Die vielzitierte, ursprünglich von Jürgen Habermas diagnostizierte, «Neue Unübersichtlichkeit» gilt auch für die Bereiche Sex und Gender. Aus der Überwindung des traditionell aus dem biologischen Geschlecht (sex) abgeleiteten Genderduals zugunsten pluraler (Selbst-)Verständnisse von Geschlechtsidentitäten folgt die Unmöglichkeit abschliessender (objektiver) Genderdefinitionen. Das «*» oder auch «+»-Zeichen im Akronym LGBTIQ* zeigt die Vorläufigkeit und Offenheit begrifflicher Gendervarianten an. «Queer» dient nicht nur als Selbstbezeichnung für transgender und genderdiverse Personen (TGP), sondern steht auch für das nicht deterministische Verhältnis von Genderidentität und biologischem Geschlecht. Einen differenzierenden Blick auf die geschlechtliche und sexuelle Komplexität (und die Diskurse darüber) eröffnet Sam Killermann’s Lebkuchenfigur «Genderbread», die zwischen sexueller Identität, Geschlechtsausdruck, anatomischem Geschlecht, Geburtsgeschlecht, Geschlechtsausdruck und sexueller Orientierung unterscheidet:
Geschlechtsidentität bezeichnet die Art und Weise, wie eine Person ihr Geschlecht erlebt, definiert und gestaltet (Persönlichkeitsmerkmale, Beruf, Hobbys, Vorlieben, Abneigungen, Rollen, Erwartungen etc.), und hängt davon ab, wie sie mit diesem Verständnis übereinstimmt oder nicht.
Geschlecht meint einerseits die körperlichen Merkmale (Geschlechtsorgane, Hormone, Chromosomen, Körperbehaarung, Brustwachstum, Hüften, Stimmlage), mit denen eine Person geboren wird oder die sie entwickelt, und andererseits das Geschlecht, das einer Person bei ihrer Geburt zugewiesen wird.
Unter Anziehung wird die Art und Weise verstanden, ob und wie sich eine Person in sexueller, romantischer, emotionaler und/oder anderer Hinsicht zu anderen Personen hingezogen fühlt.
Ausdruck bezieht sich auf die Art und Weise, wie eine Person ihr Geschlecht durch ihr Verhalten und Auftreten (Aussehen, Kleidung, Stil, Inszenierung, Frisur, Make-up etc.) vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Erwartungen darstellt.
Die Kategorien «Geschlechtsidentität», «Geschlecht», «Anziehung» und «Ausdruck» sind keine alternativen Beschreibungen personaler Geschlechtlichkeit und sexueller Orientierung, sondern kumulative Aspekte personaler Identität, die eine Person in ihrer sozialen, kulturellen und rechtlich-politischen Umwelt entwickelt, und in der sie als diese Person identifiziert wird. Entscheidend ist, dass (1.) aus dem biologischen Geschlecht nicht auf die Geschlechtsidentität und den Ausdruck und (2.) vom sozialen Geschlecht (Geschlechtsidentität und Ausdruck) nicht auf die Anziehung (sexuelle Orientierung) geschlossen werden kann.
Das einfache Schema dekonstruiert die traditionelle, biologisch mit der dyadischen oder Endosexualität und kognitiv-emotional mit der CIS-Geschlechtlichkeit verbundene Heteronormativität. Bei der endogeschlechtlichen Person entsprechen die biologischen Geschlechtsmerkmale (genetisch, anatomisch und hormonell) dem binären männlichen/weiblichen-Körperschema, bei der CIS-Geschlechtlichkeit stimmen die kognitiv-emotional erlebte Geschlechtsidentität mit dem zugeschriebenen Geburtsgeschlecht überein. Während bei der intergeschlechtlichen Person die endogeschlechtliche Kongruenz nicht besteht, fallen oder entwickeln sich bei der transgeschlechtlichen (transidenten) Person (agender, bigender, genderfluide etc.) Geburtsgeschlecht und Geschlechtsidentität auseinander. Seit dem 19. Jahrhundert galt Intergeschlechtlichkeit als biologische, Transgeschlechtlichkeit als kognitiv-emotionale Pathologie.
