„Der Philosoph“ – diesen Titel hat Philipp Felsch seiner Biographie über Jürgen Habermas gegeben. Der Philosoph: So wurde in der Scholastik Aristoteles bezeichnet, ohne Namensnennung, weil seine Präsenz allgegenwärtig war – in den Inhalten und in den Methoden. Wenn Felsch für Habermas diesen Titel wählt, dann ist klar: Er ist unser Philosoph. Nur noch konsequent ist dann der Untertitel des Buches „Habermas und wir“.
Wer ist dieses Wir? Zunächst einmal der Autor selbst. Sein Buch spiegelt eine Gattung der Biografie wider, die gegenwärtig beliebt ist: der Autor selbst bringt sich mit ins Spiel, auf gleicher Augenhöhe mit der biografisch dargestellten Person. Nicht von ungefähr beginnt das Buch mit einem Besuch des Autors bei Habermas in dessen Starnberger Wohnung bei Tee und Marmorkuchen („zu dick geschnittenem“ – wie Habermas ausdrücklich bemerkt und wie biografisch festgehalten wird).
Mit diesem „Wir“ ist, so denke ich, ist aber auch auf ganz besondere Weise meine Generation gemeint. Und so kann auch ich nicht unbeteiligt schreiben – weder über die Biografie noch über Habermas. Und so wird meine Buchbesprechung notwendigerweise zu einer Reflexion meiner eigenen intellektuellen Biografie. Kaum ein Buch, das ich die letzten 10 bis 20 Jahre gelesen habe, hat mich so auf meinen eigenen Denkweg geführt wie diese Habermas-Biografie.
Ich bin zwei Tage nach Inkrafttreten des deutschen Grundgesetzes geboren (einer der „Erstgeborenen der alten Bundesrepublik Deutschland“ – wie ich gerne etwas narzisstisch-kokettierend sage). Habermas ist im Jahre 1929 geboren, sein Biograf Felsch im Jahre 1972. Ich stehe also so ziemlich genau in der Mitte zwischen beiden. Und es war meine Generation, für die Habermas schon immer da war, und zwar zunächst in seinen Anfängen. Ich erinnere mich noch genau, wie ich im Jahre 1970 in der Mainzer Mensa am Büchertisch des Allgemeinen Studentenausschusses mein erstes Buch von Habermas erwarb. Ein schwarzer Raubdruck (ich habe ihn gerade zur Vergewisserung aus dem Keller geholt) mit dem Titel „Arbeit, Erkenntnis, Fortschritt. Aufsätze 1954-1970“. Dieser legendäre Raubdruck spiegelt genau die Anfänge des philosophischen Denkens von Habermas wider, wie dies Felsch in den ersten Kapiteln seiner Biografie darstellt. Übrigens war zu dieser Zeit die «Dialektik der Aufklärung» von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno uns Studierenden auch nur als schwarzer Raubdruck zugänglich.
Die Bundesrepublik Deutschland begann ja keineswegs mit einer mythischen „Stunde Null“, auch in der Philosophie nicht. Denn es waren ja genau die alten Philosophen da, die – in verschiedenen Graden – etwas korrumpiert, aber sicher nicht „erledigt“ aus der Nazivergangenheit herkamen: ein Hans-Georg Gadamer etwa, ein Joachim Ritter und der überlebensgrosse Martin Heidegger. Und an diesem Heidegger arbeitet sich Habermas bereits als Student ab. Einer seiner ersten Texte, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen, endet mit dem Aufruf „mit Heidegger gegen Heidegger“ zu denken. Heidegger selbst – so notiert es die Biografie – habe verblüfft zur Kenntnis genommen, dass es sich bei dem Rezensenten um einen vierundzwanzigjährigen Studenten handelt. Er, Heidegger – auch dies notiert die Biografie – habe, wie er gegenüber seiner Frau verlauten liess, seitdem ‚keine Zeitung mehr in die Hand genommen‘.
Wir wissen, wie die Geschichte weiterging. Habermas gelangt ins Umfeld des aus der Emigration zurückgekehrten Teils der alten Frankfurter Schule. Er wird Assistent bei Theodor W. Adorno, misstrauisch beäugt von Max Horkheimer, dem dieser junge Assistent ob seiner politischen Radikalität recht unheimlich ist. Es folgt – nicht ohne Knirschen – die akademische Ochsentour mit Promotion und Habilitation, und schliesslich der Ruf auf die erste ordentliche Professur an der Universität Frankfurt. Seine Antrittsvorlesung im Jahre 1965 trug den Titel „Erkenntnis und Interesse“. Und damit sind die beiden Begriffe genannt, mit denen Habermas Einzug in meine intellektuelle Bildungsgeschichte genommen hat. Und zwar in Gestalt des umfangreichen Buches gleichen Titels aus dem Jahre 1968.
