Über das komplexe Verhältnis von Schuld, Ordnung und Strafe
«I feel guilt, I feel guilt,
Though I know I've done no wrong I feel guilt.»
Marianne Faithfull
Am 31. Mai 2024 hat das KTE in Kooperation mit dem Verein für Gefängnisseelsorge und der Paulus-Akademie die Tagung «Schuld und Strafe» durchgeführt. Das komplexe und anspruchsvolle Thema wurde auf drei Panels – 1. Ohne Schuldnorm keine Strafe/ – ohne Strafnorm keine Schuld? 2. Gerechtigkeit mit und ohne Strafe und 3. Schuld und Entschuldigung – aus literaturwissenschaftlicher, ethischer, sozialwissenschaftlicher, theologischer und ethischer Perspektive diskutiert. Die Beiträge sind auf den Homepages des KTE, des Vereins für Gefängnisseelsorge und der Paulus-Akademie zugänglich. Die folgenden Überlegungen nehmen die Tagungsbeiträge zum Anlass für einige Differenzierungen und Hinweise für eine Strukturierung der heterogenen Diskurse.
«Schuld» und «Strafe» gehören in philosophischen, theologischen, rechtlichen und ethischen Kontexten zu den fundamentalen Kategorien für das Nachdenken über die Schattenseiten menschlicher Existenz. Wo die Freiheit und das Recht, das Gute und die Gerechtigkeit bedroht sind, gebrochen oder missachtet werden, kommen die beiden ordnenden Schwestern Schuld und Strafe ins Spiel. Wo die eine auftaucht, ist die andere nicht fern. Schuld und Strafe setzen allgemein verbindliche normative Massstäbe sozialer, politischer und metaphysischer Ordnungen voraus, die mit ihrer Hilfe durchgesetzt, geschützt, verteidigt und wiederhergestellt werden. In rechtlichen Zusammenhängen bilden die Strafverfolgung, Schuldfeststellung und Strafsanktion die Gewaltmittel, mit denen die Staatsgewalt gegen gewaltsame Angriffe auf ihre Ordnungen und Gesetze vorgeht. Wenn eine Straftat vor Gericht kommt und verhandelt wird, begegnen stets mindestens zwei Opfer: Das physische oder persönlich geschädigte Opfer und der Staat, dessen Recht und Ordnung gebrochen und verletzt wurden. In einem ordentlichen Gerichtsverfahren tritt der Staat (Staatsanwaltschaft) als Kläger auf und nicht das Verbrechensopfer (allenfalls als Nebenkläger:in). Das Gericht hat die Schuld der oder des Angeklagten gegenüber dem Staat festzustellen und zu beurteilen. Nur in dieser vermittelten Form kommt die Schuld gegenüber dem oder den Verbrechensopfern ins Spiel. Dahinter steht der Grundsatz, dass sowohl das Verbrechen als auch die Vergeltung dem Recht unterworfen sein müssen. Das Recht zielt auf das Rechte und nicht das Gute und tritt deshalb für die Geltung des Rechts und nicht für die Solidarität mit dem konkreten Opfer ein.
Die moralische Selbstzurücknahme ist nicht nur der Unbefangenheit des richterlichen Urteils, sondern auch der Autonomie der Person geschuldet, die das Recht und seine Anwendung dazu nötigt, ausschliesslich die der Person äusserlichen Sachverhalte und Angelegenheiten zum Gegenstand des Urteils zu machen und sich Sanktionen im Blick auf das Innere der Person kategorisch zu enthalten. Der Respekt gegenüber und der Schutz der Autonomie der Person gilt genauso für das staatliche Strafen. Über den Strafzweck (absolute Straftheorien: Vergeltung, Sühne, Herstellung von Gerechtigkeit und relative Straftheorien: Spezial- und Generalprävention) kann gestritten werden, aber nicht über die Grenze des Strafens, das vor Eingriffen in die Integrität der Person und vor jedem Versuch, verurteilte Straftäter:innen zu besseren Menschen machen, haltmacht. Das Übel der Strafe zielt auf Übelvermeidung und nicht auf das Gute.