Davon zu unterscheiden ist die verschieden- und gleichgeschlechtliche sexuelle Orientierung. Darunter werden die «Muster der emotionalen, romantischen und/oder sexuellen Anziehung [verstanden], die Menschen auf andere ausüben. Sie bezieht sich auch auf das Gefühl der persönlichen und sozialen Identität einer Person, das auf deren Neigungen, den damit verbundenen Verhaltensweisen und der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft von anderen mit ähnlichen Neigungen und Verhaltensweisen beruht. Die sexuelle Identität unterscheidet sich von der Geschlechtsidentität.» Die sexuelle Orientierung, die auch im Zentrum der heftig umstrittenen reparativen oder Konversionsbehandlungen stehen, bildet lediglich einen Teilaspekt des umfassenden Themas Sexual Orientation and Gender Identity (SOGI) ab, insofern sie ausschliesslich auf die Anziehung vor dem Hintergrund der heteronormativen Geschlechterordnung fokussiert. Ausgeblendet werden sowohl die Variabilität des biologischen Geschlechts als auch die Signifikanz, Bedeutung und personale Dimension nichtbinärer Geschlechtsidentitäten und Ausdrucksformen.
Gemäss dem unabhängigen Expert:innenbericht der UNO wird der Ausdruck «Konversionstherapie» als «Oberbegriff verwendet, um Interventionen unterschiedlicher Art zu beschreiben, die alle auf der Überzeugung beruhen, dass die sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität einer Person, einschliesslich des Geschlechtsausdrucks, verändert oder unterdrückt werden können und sollten, wenn sie nicht unter das fallen, was andere Akteur:innen in einem bestimmten Umfeld und zu einer bestimmten Zeit als wünschenswerte Norm erachten, insbesondere dann, wenn die Person lesbisch, schwul, bisexuell, trans oder geschlechtlich divers ist. Solche Praktiken zielen daher konsequent darauf ab, einen Wandel von gleichgeschlechtlich zu verschiedengeschlechtlich und von trans oder gender diverse zu cisgender zu bewirken. Je nach Kontext wird der Begriff für eine Vielzahl von Praktiken und Methoden verwendet, von denen einige im Verborgenen stattfinden und daher kaum dokumentiert sind.»
Reparative oder Konversionsbehandlungen werden heute unter dem Sammelbegriff Sexual Orientation Change Efforts (SOCE) diskutiert. Geht es darüber auch um Massnahmen zur Verhinderung von nicht normkonformen Geschlechtsidentitäten und ihren Ausdrucksformen handelt es sich um Sexual orientation, gender identity and expression change efforts (SOGIECE). Zu SOCE im engeren Sinn gehören alle Konzepte und Praktiken, die «die sexuelle Orientierung eines Menschen, oder Teilaspekte davon, durch gezielte Interventionen […] beeinflussen – sei dies mit Einwilligung, gegen den Willen oder ohne Wissen der Betroffenen», insbesondere «Formen der Psychotherapie, insbesondere so genannte Aversionstherapien, psychoanalytische Verfahren, aber auch religiös motivierte Ansätze der Beratung und Intervention einschliesslich Gruppeninterventionen sowie schliesslich selbstorganisierte Massnahmen». Über die angewendeten Massnahmen informieren vor allem persönliche Erfahrungsberichte: «Biographiearbeit, Verbannung homosexueller Gedanken, religiöse Praktiken, Zwangs-Psychiatrisierung[…], Aversions- und Elektroschocktherapie, Klitoridektomie, Lobotomie, Hysterektomie, Verstärkung von gender- und heteronormativen Verhalten, wozu etwa das Aufsuchen von gegengeschlechtlichen Prostituierten fällt, Training heterosexuell oder genderkonform ausgerichteter Fertigkeiten und die Gabe diverser Medikamente sowie systematische Desensibilisierung.»
