Cultural Witness: Wie Gott in die Welt kommt

In einer zunehmend pluralistischen Welt stehen Christen vor der Herausforderung, ihren Glauben authentisch und wirkungsvoll zu leben und zu bezeugen. Die zehnten Freiburger Studientage widmeten sich diesem wichtigen Thema unter dem Titel «Cultural Witness»: Das christliche Zeugnis in einer pluralen Welt. Mit Graham Tomlin, einem anglikanischen Bischof und Theologen, war ein zentraler und charismatischer Vertreter dieses Konzepts während der gesamten Tagung anwesend. Das Zentrum Glaube & Gesellschaft der Universität Fribourg beeindruckte erneut mit einem internationalen, interdisziplinären und ökumenischen Line-up, das eine inspirierende Atmosphäre schuf, in der vielfältige Stimmen harmonisch zusammenwirkten. Im Rahmen der Tagung wurde die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis in der Kommunikation des Glaubens unterschiedlich diskutiert. Der folgende Artikel beleuchtet ein zentrales Thema der Diskussionen und bietet tiefere Einblicke in das Konzept des Cultural Witness.

Was meint Cultural Witness?

Der Begriff «Cultural Witness» bezieht sich weniger auf einen konkreten Inhalt, als auf die Art und Weise, wie Christen ihren Glauben in der Gesellschaft leben und ausdrücken. Es geht darum, das Evangelium und christliche Werte in der Kultur sichtbar und wirksam zu machen. Dies geschieht durch das Zeugnis des Lebens, der Taten und der Worte von Christen in ihrem täglichen Umfeld.

Anders als das mit ihr verwandte Konzept der «Öffentlichen Theologie», setzt «Cultural Witness» nicht bei der institutionellen Rolle der Kirche(n) in der Gesellschaft an, sondern bei den individuellen Möglichkeiten und Berufungen der Christinnen und Christen. Sie sollen ihre Botschaft so vermitteln, dass sie für die aktuelle Kultur relevant ist. Dies erfordert ein Verständnis der kulturellen Kontexte und die Fähigkeit, das Evangelium auf eine Weise zu präsentieren, die die Menschen in ihrer spezifischen Lebenssituation anspricht. Grundsätzlich kann das ganze Leben eines Menschen von Gottes Liebe zeugen. Christinnen und Christen sollen aktiv an der Gesellschaft teilnehmen und sich in verschiedenen Bereichen wie Bildung, Kunst, Politik und Wirtschaft engagieren. Sie sollen ihre Werte und Überzeugungen in diesen Bereichen einbringen und dadurch einen positiven Einfluss ausüben. Neben Worten ist auch der Dienst an anderen ein wichtiger Teil des kulturellen Zeugnisses. Dies kann durch soziale Gerechtigkeit, Hilfe für Bedürftige und Einsatz für Menschenrechte geschehen. Die Taten sollen die Botschaft des Evangeliums unterstützen und sichtbar machen.

Ein Geschenk?

Man kann «Cultural Witness» nun auf zweifache Weise verstehen. Corinna Schubert hat für diese beiden Weisen in ihrem Referat das Bild eines Geschenks benutzt. Das Evangelium kann einerseits als etwas begriffen werden, das Menschen anderen Menschen wie ein Geschenk anbieten. Sie können es annehmen oder ablehnen. Die Herausforderung für das kulturelle Zeugnis bestünde dann darin, eine möglichst attraktive Verpackung zu finden und das Geschenk freundlich an die Frau und an den Mann zu bringen. Wirklich interessant wird das Konzept aber in der zweiten Lesart: Dort ist das Evangelium, das es zu bezeugen gilt, nicht etwas, das eingeweihte Menschen noch nicht eingeweihten Menschen bringen können, sondern eine Wirklichkeit, die uns alle umfasst und innerhalb derer Menschen auf das hinweisen und zeigen können, was ihnen Hoffnung, Liebe, Sinn und Bedeutung gibt.

Diese Bedeutung, diesen Sinn gibt es dann nicht ausserhalb derjenigen Menschen, die ergriffen sind von Gottes Liebe und das Evangelium ist deshalb auch keine Wahrheit im Kontrast zu der Wirklichkeit der Welt, sondern die Wirklichkeit, aus der wir in Wahrheit gemeinsam leben. Das Evangelium ist selbst wesentlich beziehungsförmig. Es ist ein Beziehungsangebot.

Theorie und Praxis

Der Künstler Michael Triegel hat in seinem Interview von einer Sehnsucht, glauben zu können, erzählt, die Esther Maria Magnis in ihrem Buch «Gott braucht dich nicht» so nachvollziehbar beschreibt. Triegel, damals noch Atheist, spürte einen Wunsch auch glauben zu können. Er hat beschrieben, wie erleichternd er darüber gewesen sei, dass der christliche Glaube nicht im Widerspruch zu der Vernunft stehe. Aber auch, dass diese Einsicht ihn nicht zum Glauben gebracht habe. Rückblickend hat dies vielleicht die Schwelle dafür gesenkt, selbst mitzubeten, zu knien, sich zu öffnen. Diese Beschreibung passt sehr gut zu der Einsicht, die Graham Tomlin im Anschluss an Blaise Pascal formulierte. Dessen berühmte Pascalsche Wette steht nämlich gar nicht dafür, den Zweifel rational zu überwinden, sondern im Gegenteil aufzuweisen, dass der Entschluss, nicht zu glauben, nicht rational motiviert sei. Kurzum: Glaube oder Unglaube entscheidet sich nicht im Gespräch oder im Nachdenken, sondern in der religiösen Praxis, dem Gebet, dem Rosenkranz, dem Abendmahl, dem Gesang – also in Formen, in die man sich einleben, die man bewohnen kann und an die man sich gewöhnen lernt.

Ich glaube, Pascal hatte recht. Die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses liegt jedenfalls auch für mich nicht im intellektuellen Glanz der Theologie und auch nicht in den vielen guten Dingen, die Menschen, motiviert durch ihren Glauben, leisten. Ich will den christlichen Zeuginnen und Zeugen glauben, wenn ich mit ihnen zusammen das «Unser Vater» bete. In der Kraft dieser Form und Sprache verdienen die Hoffnung auf Gottes Reich, die Sehnsucht nach Erlösung von dem Bösen, der Gedanke an die Ewigkeit mein Vertrauen.

Digital oder analog

Folgende Frage ist mittlerweile überall – und so auch an der Tagung – zu einem festen Diskussionsgegenstand geworden: Was lässt sich digitalisieren und was funktioniert nur analog. Man outet sich rasch als Dinosaurier, wenn man von irgendeiner Praxis behauptet, dass sie sich nicht digitalisieren, nicht innerhalb Sozialer Medien erleben lasse. Ich halte das für Quatsch. Das wirklich Grossartige und Gute im Leben von uns Menschen gibt es digital nur als Erinnerung oder Kopie. Es muss erlebt, sinnlich geteilt und erfahren werden: Sex, Essen, Sport, Wein, Schmerz, Gebet und Gemeinschaft. Alle sind noch in ihrer digitalen Form besser als gar nichts – Pornografie, Kochshows, Insta-live-Andachten – aber sie sind zu wenig. Pascals Wette kann man digitalisieren. Spiritualität nicht. #duckundweg

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Stephan Jütte

Dr. theol.

Leiter Theologie und Ethik
Mitglied der Geschäftsleitung

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