Die Stärke des Rechts ist zugleich seine Schwäche. Indem es die konkrete Person auf rechtlich definierte Aspekte reduziert, ihr Handeln typologisiert (Straftat) und ihre kognitiven, emotionalen und volitiven Zustände codiert (Zurechnungsfähigkeit etc.), bestreitet es nicht die Gefühle, Emotionen, Affekte, Ängste, Traumata, Empörung, Solidarität und Ohnmacht, die mit Gewalttaten verbunden sind. Aber ihre Relevanz unterliegt, um der Objektivität der Beurteilung willen, strengen Prüfkriterien. Häufig kollidiert diese Zurückhaltung mit den moralischen Intuitionen und den gesellschaftlichen Sympathie- und Solidaritätsverteilungen und wird deshalb als Ungerechtigkeit erlebt und wahrgenommen. Besonders in besonders aufwühlenden Fällen tendieren gesellschaftliche Empörung, Affekte und Intuitionen zum alten arithmetischen Talionsprinzip, nach dem die Strafe der Tat entsprechen muss: «Entsteht aber weiterer Schaden, sollst du Leben für Leben geben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuss für Fuss, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme.» (Ex 21, 23–25) Faktisch handelte bereits Gott selbst gegen den Grundsatz, als er, nachdem er der Ermordung Abels durch seinen Bruder Kain tatenlos zugesehen hatte, alles unternahm, um Kain vor der Rache zu schützen und die Vergeltungsspirale zu durchbrechen. Damit wird die Einsicht vorweggenommen, dass die Sühnung einer Straftat durch Übelzufügung das Tatübel weder ungeschehen machen noch die Schädigung, Demütigung, Verletzung und Traumatisierung des Tatopfers beseitigen, ausgleichen, kompensieren oder heilen kann. Aus der Perspektive der Person gibt es keine gemeinsame Währung, mit der ein erlittenes Übel mit einem vergeltend oder kompensierend zugefügten Übel verrechnet werden könnte. Vielmehr bleibt Unabgeltbares und Unabgegoltenes, die weder durch Rache oder Selbstjustiz noch durch Recht und Strafe aus der Welt geschafft werden können.
An diese Erkenntnis schliessen die moralischen Kategorien der Entschuldigung, des Verzeihens, der Vergebung und Versöhnung an. Sie zielen aus der Perspektive der Person in der Komplexität ihrer anthropologischen, sozialen und psychischen Konstitution und angesichts der Ambivalenzen real gelebter Freiheits-, Abhängigkeits- und Verantwortungsverhältnisse auf eine Ergänzung oder Überwindung einer legalistischen Straflogik. Gegenüber dem Recht sind Entschuldigen, Verzeihen, Vergeben und Versöhnen subversive Praktiken. Beide Perspektiven verhalten sich zueinander wie die göttliche Konfliktbearbeitung des typologischen Brudermords zu Hilde Domins umstürzender Aufforderung: «Abel steh auf / Es muss neu gespielt werden / Täglich muss es neu gespielt werden / täglich muss die Antwort noch vor uns sein [...] Abel steh auf / damit es anders anfängt / zwischen uns allen». Die Korrelation der Perspektiven begegnet im XIX. Buch von Augustinus’ epochalem Werk De civitate Dei (410). Dort rückt er die Gerechtigkeit (iustitia) in den grösseren Zusammenhang eines umfassenden Friedens (pax), einen Frieden, der von der körperlichen Physiologie im gesunden Körper, über die gelingende und blühende soziale Gemeinschaft und die gerechten staatlichen Ordnungen, bis hin zur Versöhnung Gottes mit der gesamten Schöpfung und aller Geschöpfe untereinander reicht. Wie im biblischen Friedensgruss shalom bzw. eirene können sich Menschen endgültige Aus- und Versöhnung nur gegenseitig wünschen und gemeinsam anstreben. Das Ziel hat die Apokalyptik vor Augen: «Und abwischen wird er jede Träne von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, und kein Leid, kein Geschrei und keine Mühsal wird mehr sein; denn was zuerst war, ist vergangen.» (Offb 21,4) Zweifellos ist eine eschatologische Perspektive weit von den alltäglichen Praktiken der Konfliktlösung und -überwindung entfernt. Aber das Hinausgehen über Übel androhende und zufügende Abschreckungs-, Präventions- und Eindämmungsstrategien von «grösseren» Übeln braucht utopische Gehalte, weil es ein unkalkulierbares Wagnis darstellt, das alle Kalküle rationaler Risikoabwägung und Sicherheitsarithmetik in den Wind schlägt. Strafe und Schuldausgleich auf der einen Seite und Entschuldigen, Verzeihen, Vergeben und Versöhnung auf der anderen Seite sind gegenläufige Formen des Umgangs mit Übeln, die sich darin unterscheiden, ob sie selbst auf regelbasierte, kontrollierte Übelzufügung zurückgreifen oder dieses Mittel grundsätzlich verwerfen.