Die Geschichte der medizinischen und psychologischen Pathologisierung von Gleichgeschlechtlichkeit beginnt im 19. Jahrhundert. Trotz der Offensichtlichkeit des Zusammenhangs, ist der Einfluss christlicher und anderer religiöser Moralvorstellungen auf eine homophobe Medizin und Psychologie m. W. bisher nicht systematisch untersucht worden. Unterschieden wurde zwischen einer angeborenen, nicht beeinflussbaren und einer sozial erworbenen, therapierbaren Gleichgeschlechtlichkeit. «Diese historisch entstandene Medikalisierung ist eng verknüpft mit einer Kriminalisierung und zudem mit einer kolonialen Auffassung von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität. So war Sexualität von zwei oder mehreren Personen des gleichen Geschlechts und der geschlechtliche Ausdruck jenseits des offiziell verbürgten Geschlechts in weiten Teilen des Globus bis ins 20. Jahrhundert und teilweise bis heute verboten. Zugleich erfuhr die Medikalisierung und damit auch die gesellschaftliche Etablierung von rigide binären Geschlechterzuordnungen und -vorstellungen eine Zuspitzung in der Zeit der Europäischen Aufklärung und des Kolonialismus. Die in der Moderne vorherrschenden Ideale und Normen heterosexueller Zweigeschlechtlichkeit wurden vor der Folie Schwarzer, meist versklavter Personen hergestellt und veranschaulicht. Wurden Schwarze Personen und Personen of Color meist als übersexualisiert und als animalisch dargestellt, wurden demgegenüber weiße Personen als zivilisiert und einem Ideal von Menschheit beschrieben und damit der Erlangung von (zumindest gewissen) Bürger:innenrechte würdig angesehen. Formen derartiger Entmenschlichung sind bis heute teilweise wirkmächtig.»
Die Stereotype werden von Medizin und Psychologie übernommen und verstärkt, wie die Geschichte der international massgeblichen Klassifikationen ICD der WHO und DSM (Statistical Manual of Mental Disorders) der American Psychological Association (APA) zeigen. 1968 klassifizierte die WHO und 1952 die APA «Homosexualität» als Krankheit und hoben die Kategorie 1990 bzw. 1973 wieder auf. Im ICD-10 (1994) und DSM-III (1980) wurde dafür der Krankheitsbegriff «ego-dystonic sexual orientation» eingeführt und 2019 bzw. 1987 wieder gestrichen. Transgeschlechtlichkeit wurde im ICD-10 (1994) und DSM-III-R (1987) als «gender identity disorder» klassifiziert und begegnet im aktuellen ICD-11 (2022) als «gender incongruence» und im DSM-5 (2013) als «gender dysphoria». Geschlechtsinkongruenz meint die «ausgeprägte und persistierende Erfahrung einer Person, dass ihre Geschlechtsidentität nicht mit dem Geschlecht übereinstimmt, dass von ihr aufgrund ihres von Geburt an zugewiesenes Geschlecht erwartet wird», Geschlechtsdysphorie das «Unbehagen oder [den] Stress im Zusammenhang mit einer Inkongruenz zwischen der Geschlechtsidentität einer Person und dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht».
