arbeit in Kleingruppen sowie Andachten und gottesdienstliche Feiern einander ergänzten, war wirklich ein ganz tolles Erlebnis. Auch die wunderschön renovierte Evangelische Stadtkirche als Tagungsort – wie vor sechs Jahren das Basler Münster – trug dazu bei, dass dieses Miteinander von Verhandeln und Feiern funktionierte.

Was hat bei Ihnen einen bleibenden Eindruck hinterlassen?

Im Kopf – oder vielmehr im Herzen – bleiben mir die Erinnerungen an Begegnungen mit alten und neuen Freunden. Kirchengemeinschaft über ganz Europa, nicht nur als abstrakte Formel, sondern erlebbar: Lieder, die alle kennen. Wildfremde Menschen, mit denen man nach fünf Minuten im Gespräch über gemeinsame Bekannte ist. Vergleichbare Herausforderungen in verschiedensten Kirchen. Eine schwer zu beschreibende, «evangelische Kultur», die eine gemeinsame Basis schafft. Und last not least: Sibiu fünf Tage im strahlenden Sonnenschein. Strassenkaffees, grosszügige Flaniermeile, weitläufige Plätze, schön restaurierte Kirchen, eindrückliche Geschichte. Ich durfte eine wunderschöne, historische Stadt im wahrsten Sinne von ihrer Sonnenseite kennenlernen.

Das Interview wurde im September 2024 schriftlich geführt.

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Michèle Graf-Kaiser

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