Bei allen Unterschieden weisen Entschuldigen, Verzeihen und Vergeben Strukturähnlichkeiten auf: (1.) Sie sind hoch riskant, weil sie sich auf keine Erwartungssicherheit und kein sanktionsbewehrtes Regelsystem stützen können. (2.) Sie beruhen auf einer Subjektumkehrung, weil solche Praktiken zwar von den Täter:innen angestossen werden können und müssen, aber das Gelingen von den Möglichkeiten, Fähigkeiten und der Bereitschaft der enttäuschten, misstrauischen, geschädigten, verletzten und traumatisierten Opfer abhängt. (3.) Aus der Perspektive der Opfer gibt es keine rationalen Gründe, sich auf die Praktiken einzulassen. (4.) Für die Täter:innen bedeuten diese Praktiken, sich über die äussere staatliche Strafverbüssung hinaus mit der gesamten Person und vor der Person des Opfers dem begangenen Übel zu stellen. (5.) Praktiken des Entschuldigens, Verzeihens und Vergebens müssen mit dem Paradox klarkommen, dass sie ein Vertrauen voraussetzen müssen, das beide Seiten weder haben noch schenken können. (6.) Die Begegnung verlangt eine Schutzlosigkeit, die im krassen Gegensatz steht zu der Begegnungsgeschichte, die konstituiert wird durch die Ohnmacht der Opfer und den Machtmissbrauch der Täter:innen. Und (7.) Beide Seiten müssen den Mut aufbringen, dass die tägliche Antwort noch vor ihnen ist. «Jedesmal wenn das Vergeben im Dienste des Zweckes steht, sei er auch ehrsam und rein geistig (Freikaufen oder Erlösen, Versöhnung, Heil), jedesmal wenn es versucht, eine Normalität wiederherzustellen (eine soziale, nationale, politische, psychologische), und zwar durch eine Trauerarbeit, durch irgendeine Therapie oder Ökologie des Gedächtnisses, dann ist die ‹Vergebung› nicht rein – noch ist es ihr Begriff. Die Vergebung ist, sie sollte weder normal noch normativ oder normalisierend sein. Sie sollte Ausnahme und aussergewöhnlich bleiben, als Erprobung des Unmöglichen: als ob der gewöhnliche Lauf der historischen Zeitlichkeit unterbrochen würde.» Das Entschuldigen, Verzeihen und Vergeben muss auch deshalb die Ausnahme sein, die die normativen Weltverhältnisse aus den Angeln hebt, damit die Gerechtigkeit gegenüber den Opfern die unangefochtene vorrangige ethische und rechtliche Verpflichtung ist und bleibt.