Die Geschichte der medizinischen und psychologischen Kategorisierungen hat Konsequenzen für die fachliche Beurteilung von Konversionsmassnahmen. Denn der üblicherweise verwendete Therapiebegriff ist falsch, weil (1.) Gleichgeschlechtlichkeit keine Krankheit oder Störung und deshalb keine Indikation für therapeutische Massnahmen darstellt und (2.) Interventionen angewendet werden, die nicht unter einen medizinisch und psychologisch seriösen Therapiebegriff fallen. «Angesichts der fehlenden Indikation, des fehlenden Nachweises einer Wirkung auf das Zielkriterium sowie des breit gefächerten Spektrums individueller und gesellschaftlicher negativer Wirkungen fehlt für die Durchführung von SOGIECE aus medizinisch-psycho-therapeutischer und sexualwissenschaftlicher Sicht die Evidenz. Wenn es zu einer psychischen Belastung durch eine nicht-heterosexuelle Orientierung kommt, so kann diese Belastung Ausgangspunkt von sachgerecht durchgeführter Beratung oder Therapie sein, die nicht zum Ziel haben darf, die sexuelle Orientierung zu verändern.» Die aktuelle Diskussion über SOCE steht unter zwei Vorbehalten:
(1.) Unter dem Verdikt einer diskriminierenden und menschenverachtenden Praxis kann SOCE durch keinen – wie immer begründeten – Nutzen legitimiert werden. Stellvertretend für viele medizinische Institutionen stellt die World Medical Association fest: «Der WMA verurteilt unmissverständlich so genannte ‹Konversions-› oder ‹reparative› Methoden. Diese stellen eine Verletzung der Menschenrechte und nicht zu rechtfertigende Praktiken dar, die angezeigt und mit Sanktionen und Strafen belegt werden sollten. Es widerspricht dem ärztlichen Ethos, sich in irgendeiner Weise an solchen Verfahren zu beteiligen.» Die wachsende Anzahl von Erfahrungsberichten betroffener Personen, journalistische Beiträge und Fallerzählungen bestätigen auf erschütternde Weise die inhumanen, gesundheitsgefährdenden, -schädigenden, lebensbedrohlichen und -zerstörenden Praktiken und ihre Folgen für die betroffenen Personen. Deshalb kann über SOCE nicht unabhängig von der Gewalt gegen die Personen gesprochen werden, die aus den religiösen, moralischen, medizinischen und psychologischen Normalitätsrastern fielen und fallen. Die lange Geschichte der homophoben Kultur wird verstärkt durch die Umstellung einer ursprünglich gegen die Körper der Fremden gerichteten Gewalt auf eine Aggression gegen die Körper der eigenen Gemeinschaft und den eigenen Körper. Der neuzeitliche Staat reklamiert die körperliche Gewalt gegen aussen für sich (Gewaltmonopol), überlässt aber die körperliche Aggression nach innen weitgehend den gesellschaftlichen Prozessen von Sozialnormierung und -disziplinierung. Weil die Zuständigkeit für die äussere Gewalt beim Staat liegt, wird die sich nicht weniger brutal und roh gerierende innere Aggression kaum als Unrecht wahrgenommen, demaskiert und sanktioniert. Unter dem Deckmantel befriedeter Bürgerlichkeit breitet sich eine Gewalt gegen den nichtkonformen Körper aus, die es vorher (in der Form) nicht gab. Betroffen davon sind besonders der reproduktive weibliche Körper und der männliche Körper, sofern er nicht den gesellschaftlichen Normalvorstellungen entspricht. Im 19. Jahrhundert werden Sex zum öffentlichen Gegenstand rechtlicher Sanktionen und die erotische Lust zum Objekt wissenschaftlicher Betrachtung, Beurteilung und Manipulation. Nicht zufällig entwickelt das Neuluthertum in dieser Zeit seine Lehre von den Schöpfungsordnungen, eine theologische, parasitär-naturrechtlich begründete repressive Sozialmoral. Die politische sexuelle Revolution in den 1960er/70er Jahren änderte wenig an der traditionellen Allianz maskuliner und homophober Machtverhältnisse, denen erst ein spätbürgerlicher, diversitätssensibler Liberalismus zu Leibe rückte.
(2.) Umgekehrt wird eine sachliche Auseinandersetzung mit SOCE erschwert durch eine symbolische Zensurmoral, die Fragen nach dem Rechten mit Monopolansprüchen auf das Gute tabuisiert. Die Bocksgesänge moralischer Hegemonist:innen verteufeln fehlenden Normgehorsam mit dem gleichen quasi-religiösen Corpsgeist, wie homophobe Gesellschaften Abweichungen von der heteronormativen Leitkultur. Das spielt den Anbieter:innen von SOCE-Massnahmen in die Hände, die kaum öffentlich in Erscheinung treten, sondern in weitgehend geschlossenen, autoritären Gemeinschaften agieren und von einer auf die Gemeinschaftsmoral verpflichteten Klientel geschützt werden. Obwohl das tatsächliche Ausmass in der Schweiz im Dunklen liegt, wird von über 14'000 betroffenen Personen ausgegangen.
