Christliche Schweiz? Die Rolle der Kirchen in einer säkularen Gesellschaft 

Die Säkularisierungsthese

Bis vor etwa 20 Jahren schien die Frage geklärt. Man hatte eine Antwort gefunden: Religionen und Religionsgemeinschaften werden im Zuge der Modernisierung, der ökonomischen Entwicklung und des wirtschaftlichen Fortschritts verschwinden. Landeskirchen sind aus dieser Perspektive historisch gewachsene Überbleibsel, die auf dem Weg zu dieser fortschrittlichen, modernen und aufgeklärten Gesellschaft abgewickelt werden. Diese Idee, bekannt als „Säkularisierungsthese“ hat sich in den letzten 20 Jahren als falsch entpuppt. 

Instrumentalisierung des Religiösen

In diesen zwanzig Jahren haben die USA einen Krieg gegen die „Achse des Bösen“ aufgenommen. Die Türkei – einst ein leuchtendes Beispiel für einen säkularen Staat – wird seit zwanzig Jahren von Erdogan regiert, der seine Macht durch den Schulterschluss mit religiösen Führern absichert. In Brasilien, Ungarn oder Polen verbindet sich wahlweise eine protestantisch-fundamentalistische oder eine katholisch-reaktionäre mit einer nationalistischen Bewegung. Der letzte US-amerikanische Präsident hat am Marsch fürs Leben teilgenommen und auf Proteste der Black Lives Matter-Bewegung reagiert, indem er mit der Bibel in der Hand demonstrativ Entschlossenheit zur Schau stellte. Die Türkei, Polen, Ungarn, die USA oder Brasilien sind keine rückständigen Nationen, die die erlösende Aufklärung aus dem Westen verschlafen haben.

Der letzte US-amerikanische Präsident hat am Marsch fürs Leben teilgenommen und auf Proteste der Black Lives Matter-Bewegung reagiert, indem er mit der Bibel in der Hand demonstrativ Entschlossenheit zur Schau stellte.

Das würde auch niemand von Russland behaupten, wo wir eine direkte, sehr offensichtliche Instrumentalisierung und Vereinnahmung der Russisch-orthodoxen Kirche und ihres Oberhauptes durch den russischen Präsidenten erleben. Religion ist in diesen Tagen sehr lebendig. Nur ganz anders, als es uns lieb sein kann.
Ich erinnere an diese Entwicklungen nicht, um Sie, die Politikerinnen und Politiker, davon zu überzeugen, den Kirchen mehr Aufmerksamkeit schenken! Ich verweise darauf, weil die Ereignisse einen ganz wichtigen Hintergrund bilden, um über die Situation in der Schweiz nachzudenken und um den Weg, den unsere Gesellschaft gegangen ist, zu beurteilen.

Unkontrollierte Radikalisierung

Ein anderer Hintergrund findet sich im streng laizistischen Verhältnis zwischen Staat und Kirche unseres westlichen Nachbarn Frankreich. Nachdem sich der Staat aus dem Thema Religion verabschiedet hatte, hat sich diese unkontrolliert entwickelt und radikalisiert und scheint dieses Land so sehr zu bedrohen, dass umgekehrt die Islamophobie, die Beleidigung religiöser Gefühle oder eine rigorose negative Religionssymbol-Politik zur nationalen Identität geworden ist. Das französische Modell des säkularen Staates mag zwar strikt laizistisch sein. Aber die notorische religiöse Abstinenz des Staates wird bezahlt mit der gesellschaftlichen Desintegration derjenigen, die in den Banlieues leben und für die Religion (meist die muslimische) ein fester Bestandteil ihrer Identität ist. Religion ist in Frankreich gerade durch ihre institutionelle Zurückdrängung omnipräsent.

Religion ist in Frankreich gerade durch ihre institutionelle Zurückdrängung omnipräsent.