Der deutschsprachige Ausdruck «Entschuldigung» verrät seine kaufmännische Herkunft. Eine Schuld ist ein «Soll» oder ein «Sollen», mit dem eine Schuldverpflichtung bzw. ein Anspruch Dritter verbunden ist, die erfüllt oder der in anderer Weise ausgeglichen werden muss. Alltagssprachlich funktioniert der Schuldbegriff sehr konfliktträchtig aber unkontrovers. Drei Grundbedeutungen können unterschieden werden: 1. Mit der Behauptung «Du bist schuld» wird eine Person für einen negativ konnotierten Sachverhalt oder Zustand verantwortlich gemacht. Schuld bezieht sich hier auf ein verursachendes Handeln (das Verschuldete). 2. Mit der Forderung «Das bist du mir schuldig» wird auf die Verpflichtung einer anderen gegenüber der eigenen Person verwiesen (das Geschuldete). 3. Mit der Feststellung «Das ist deine Schuld» wird auf die moralische Verfehlung einer Person hingewiesen, die falsch oder schlecht gehandelt hat und nun für die Konsequenzen einstehen muss (die Schuld). Alle drei Äusserungen können von der äussernden Person begründet und von der angesprochenen Person bestritten werden. Im Fall 1 geht es (a) entweder um die Beschreibung eines Handlungszusammenhangs (die Handlung X verursachte die Handlungsfolge Y) oder (b) um die Klärung der Zurechenbarkeit einer unerwünschten Handlungsfolge (die Person Z ist verantwortlich für die Handlungsfolge Y), im Fall 2 um die Erfüllung einer gegenseitigen Verpflichtung (Vertrag, Absprache, Deal, Versprechen) und im Fall 3 um die sittliche Verfehlung oder das moralische Versagen der Person, unabhängig von der Folgen und Auswirkungen für andere (Person Z muss für die Handlungsfolge Y moralisch einstehen). Abgesehen vom deskriptiven Fall 1a geht es um ein normatives Urteil über (1) die Verantwortlichkeit, (2) das Pflichtbewusstsein oder die Pflichtverletzung und (3) das moralische Vergehen der Person. Im Fall 3 können die moralischen Massstäbe und ethischen Prinzipien der urteilenden und beurteilten Person voneinander abweichen. Die Fälle 1 und 2 setzen einen intersubjektiven (konventionellen, sozial normierten) Schuldbegriff voraus, der ausgehandelt werden kann. Schuld in diesem Sinn besteht gegenüber einem wechselseitig anerkannten und geteilten Set sozialer Normen, dem entsprochen und von dem schuldhaft abgewichen werden kann. Nur unter dieser Bedingung ist der schädigenden und geschädigten Person klar, welche wechselseitigen Erwartungen enttäuscht wurden und wie die gestörte soziale Erwartungssicherheit wiederhergestellt werden kann. Im Fall 3 geht es um eine Schuldkategorie, die wesentlich das normativ konnotierte Selbstverhältnis und Selbstbild der Person betrifft.
Für den Volksmund folgt die Strafe auf dem Fuss. Offensichtlich ist die Einsicht so selbstverständlich, dass sich die Frage nach dem «Worauf?» erübrigt. Die Redensart lässt zwei Deutungen zu: Ein indikativisches Verständnis behauptet eine Art «schicksalwirkende Tatsphäre» (Klaus Koch) oder konnektive Gerechtigkeit (Bernd Janowski), die im Alten Testament und seiner Umwelt begegnen, und nach denen ein Tun untrennbar mit einem korrespondierenden Ergehen verbunden ist (Tun-Ergehen-Zusammenhang). Unterstellt wird ein magischer, ontologischer oder sozialer Automatismus, durch den die Tat auf den/die Täter:in selbst zurückfällt. Ein gutes Handeln an anderen befördert das eigene Wohlergehen. Umgekehrt bewirkt ein unrechtes und ungerechtes Handeln das eigene Unglück: «Wer Rechtschaffene irreführt auf einen bösen Weg, fällt in seine eigene Grube, die Schuldlosen aber werden Glück erlangen.» (Spr 28,10) «Denn meine Vergehen kommen über mein Haupt, sie erdrücken mich wie eine schwere Last. Weine Wunden stinken und eitern wegen meiner Torheit.» (Ps 38,5f.) Im Volksmund: «Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.»