Auf nationaler und kantonaler Ebene sind in den vergangenen Jahren immer wieder Vorstösse für und gegen ein gesetzliches Verbot von Konversionsmassnahmen lanciert worden. Dafür setzte sich Rosemarie Quadranti in ihrer Interpellation 16.3073 «Verbot und Unterstrafestellung von Therapien zur ‹Heilung› von Homosexualität bei Minderjährigen» vom 10.03.2016 und in ihrer Motion 19.3840 «Verbot der ‹Heilung› homosexueller Jugendlicher» vom 21.06.2019 ein. Die Standesinitiative des Kantons Luzern 22.310 «Verbot von Konversionstherapien» vom 03.06.2022 unterstützt das Anliegen damit, dass SOCE «einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Privatsphäre und Integrität der betroffenen Personen» darstellen würden. Die Standesinitiative des Kantons Basel-Stadt 22.311 «Verbot von Konversionstherapien in der Schweiz» vom 07.06.2022 ergänzt: «Diese vorgeblich ‹reparativen› Behandlungen werden von verschiedenen Personen, mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen durchgeführt. Dazu gehören neben Ärztinnen und Ärzten auch Coaches, Sexualberaterinnen oder Sexualberater und Geistliche. Während Ärztinnen und Ärzte mit der Durchführung einer Konversionstherapie gegen die Berufspflichten verstossen und mit Disziplinarmassnahmen zu rechnen haben, existiert gegen die Konversionstherapien durch Coaches, Sexualberaterinnen oder Sexualberater und Geistliche keine Handhabe. Konversionstherapien sind für betroffene Personen höchst traumatisierend. Das belegen zahlreiche Studien. [...] Es gilt, solche Praktiken in der Schweiz zu verhindern. […] Ein entsprechendes Gesetz soll dabei möglichst weit fassen und insbesondere auch für Fälle gelten, in welchen Minderjährige betroffen sind.» Die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung sei auch durch die Umstände im europäischen Ausland gegeben, wie Angelo Barrile in seiner Interpellation 20.3870 «Die Schweiz ist ein Zufluchtsort für ‹Homo-Heiler›» vom 19.06.2020 ausführt: «Wegen dieses Verbots in unserem Nachbarland [Deutschland; FM] hat sich die Bruderschaft des Weges, als eigener Verein in der Schweiz gegründet. Dieser neu entstandene Verein geht ursprünglich aus Wüstenstrom hervor, der bekanntesten Organisation, die im Zusammenhang mit den schädlichen ‹Homoheiler-Therapien› steht. Dieses Ausweichen der Aktivitäten auf unser Land liegt nahe, dass in der Schweiz die gesetzlichen Grundlagen nicht reichen, um solche Praktiken zu verhindern.»
Die Forderungen gehen unterschiedlich weit. So schränken die Parlamentarische Initiative 21.497 (Sarah Wyss) «Schweizweites Verbot und Unterstrafestellung von Konversionsmassnahmen» vom 30.09.2021 und gleichlautend die Motion 22.3889 der Kommission für Rechtsfragen NR «Konversionsmassnahmen an LGBTQ-Personen verbieten und unter Strafe stellen» vom 18.08.2022 ein: «Nicht von diesem Verbot erfasst sein sollen namentlich – professionell begleitete ergebnisoffene Auseinandersetzungen mit der eigenen sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität wie beispielsweise psychotherapeutische Massnahmen gemäss Richtlinien der entsprechenden Berufsverbände; – medizinisch indizierte Massnahmen zur Geschlechtsangleichung; – Therapien von strafrechtlich relevanten Sexualpräferenzen und Verhalten (wie Exhibitionismus oder Pädosexualität).»