Diese Beispiele zeigen, dass die Stringenz, mit der ein politisches Programm verfolgt wird, nicht unbedingt mit den wünschenswerten politischen Folgen desselben übereinstimmen. Die Schweiz hat bekanntlich einen anderen Weg eingeschlagen: Weder jenen, der plumpen Vereinnahmung religiöser Autorität, wie wir es jüngst in Russland beobachten, noch jenen der sterilen Reinhaltung alles Staatlichen von Religion, wie in Frankreich. Und anders als in den USA, hat die Schweiz die Religionsfreiheit nicht vor allem als positives Recht auf freie Ausübung aller Religionen, sondern zuerst und vor allem als negatives Recht, das darin besteht, von religiösen Ansprüchen nicht behelligt zu werden, verstanden. 

Die öffentlich-rechtliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften 

Die Schweiz hat parallel zur sukzessiven Trennung von Kirche und Staat die öffentlich-rechtliche Anerkennung von Kirchen und Religionsgemeinschaften entwickelt. Die meisten Kantone haben die katholische, die reformierte und die christkatholische Kirche als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkannt. Einige Kantone anerkennen auch die Liberalen jüdischen Gemeinschaften öffentlich-rechtlich. Diese Körperschaften haben organisatorische und formale Auflagen einzuhalten und übernehmen im Gegenzug gesamtgesellschaftlich relevante Aufgaben. Von diesem partnerschaftlichen Verhältnis profitieren beide, Kirche und Staat. Die Landeskirchen dürfen Steuern erheben, Religionsunterricht erteilen und Seelsorge in öffentlichen Institutionen leisten und erhalten finanzielle Zuwendungen für ihre gesamtgesellschaftlichen Dienste. Dafür stehen sie unter staatlicher Aufsicht und sind gegenüber den Behörden rechenschaftspflichtig. Der Kanton Zürich prüft zurzeit, ob und allenfalls, wie er andere Religionsgemeinschaften, vorderhand die Orthodoxen und die Muslime, analog dazu einbinden kann. 

Aber die Kirchen sollten sich nicht auf ihren staatsförmigen Status, ihrer gesellschaftlich attestierten Compliance und ihrem Sozialkapital ausruhen.

Immer wieder gerät dieser schweizerische Weg politisch unter Druck. Besonders die Jungfreisinnigen, aber auch die JUSO rütteln mittels Initiativen auf kantonaler Ebene am Status der Landeskirchen. In zwanzig Kantonen erhalten die Landeskirchen für ihr Engagement zugunsten der Allgemeinheit auch Steuern von juristischen Personen. Bislang zeigen sich die Stimmberechtigten ganz zufrieden mit den kirchlichen Gegenleistungen, sodass sie diese Unternehmenssteuer nicht aufheben wollen.  

Aber die Kirchen sollten sich nicht auf ihren staatsförmigen Status, ihrer gesellschaftlich attestierten Compliance und ihrem Sozialkapital ausruhen. All das sind wichtige Errungenschaften. Es ist sehr gut, dass die reformierten Kirchen durch und durch demokratisch organisiert sind und geleitet werden. Und die Leistungen, die die Kirchen für die Gesamtgesellschaft erbringen, können sich sehen lassen. Aber das genügt nicht, um Kirche in einer säkularen Gesellschaft zu sein. Es sichert vielleicht für eine Weile die gesellschaftliche Anerkennung und den institutionellen Fortbestand. Aber eine Kirche erhält ihren Auftrag nicht durch einen Leistungsvertrag mit dem Kanton, sondern durch die Berufung der Menschen von Gott, die er zu seiner Kirche versammelt. Als blosse Dienstleistungsanbieterinnen sind Kirchen ersetzbar, wie jede menschliche Institution. Oder sie konkurriert als billiger Jakob, der durch Freiwilligenarbeit günstiger anbietet, was andere mit Lohn vergelten müssen. Demokratische Strukturen sind ein Mindeststandard, aber noch lange kein Grund, unter verfassungs- und menschenrechtlichen Artenschutz gestellt zu werden. 

Das kirchliche Selbstverständnis

Was ist also die Rolle der Kirche in unserer säkularen Gesellschaft? Natürlich kann ich nicht für unsere Schwesterkirchen oder die anderen Religionsgemeinschaften sprechen. Aber ich möchte Ihnen gerne skizzieren, wie ich das für die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz sehe. Ich spreche bewusst hier von der Evangelisch-reformierten Kirche, weil ich nicht für die anderen Konfessionen sprechen kann, das wäre übergriffig.