Alternativ kann die Rede von der Strafe, die auf dem Fuss folgt, auch normativ verstanden werden, nach dem anderen Motto «Wer nicht hören will, muss fühlen». Mit dem Ausspruch wird die Bestrafung beim Übertreten von Verboten gerechtfertigt (die zwar gehört, aber nicht befolgt werden). Im ersten Fall wird ein Leiden oder Unglück als Wirkung eines Vergehens gedeutet, im zweiten Fall eine Strafe mit einem geahndeten schuldhaften Handeln begründet. Die Deutung im ersten Fall kommt ohne feststellende, urteilende und sanktionierende Instanzen und Verfahren aus. Die Wirkung tritt von selbst, ohne eine erkennbare Aktivität ein. Die Begründung im zweiten Fall setzt ein gemeinsames normatives Wissen voraus, das in Form von Geboten und Verboten, sozialen Normen und staatlichen Gesetzen gelehrt, gelernt, befolgt oder unterlaufen werden kann. Das Strafleiden und -unglück ist vollständig durch den normativen Massstab (Moralkodex, Gesetz), die Urteilsinstanz, das Urteilsverfahren, den Urteilsspruch und die Sanktionsinstanz bestimmt. «Strafe» ist im ersten Fall Pathos (zu der sich die unterstellte Schuld symptomatisch verhält), im zweiten Fall das Ergebnis eines konstitutiven und regulierten Verfahrens (in dem einer erwiesenen Schuld tragende Bedeutung zukommt).
Antike Vorstellungen von einer Schuld- und Strafmagie sind auch heute noch überraschend attraktiv. Vor allem gesundheitliche, familiäre und sozioökonomische Unglücke und Schicksalsschläge werden als Strafe und – religiös oder psychologisch gewendet – als Aufruf zur Metanoia , als das gesamte Leben erschütternder Ruf zur Umkehr (aus schuldverstrickten Lebenssituationen) gedeutet oder erklärt. Eine ermässigte Variante des sich selbst erfüllenden Strafdogmas begegnet im liberal-kapitalistischen Verdienstgedanken «jede Person ist ihres eigenen Glückes Schmied». Dort reimen sich Schuld auf «ökonomisches Versagen» und Strafe auf «Erfolglosigkeit» und «sozialen Abstieg». Fatal sind solche Deutungen, wenn sie sich in pathologischer Weise gegen die eigene Person richten oder wenn sie als Urteil Dritter zum Anlass für moralische und soziale Ächtung werden. Ein ideologisches Schulddogma steht schliesslich hinter der – als «naturgegebenen» behaupteten – Diskriminierung von Personen und Gruppen aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Identität und umgekehrt die Immunisierung von Personen und Gruppen aus einer – «von Natur aus» behaupteten – Überlegenheitsposition heraus, die sich ebenfalls auf bestimmte Merkmale von Personen und Gruppen oder deren sozialen, sozioökonomischen oder politischen Status beruft.
Schuld als Ursache für ein Übel muss unterschieden werden von Schuld als Grund für ein Strafübel, weil Schuld und Strafe in völlig verschiedener Weise aufeinander bezogen werden. Das Übel aufgrund einer Bestrafung folgt aus der gerichtlich festgestellten Schuld, die den Grund für die staatliche Sanktion (einer Gesetzesübertretung) darstellt. Davon ist die Vorstellung von der schicksalwirkenden Schuld in doppelter Weise unterschieden: Ihr fehlt (1.) das strafende Subjekt, dafür wird (2.) eine normative Relation ergänzt:
(1.) Eine Krankheit, der Verlust der Familie und der sozioökonomische Abstieg (der gesamte Spieleinsatz Gottes bei seiner Wette mit dem Teufel über Hiobs Glaubenstreue) sind Tatsachen, die durch bestimmte Umstände und Verhaltensweisen verursacht sind und erklärt werden können: durch Kriege, Hungersnöte, Naturkatastrophen, prekäre politische, soziale oder Familienverhältnisse, persönliches Fehlverhalten etc. Ausgeschlossen ist dagegen, das Übel, das ein Gewaltopfer erlitten hat, mit einer Schuld des Opfers zu begründen. Die Unmöglichkeit gehört zu den fundamentalen Errungenschaften des neuzeitlichen Denkens, das ein antikes Naturrechtsdenken (Eudaimonia als Naturtelos) durch den freien Willen und die Autonomie der Person (Würde) ersetzt hat. Erschien in biblischen Zeiten Gottes kollektive Vernichtung der Bevölkerung von Sodom und Gomorra (Gen 18) durch eine Naturkatastrophe (Feuer und Schwefel) noch akzeptabel – allerdings schon damals begleitet von heftigen Interventionen Abrahams (s. u.) –, liess ihm das neuzeitliche Denken das Erdbeben von Lissabon (1755) nicht mehr durchgehen. Nun standen nicht mehr die menschliche Moralität, sondern umgekehrt die göttliche Allmacht, Güte und Gerechtigkeit auf dem Spiel. Die einige Jahrzehnte zuvor erschienenen Versuche von Gottfried Wilhelm Leibniz (Theodizee, 1710 und Monadologie,1714/1720), die Prädikate Gottes und die Schöpfung als beste aller möglichen Welten angesichts der Übel in der Welt zu verteidigen, gingen in den Trümmern und im Feuer der portugiesischen Metropole unter und zogen den beissenden Spott und die vernichtende Kritik von Voltaire, Kant und anderen nach sich. Mit einer metaphysischen Schuld lässt sich seither keine Politik mehr machen, zumindest nicht mehr politiktheoretisch und rechtsstaatlich legal und auch keine kirchlichen oder theologischen Machtansprüche begründen.