Gegen ein eigenständiges gesetzliches Verbot von SOCE gibt das Postulat 21.4474 (Erich Siebenthal) «Überprüfung der Verbreitung sogenannter Konversionstherapien in der Schweiz und der Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung» vom 16.12.2021 zu bedenken, dass «die Sachlage unklar ist. Es gibt noch keine Studie zu diesen Praktiken, die aufzeigen würde, welche problematischen Fälle in der Schweiz heute auftreten und wie das geltende Recht auf diese Situationen reagiert. Zudem stellt die Komplexität des Themas hohe Anforderungen an eine allfällige Gesetzesformulierung und bedarf sauberer Grundlagen. Dabei gilt es auch zu beachten, dass das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung von Menschen, die nach ihren Wünschen und Überzeugungen eine angemessene Unterstützung suchen, respektiert sein muss.» Die Schweizerische Evangelische Allianz (SEA) schliesst sich der ablehnenden Haltung des Bundesrats gegenüber einer Gesetzesinitiative an und betont, «dass die Verabschiedung neuer Gesetze keine angemessene Strategie ist. Im Gegenteil, sie läuft Gefahr, kontraproduktiv zu wirken, indem sie das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung einschränkt, welches sie gerade besser schützen will. Darüber hinaus besteht die Gefahr, weitere schützenswerte Rechte zu beschneiden: die Meinungs-, die Gewissens-, die Religionsfreiheit sowie die Freiheit, das Leben selbst zu gestalten.»
Eine defensive Position hat lange Zeit auch der Bundesrat vertreten. Zwar hält er in seiner Stellungnahme zur Interpellation 16.3073 Quadranti fest: «Solche Therapien sind nicht nur wirkungslos, sondern mit erheblichem Leid für die betroffenen Kinder und Jugendlichen verbunden.» Zugleich bestehe «keine spezifisch auf den Schutz Minderjähriger vor Therapien gegen die Homosexualität ausgerichtete Handlungsmöglichkeit bzw. -notwendigkeit». Das Psychologieberufegesetz garantiere den notwendigen Schutz. «Die Durchführung von Therapien zur Heilung von Homosexualität, ob an Minderjährigen oder Erwachsenen, stellt eine Verletzung dieser Berufspflichten dar.» Für mögliche Gefährdungen eines Kindes sei die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) die Ansprechstelle. Da aber Konversionsmassnahme mit der Berufsethik von Fachpersonen unvereinbar sei, müsse gemäss Bundesrat davon ausgegangen werden, «dass insbesondere Angebote von selbsternannten ‹Heilern› in Anspruch genommen werden. Ob die Durchführung solcher Therapien einen Straftatbestand darstellt, kann nur im Einzelfall vor einem Gericht beurteilt werden. […] Für die Durchsetzung der Berufsethik in der kirchlichen Seelsorge sind die Kirchen zuständig.» Inzwischen hat der Nationalrat das Postulat 21.4474 von Siebenthal angenommen, das (1.) eine Definition sogenannter «Konversionstherapien», (2.) eine Überprüfung des tatsächlichen Ausmasses solcher Praktiken in der Schweiz fordert und (3.) eine Beurteilung der Reaktionsmöglichkeiten des geltenden Rechts darauf fordert. Der Bundesrat vertritt die Ansicht, «dass die Ergebnisse dieses Berichts abgewartet werden sollten, bevor entschieden wird, ob und – falls ja – welche Änderungen des Bundesrechts vorgenommen werden müssen».