  • Die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz versammelt Personen, die sich zugleich und in vollem Sinn als Mitbürgerinnen und Mitbürger und als Christinnen und Christen verstehen. Sie stehen in ihrer Kirche nicht dem Staat gegenüber, sondern sind Teil der Zivilgesellschaft und gestalten aus ihrem christlichen Selbstverständnis Politik über die demokratischen Verfahren mit.

  • Christinnen und Christen sind aufgerufen, in jeder Situation nach Gottes Gerechtigkeit und Gottes Anspruch auf und an uns Menschen zu fragen. Mitglieder der EKS tun dies, indem sie sich in die politischen Prozesse unseres liberalen Rechtsstaates einbringen.

  • Als EKS sind wir mit der Politik nicht durch eine tagespolitische Agenda verbunden. Unsere Mitglieder bilden das gesamte Spektrum der Parteienlandschaft ab. Innerhalb der Kirche unterstellen wir uns wechselseitig, dass auch jene, welche nicht unsere eigene politischen Positionen und Haltungen teilen, „der Stadt bestes“ suchen.

  • Als EKS sind wir wachsam, wenn menschliche Ideen und Ziele – und seien sie noch so sinnvoll und hilfreich – religiös instrumentalisiert werden. Wir sind Kirche im säkularen Staat, nicht Kirche des säkularen Staates.

  • Innerhalb unserer eigenen Geschichte als evangelisch-reformierte Kirchen haben wir gelernt, den weltanschaulichen Pluralismus und die liberale Demokratie aus eigenen Gründen nicht nur hinzunehmen, sondern wertzuschätzen. Gerade als Protestantinnen wissen wir, dass wir nicht die ganze Wahrheit kennen, uns auch irren können. Pluralismus ist nicht bedrohlich sondern der Motor der Weiterentwicklung. So bringen wir uns auch in den politischen Prozess ein und bereichern ihn.  

Natürlich fühlen wir uns als Kirche auch mitverantwortlich, christliche Werte in die Gesellschaft einzubringen. Durch das, was wir seelsorglich und diakonisch tun und leben und durch das, was wir predigen und lehren. Zu den Werten wie Menschenwürde, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Nächstenliebe wollen wir Sorge tragen. Das heisst aber auch: Wir achten darauf, dass sie nicht populistisch, zur Ausgrenzung anderer Menschen, Kulturen oder Religionen verwendet werden. Auf diese Werte gibt es kein Monopol, sie gelten universal. Sie bilden zusammen eine universalistische Moral.

Wir achten darauf, dass sie nicht populistisch, zur Ausgrenzung anderer Menschen, Kulturen oder Religionen verwendet werden. Auf diese Werte gibt es kein Monopol, sie gelten universal. Sie bilden zusammen eine universalistische Moral.

Diesen Universalismus gibt es in christlichen Motiven – wenn sie an bestimmte Interpretationen der Gottebenbildlichkeit oder die Goldene Regel der Gegenseitigkeit denken –, aber auch in philosophischer Form, etwa dem Kategorischen Imperativ. Als evangelisch-reformierte Kirche unterstützen wir all jene Motive, Geschichten, Intuitionen und Weisheiten, die darauf abzielen, die einzelne Person in ihrer Verantwortung gegenüber allen anderen, als Teil einer Menschheit, zu denken, zu erleben und zu reflektieren. Christliche Werte, wie die Achtung des Nächsten oder die Gebote aus dem Dekalog, teilen die meisten Menschen auch ohne jüdischen oder christlichen Glauben.  

Darum ist auch aus christlicher Sicht der religiöse und weltanschauliche Pluralismus zu begrüssen, in dem wir all das an Motiven und Motivationen zusammentragen können, was Menschen hilft, sich gegeneinander menschenfreundlich, sozial, gerecht und respektvoll zu verhalten.

Darum ist auch aus christlicher Sicht der religiöse und weltanschauliche Pluralismus zu begrüssen, in dem wir all das an Motiven und Motivationen zusammentragen können, was Menschen hilft, sich gegeneinander menschenfreundlich, sozial, gerecht und respektvoll zu verhalten. Es gibt dafür gute islamische, jüdische, humanistische und christliche Ressourcen. Das Beste ist: Keiner hat ein Copyright darauf. Wir können alle humanitären Bilder und Intuitionen aufnehmen und in die Welt tragen. 