(2.) Genau genommen hatte bereits Jesus die Vorstellung eines selbstwirksamen Schuldmechanismus aus empirischen Gründen abgelehnt: «Oder jene achtzehn, auf die der Turm am Teich Schiloah stürzte und sie tötete, meint ihr, sie seien schuldiger gewesen als alle anderen Bewohner Jerusalems? (Lk 13,4) Und Gott «lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte» (Mt 5,45). Kein Treibriemen verbindet die auf eine Person einwirkende Gewalt mit ihrer personalen Integrität und ihrer moralischen Haltung. Deshalb funktioniert der Rückschluss von einem üblen Schicksal auf eine Schuld nicht. Der christliche Sündenbegriff stellt die Logik geradezu auf den Kopf, indem er die Gottesnähe im Glauben mit den schrecklichsten Übeln des Martyriums verbindet. In paradoxer Weise fallen Glauben und Ergehen auseinander, was die Kirchen- und Theologiegeschichte zu einer neuen Variante des alten moralischen Irrtums animierte, nach der das beobachtbare Leiden einer Person zum Indikator für ihren Glaubensgehorsam werden konnte.
Der binäre moralische Konsequentialismus übersieht, dass das Neue Testament den Gott oder dem Schicksal unterstellten Reiz-Reaktions-Automatismus durch eine trilaterale Beziehungskonstellation ersetzt: Sünde meint kein verwerfliches Handeln, dem die Sanktion auf dem Fuss folgt, sondern die grösste anzunehmende Beziehungskrise, von der die gesamte Schöpfung erfasst ist. Die korrumpierte Schöpfer-Geschöpf-Beziehung bildet das Vorzeichen für alles Übrige. Deshalb kann Sünde nicht beobachtet, beschrieben, kriteriologisch festgestellt und überprüft oder sanktioniert werden. Es gibt keinen nichtkontaminierten Standpunkt, von dem aus die Sünde sichtbar würde und operationalisierbar gemacht werden könnte. Sünde ist kein Erkenntnis- oder Moral-, sondern ein fundamentales Beziehungsproblem, das nicht aus der Welt zu bekommen ist. Das im Paradies losgetretene Beziehungsdrama spiegelt sich wider in der Ambivalenz und Fragmentarität der geschöpflichen Beziehungen. Ob es moralische Symptome oder Anzeichen der Sünde gibt, war theologisch immer umstritten. Davon zu unterscheiden ist die Sündenerkenntnis (Röm 3,20) die sich zwar als Gesetzesbruch manifestiert, aber erst in der Gottesbeziehung durch den heiligen Geist als eigene Sündhaftigkeit offenbar wird. Das entspricht der üblichen Deutung der Paradiesgeschichte als Genealogie der Moral, nach der das Wissen von Gut und Böse den entscheidenden Reiz und das erste Resultat des Sündenfalls darstellt. Wenn der Preis der Sünde die Moral ist, gründet (1.) die Sünde in einer vormoralischen Schuldverstrickung, in der (2.) auch das moralisch Gute und Gerechte gefangen bleibt. Die Moral kommt als richtiges aus dem falschen Leben nicht heraus.