Erschienen ist das Buch – und nun kommt der entscheidende Haftpunkt – im Suhrkamp Verlag. Siegfried Unseld, der legendären Verleger, wollte – und das ist ihm zweifellos gelungen – den Suhrkamp Verlag zu dem intellektuellen Zentrum des kritischen Denkens der jungen Bundesrepublik Deutschland machen. Die „Suhrkamp-Republik“ ist zum Namen geworden der kritischen Software Deutschlands im Übergang von der Adenauer-Republik zur sozialliberaleren Ära, die dann politisch vor allem durch Willy Brandt geprägt wurde.
Die erste grosse Phase des philosophischen Denkens von Habermas fällt zusammen mit der heissen Phase der Studentenbewegung, der Habermas solidarisch und kritisch (sein Vorwurf des „Linksfaschismus“, den er später relativierte, wurde von uns lange nicht vergessen) zur Seite stand.
Uns Studierende faszinierte damals wie Habermas unter Aufnahme der Psychoanalyse Siegmund Freuds eine Kommunikationstheorie entwickelte, die sowohl für den geistesgeschichtlichen wie den politischen Diskurs anschlussfähig war. Sein Gedanke der „herrschaftsfreien Diskussion“ (als Regulativ, nicht wie oft missverstanden als Realität) verlieh dem Ausdruck, was wir als Studierende damals erstrebten. Auch für uns in der Theologie war dies ein inspirierender Ansatz. Das „Praktisch-Theologische Handbuch“, das damals unter der Ägide meines Lehrers Gert Otto am Entstehen war, ist durch und durch Habermas-imprägniert.
Als die Studentenbewegung in einem dreifachen Ausgang (die Hinwendung zum Privaten; der Gang durch die Institutionen; und für eine kleine Minderheit das Abdriften in den Terrorismus) an ihr Ende kam, setzte auch Habermas für sich selbst einen neuen Anfang. Er wechselt im Jahr 1971 an das „Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt“, das er gemeinsam mit Carl-Friedrich von Weizsäcker leitet. In dieser Zeit entsteht sein philosophisches Hauptwerk die „Theorie des kommunikativen Handelns“. Eine Schaltstelle zwischen dem frühen und späteren Habermas: auf der einen Seite wird der Gedanke einer „herrschaftsfreien Kommunikation“ aufgenommen und zugleich perspektivisch bezogen auf Phänomene, die uns noch heute beschäftigen: Lebenswelt, Individualisierung, Zivilgesellschaft.
Felsch zeigt nun in seiner Biografie sehr schön, dass die Wirkung von Habermas nicht allein auf sein wissenschaftliches Handeln beschränkt ist. Habermas agiert gleichsam auf zwei Ebenen: Als streng-disziplinierter Wissenschaftler und als angriffslustiger Kommentator seiner Zeit. Auch hier nutzt er die Möglichkeiten der Suhrkamp-Republik virtuos.
Exemplarisch zeigt sich dies in den ersten Jahren der Kanzlerschaft von Helmut Kohl. Kohl hatte ja seine langjährige Kanzlerschaft unter dem Motto einer „geistig-moralische Wende“ angetreten. Habermas witterte darin sofort – sicher nicht ganz zu Unrecht – einen Angriff auf diejenige gesellschaftlich-historische Signatur der Bundesrepublik Deutschland, für die er mit seinem Werk prominent stand. Vor allem fürchtete er eine konservative Revision des Blicks auf die deutsche Geschichte. Und er sollte Recht behalten. Im Juni 1986 erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Artikel des Historikers Ernst Nolte unter dem Titel „Vergangenheit, die nicht vergehen will“. Er kritisiert dort eine angeblich übertriebene Konzentration der Geschichtssicht auf die Jahre 1933-45 und bestreitet die Singularität des Völkermords an den europäischen Juden in den Jahren 1941-1945. Dem stellt er die These entgegen, dass der Holocaust lediglich eine Antwort sei auf den vorausgehenden Archipel Gulag.
Hier mussten bei Habermas alle Alarmglocken schrillen. Im Juli 1986 erschienen von ihm in auf der ersten Seite (!) der ZEIT ein Artikel unter dem Titel „Eine Art Schadensabwicklung“, in dem er vehement mit einer in seinen Augen geschichtsrevisionistischen Sicht auf die deutsche Vergangenheit abrechnet, für die der Artikel von Nolte nur exemplarisch steht. Ich erinnere mich noch genau, wie ich damals diesen Artikel an einem Freitagnachmittag las und mir sofort klar war, dass hier Habermas eine Kontroverse in Gang setzte, die lange anhalten würde. Als „Historikerstreit“ ist diese Kontroverse in die Annalen der Bundesrepublik Deutschland eingegangen. Eine Kontroverse, in der Habermas definitiv den Status des Präzeptors der Suhrkamp-Republik erlangte.
Und dann kam der Fall der Berliner Mauer und die deutsche Wiedervereinigung. Und mehr noch als im Historikerstreit sah Habermas die tragenden Codes der alten Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Habermas „fremdelte“ mit der deutschen Wiedervereinigung und vor allem mit dem Modus, in dem sie vollzogen wurde – zweifellos. Und so sind die folgenden zwei Jahrzehnte in der Biografie des Philosophen durch eine gegenläufige Dynamik gekennzeichnet. Auf der einen Seite eine wachsende Entfremdung und auf der anderen Seite eine zunehmende Anerkennung und Etablierung durch Preise und Ehrungen. Er wird nun in der Tat zu DEM Philosophen Deutschlands.