Wie in den USA soll die Religion auch in unserer säkularen Gesellschaft politisch sein. Aber nicht in der Form institutioneller Macht, sondern durch mündige Personen, die sich als Bürgerinnen und Bürger mit den besten Motiven, die sie haben, einbringen.  Wie in Frankreich sollen wir darauf achten, dass sich die Kirche nicht in das öffentliche Leben der Menschen einmischt. Aber nicht durch kategorische Eliminierung, sondern durch einen starken liberalen Rechtsstaat. Und anders als in Polen, Ungarn oder gar Russland gelingt das am besten, wenn es starke Kirchen gibt, die sich vom Staat nicht vereinnahmen lassen. Landeskirchen sind kein historisches Relikt, sondern eine unverzichtbares Ingredienz in einer starken säkularen Gesellschaft. 

Ausblick

Die Kantone stellen sich dieser Aufgabe in vorbildlicher Weise. Trotzdem sehe ich darüber hinaus einen Handlungsbedarf auf auch auf nationaler Ebene. Ich denke dabei nicht an traditionsreiche Folklore und Sonntagsreden, sondern an einen strukturell integrierten Zuständigkeitsbereich in der Bundesverwaltung. Dass selbst das laizistische politische System in Frankreich – vor allem in Folge der in den 1980er Jahren aufkommenden Kopftuchkontroverse – den inneren religiösen Frieden als nationale Staatsaufgabe betrachtet hat, sollte zu denken geben. Wir müssen ja nicht erst warten, bis die Probleme derart eskalieren, wie in unserem Nachbarland. 

Hinzu kommt ein anderer, weitaus gravierender Aspekt. Der Anspruch auf religionspolitische Abstinenz auf nationaler Ebene deckt sich nicht mit der politischen Wirklichkeit: Wir haben ein Bauverbot für Minarette in der Bundesverfassung genau an der Stelle, an der vor der Totalrevision der Jesuitenartikel stand. Die politische Diskussion über ein Kopftuchverbot ging glücklicherweise glimpflicher aus. Auch weniger spektakulär, dafür aber sehr viel folgenreicher greift der Gesetzgeber auf nationaler Ebene regulierend in die Religionsfreiheit ein. Ich erwähne nur drei aktuelle Beispiele: die Vernehmlassungsverfahren zur Änderung des Bundesgesetzes über den Nachrichtendienst vom September 2022, zur Änderung des Asylgesetzes vom 25. Januar 2023 und zur Änderung des Zivilgesetzbuches vom 22. Februar 2023. In allen drei Gesetzentwürfen wird in teilweise massiver Weise entweder in das Berufsgeheimnis von Pfarrpersonen und kirchlichen Seelsorgenden eingegriffen oder genuin kirchliche Aufgaben für staatliche Zwecke instrumentalisiert. Ich unterstelle dem Gesetzgeber keine bösen Absichten, aber erkenne einen Mangel an religiöser Kompetenz und Sensibilität, der zu für die Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht akzeptablen Vorschlägen und Entscheidungen führt. Politik leistet damit einen Bärendienst für das gemeinsame Ziel, den Frieden in einer religiös pluralen Gesellschaft zu stärken und die religiösen Ressourcen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu nutzen.

Das friedliche Zusammenleben ist eine Errungenschaft, die mühsam erkämpft wurde und die aktiv bewahrt und unter sich ständig verändernden gesellschaftlichen Entwicklungen kontinuierlich weiterentwickelt werden muss.

Der Religionsfriede und das gute Zusammenleben zwischen Menschen mit unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sind keine Selbstverständlichkeit. Das bestätigt ein Blick in unsere eigene Geschichte – Kulturkampf – und über unsere Landesgrenze hinaus. Das friedliche Zusammenleben ist eine Errungenschaft, die mühsam erkämpft wurde und die aktiv bewahrt und unter sich ständig verändernden gesellschaftlichen Entwicklungen kontinuierlich weiterentwickelt werden muss.

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Rita Famos

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