Aus politisch-ethischer Perspektive weist das Verhältnis von Schuld und Strafe eine Strukturähnlichkeit auf mit einem uralten moralphilosophischen Problem, über das Sokrates und Euthyphron kontrovers diskutiert haben. Das sogenannte Euthyphron-Dilemma besteht in der Frage, ob etwas ethisch richtig ist, weil es von den Göttern gefordert wird, oder ob es von den Göttern gefordert wird, weil es ethisch richtig ist. Im übertragenen Sinn: Ist die Strafe berechtigt, weil sie aus einer Schuld folgt (von ihr «gefordert» wird), oder resultiert die Schuld daraus, dass die Strafe berechtigt ist (keine Strafe ohne entsprechende Schuld)? Was bestimmt was? Wird die Strafe durch die Plausibilität der Schuld legitimiert oder umgekehrt die Schuld durch die Plausibilität der Strafe? Die Fragen klingen auf den ersten Blick ungewöhnlich, weil Schuld und Strafe normalerweise so eng aufeinander bezogen sind, dass sie nicht unabhängig voneinander gedacht werden. Schwieriger wird es, wenn nach den Kriterien gefragt wird, wie die Schuld, mit der die Strafe legitimiert wird, selbst begründet werden kann. Die soziale Praxis funktioniert gewöhnlich umgekehrt, indem Verbote, deren Missachtung eine Schuld bedeuten, wesentlich durch die Sanktion konkreter Handlungen und Verhaltensweisen gelernt und internalisiert werden. Daraus folgt eine weitgehende Kohärenz von Schuld und Strafe, sodass die Frage, woher die Massstäbe für Schuld kommen, eigentlich nicht auftaucht. Dagegen wurde nach dem Ende des deutschen Nationalsozialismus kontrovers darüber diskutiert, ob ein Recht, wie das faschistische, derart pervertiert werden könne, dass es zu einem unrechten Recht wird und an welchem Massstab die Recht- und Unrechtmässigkeit des Rechts souveräner Staaten gemessen werden könne. Gibt es eine normative Autorität, dem selbst noch die nationale Rechtssouveränität unterworfen ist?
Eine aktuelle Variante des ethischen Autoritätsdilemmas diskutiert Omri Boehm in seiner an Maimonides anschliessenden Auslegung des biblischen Dramas von der Opferung Isaaks durch Abraham (Gen 22). Der grausame Plot entsprach einem damals gängigen religiösen Kult, nach dem jede Familie ihren erstgeborenen Sohn der Gottheit schuldet. Der Erzvater scheint zunächst dem Befehl Gottes (Elohim) zu gehorchen, widersetzt sich aber dann, indem er auf den (sekundär in die Geschichte eingebauten) Engel Gottes (JHWH) hört und anstelle seines Sohnes einen Widder opfert. Abraham vollzieht die Immanuel Kant zugeschriebene «‹kopernikanische Wende› in Sachen Autorität», indem er die Gerechtigkeit über jede – sogar die göttliche – Autorität stellt. Diese Konsequenz hatte Kant selbst ignoriert als er dem biblischen Protagonisten vorhielt: «Abraham hätte auf diese vermeinte göttliche Stimme antworten müssen: ‹Dass ich meinen guten Sohn nicht tödten sollte, ist ganz gewiss; dass aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin nicht gewiss und kann es auch nicht werden›, wenn sie auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallte.» Die vom preussischen Aufklärungsphilosophen übersehene Seelenverwandtschaft mit dem Erzvater besteht in der monotheistischen Konsequenz, «selbst diese einzig wahre Gottheit dem Moralgesetz zu unterwerfen, was eine geistige Innovation ganz anderer Grössenordnung ist als der Glaube an einen einzigen Gott, der in den Zehn Geboten verkündet wird – und zudem eine Innovation, die Mose völlig fremd ist». Zur Bestätigung seiner These verweist Boehm auf den Disput Abrahams mit Gott über dessen Vernichtungspläne von Sodom und Gomorra. Der Erzvater wendet ein: «Willst du wirklich den Gerechten zusammen mit dem Frevler wegraffen? Vielleicht sind fünfzig Gerechte in der Stadt. Willst du sie wirklich wegraffen und dem Ort nicht vergeben um der fünfzig Gerechten willen, die in seiner Mitte sind? Das sei ferne von dir, so zu tun, den Gerechten zusammen mit dem Frevler zu töten, so dass es dem Gerechten wie dem Frevler erginge. Das sei ferne von dir! Der Richter der ganzen Erde, sollte der nicht Recht üben? Der HERR sprach: Wenn ich in Sodom fünfzig Gerechte in der Stadt finde, werde ich dem ganzen Ort um ihretwillen vergeben.» (Gen 18,23–26) Im weiteren Gespräch handelt Abraham dann die göttliche Bedingung von 50 über 45, 40, 30, 20 bis auf 10 Gerechte herunter, allerdings – wie oben bereits erwähnt – ohne Erfolg.