Einen Höhepunkt stellt die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahre 2001 dar. Und wiederum gelingt es Habermas mit seiner Dankesrede die Öffentlichkeit zu überraschen. In den Mittelpunkt seiner Rede stellt er eine bleibende Bedeutsamkeit der Religion für den einzelnen Menschen ebenso wie für die Gesellschaft. Man kann nicht von einer Wiederentdeckung der Religion bei Habermas sprechen, denn sie hatte bisher in seinem Werk – wenn überhaupt – nur ein Schattendasein geführt. Habermas erinnert an den für ihn prinzipiell nicht säkularisierbaren Gehalt von Religion, der sich vor allem in ihren tragenden Begriffen wie Sünde, Hoffnung und Gnade ausdrückt. Im Übrigen ein sehr protestantischer Blick auf Religion. Für die religiösen Institutionen erwächst daraus die Aufgabe einer verständlichen Auslegung auch und gerade für die „religiös Unmusikalischen“ in einer postsäkularen Gesellschaft.
Über die letzten beiden Jahrzehnten in der Biografie von Habermas hat sich – vielleicht noch mehr in meiner eigenen Wahrnehmung als in der biografischen Darstellung von Felsch – so etwas wie eine grundierende Melancholie gelegt. Ich habe den Eindruck: Das Räderwerk des philosophischen Nachdenkens läuft weiter, aber in der Mitte des Räderwerkes scheint die entscheidende Triebfeder zerbrochen zu sein.
Aber nicht nur mit der deutschen Gegenwart, auch mit der Philosophie, die uns ab den 80er-Jahren zu faszinieren begann, fremdelt Habermas. Dem ganzen Poststrukturalismus in all seinem Facettenreichtum und dem „Pensiero debole“ eines Gianni Vattimo stand er immer etwas ratlos gegenüber. Sein Verhältnis zu Michel Foucault war und blieb unterkühlt. Allein bei Jacques Derrida hat er zu einem freundschaftlichen Verhältnis gefunden, dies aber wohl mehr über das gemeinsame politische Engagement als über geteilte philosophische Grundeinsichten.
Etwas von dieser Melancholie spiegelt sich im letzten Kapitel des Buches wider. Darin schildert Felsch, wie er ein zweites Mal Habermas in seiner Wohnung in Starnberg besucht. Zwischen dem ersten und zweitem Besuch steht der Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine, und der Terrorüberfall der Hamas auf Israel sollte wenige Tage später erfolgen. Bereits anlässlich der deutschen Wiedervereinigung hatte Habermas in einem Interview die dunkle Vision ausgesprochen, vielleicht bleibe ihm nur die Rolle, „das Tagebuch eines hellenistischen Schriftstellers“ zu führen, „der die uneingelösten Versprechen seiner untergehenden Kultur für die Nachwelt dokumentiert.“ (S. 172) Diese Vision scheint jetzt für Habermas Wirklichkeit zu werden. Er zweifelt angesichts einer möglichen zweiten Amtszeit Donald Trumps an der Widerstandsfähigkeit der demokratischen Institutionen der USA, die für ihn – eine Konstante in seinem Denken – so etwas wie eine „Pièce de résistance“ einer westlich-demokratischen Kultur waren. Philipp Felsch schildert diesen Moment des Gesprächs, wo Habermas noch einmal auf seine Hoffnungen auf „weltbürgerliche Verhältnisse“ in eindringlicher Weise zu sprechen kommt: „‚Das alles ist Vergangenheit.‘ Und dann sagt er einen Satz, der unseren Gesprächsfluss einen Moment lang stocken lässt: All das, was sein Leben ausgemacht habe, gehe gegenwärtig ‚Schritt für Schritt‘ verloren.“ (S. 187).
Und dann scheint noch etwas auf, wo ich besonders hellhörig wurde angesichts meiner eigenen intellektuellen Biografie und angesichts des Terrorüberfalls der Hamas auf Israel am 7. Oktober des vergangenen Jahres: Ein ‘Glücksfall’ seines Lebens sei es gewesen, „in den USA, in Israel und auch in Deutschland so vielen bedeutenden jüdischen Gelehrten begegnet zu sein.“ (S. 188). Neben den bekannten Namen der alten Frankfurter Schule sind hier noch weitere zu nennen: etwa Hanna Ahrendt, Jacques Derrida und Simone Veil, die zwei Jahre vor Habermas den Frankfurter Friedenspreis erhalten hat. Vielleicht besteht ja gerade darin der intellektuelle Glutkern der Suhrkamp-Republik, die heute zur unwiederbringlichen deutschen Vergangenheit geworden ist.
Philipp Felsch, Der Philosoph. Habermas und wir, Berlin 2024.
Albrecht Grözinger ist evangelischer Pfarrer und Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Basel.
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