Vor dem Hintergrund des platonischen Euthyphron-Problems stellt Boehm typologisch den moralischen Monopolisten Mose, als Vertreter der Autorität göttlicher Absender, dem ethischen Universalisten Abraham als Verteidiger der Autorität des Guten und Gerechten gegenüber. Abraham kritisiert die Strafaktion Gottes an Sodom und Gomorra und beruft sich dabei auf eine Gerechtigkeit, der sich auch der Weltenrichter nicht entziehen könne. Wie die Reaktionen zeigen, lassen die immer neuen Einwände Gott nicht unbeeindruckt. Natürlich zweifelte Abraham keinen Augenblick an der berühmten späteren Forderung des Petrus «Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!» (Apg 5,29) Aber daraus folgt – für Abraham in der prophetischen Lesart Omri Boehms und gegen traditionelle theologische und kirchliche Konventionen – kein blinder Gehorsam gegenüber den menschlichen Destillaten moralischer Götter und ihrer mechanischen Schuld-Strafe-Ableitungen.
Was folgt daraus für das Verhältnis von Schuld und Strafe? Beide Kategorien sind nicht in einer Weise miteinander verbunden, dass von einer Seite direkt auf die jeweils andere geschlossen bzw. die eine Seite unmittelbar durch die jeweils andere plausibilisiert und gestützt werden kann. Stattdessen muss von einer triadischen Struktur ausgegangen werden, in der die Verbindung zwischen Schuld und Strafe von normativen Ordnungen abhängt, über die beide Kategorien gespielt werden müssen, und die dabei in ein höchst konfliktreiches Verhältnis zueinander treten können. Anstelle eines Schuldmonopols, auf das aus theologischer, philosophischer, rechtlicher, moralischer oder ökonomischer Perspektive Bezug genommen wird, bestehen konfligierende Schuldperspektiven nebeneinander (wenn auch nicht unabhängig voneinander), die in unterschiedlicher Weise und nicht zwingend auf divergierende normative Sanktionssystemen verweisen.
Das Nachdenken über Herkunft, Ursachen, Gründe und Folgen von Gewalt und der Umgang damit fängt nicht bei null an. Vielmehr setzt es komplexe Wahrnehmungen und Erfahrungen des Bösen, Schlechten, Ungerechten, Zerstörerischen, Empörenden und Verabscheuungswürdigen voraus, aus denen konfligierende Vorstellungen und Deutungen des Guten, Gerechten, Gesollten, Erstrebenswerten, Gebotenen und Nützlichen abgeleitet werden. So klar und selbstverständlich die normativen Massstäbe in den Lebenswelten vorausgesetzt werden, so angreifbar und fragwürdig werden sie, sobald die vertrauten Lebenswelten verlassen und andere Perspektiven und Standpunkte eingenommen werden. Eine Quelle von Ungerechtigkeit besteht in der Annahme von der Unangreifbarkeit der Unterscheidung zwischen legaler (potestas) und illegaler Gewalt (violentia), die von abolitionistischen Theorien scharf angegriffen wird. Die Autorität des staatlichen Gewaltmonopols (inklusive seiner Sanktionsgewalt) verdankt sich komplexer heterogener und willkürlicher historischer Prozesse. Die Anerkennung der Autorität ist das Ergebnis ihrer strafbewehrten Durchsetzung, bei der die Schuld so klar ist, wie die daraus resultierende Strafe. Ob und welche Gerechtigkeit damit befördert wird, bleibt so lange nebulös, wie die Gerechtigkeitsfrage nicht mit der hartnäckigen Penetranz und riskanten Konsequenz Abrahams aufgeworfen wird.
Text im original mit Fussnoten und Quellen:
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