Die von einer internationalen Jurist:innenkommission und der International Service for Human Rights (ISHR) erarbeiteten 29 «Yogyakarta Principles on the Application of International Human Rights Law in relation to Sexual Orientation and Gender Identity» –Yogyakarta-Prinzipien zur Anwendung der Menschenrechte in Bezug auf die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität – wurden im November 2006 angenommen und im November 2017 mit Blick auf die besonderen Belange von Trans*Personen in «The Yogyakarta Priciples plus 10» um neun weiter Prinzipien und 111 zusätzliche staatliche Verpflichtungen ergänzt. Die Prinzipien beider Dokumente präsentieren eine postkoloniale Relektüre der klassischen Menschenrechtsdokumente, die anerkennen, «dass diese Darstellung auf dem aktuellen Stand der internationalen Menschenrechte aufbauen und regelmässig überprüft werden muss, damit die Weiterentwicklung dieser Rechte sowie deren Anwendung auf das Leben und die Erfahrungen von Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten im Laufe der Zeit und in den verschiedenen Regionen und Ländern berücksichtigt werden können» (Präambel). Ins Auge springen die Grundsätze, die von der etablierten Nomenklatur abweichen:
«Das Recht auf Schutz vor medizinischer Misshandlung» (Prinzip 18): «Niemand darf aufgrund seiner sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität gezwungen werden, sich irgendeiner Form von medizinischer oder psychologischer Behandlung, Untersuchung oder Massnahme zu unterziehen, oder in eine medizinische Einrichtung eingewiesen werden. Entgegen anders lautender Beurteilungen sind die sexuelle Orientierung und die geschlechtliche Identität eines Menschen an und für sich keine Erkrankungen und sollen daher nicht behandelt, geheilt oder unterdrückt werden.»
«Das Recht auf wirksamen Rechtsschutz und Wiedergutmachung» (Prinzip 28): «Jedes Opfer einer Menschenrechtsverletzung – dies schliesst auch Rechtsverletzungen aufgrund der sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität ein –, hat das Recht auf wirksame, angemessene und ausreichende Rechtsmittel. Massnahmen mit dem Ziel, Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität zu Entschädigungen zu verhelfen oder ihnen eine angemessene Förderung zu sichern, sind integraler Bestandteil des Rechts auf wirksamen Rechtsschutz und Wiedergutmachung.»
«Verantwortlichkeit» (Prinzip 29): «Jede Person, deren Menschenrechte einschliesslich der in den vorliegenden Prinzipien angesprochenen Rechte verletzt wurden, hat Anspruch darauf, dass diejenigen, die direkt oder indirekt für diese Rechtsverletzung verantwortlich sind, unabhängig davon, ob es sich um Behördenvertreter handelt oder nicht, auf eine Art und Weise für ihr Handeln zur Verantwortung gezogen werden, die der Schwere der Rechtsverletzung angemessen ist. Es darf keine Straffreiheit für Personen geben, die Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit sexueller Orientierung oder geschlechtlicher Identität begehen.»
Aus dem zweiten Dokument von 2017 ist hervorzuheben: «Das Recht auf Freiheit von Kriminalisierung und Sanktionen aufgrund von sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität, Geschlechtsausdruck oder Geschlechtsmerkmalen» (Prinzip 33): «Jeder Mensch hat das Recht, frei von Kriminalisierung und jeder Form von Sanktionen zu sein, die sich direkt oder indirekt aus seiner tatsächlichen oder vermeintlichen sexuellen Orientierung, Geschlechtsidentität, dem Geschlechtsausdruck oder den Geschlechtsmerkmalen ergeben.»
«Having rights but no resources and no services available is a cruel joke.» – Rechte zu haben, aber über keine Mittel und Unterstützung zu verfügen, ist ein schlechter Scherz. Die Frage der Reichweite und des gleichen Zugangs zu den Menschen- und Grundrechten bricht in dem Moment auf, in dem klar wird, dass die Adressierung «Menschen» und «Bürger:innen» nicht jede Person selbstverständlich mit einschliesst. Ob eine Person in den Genuss der fundamentalen Freiheits- und Anspruchsrechte kommt, hängt davon ab, dass sie mit all dem, was ihre Identität ausmacht, als «Mensch» und «Bürger:in» respektiert und anerkannt wird. Der neuzeitliche Universalitätsfokus des Rechts führt zu einer systematischen Ausblendung der diskriminierenden, rassistischen und sexistischen Definition dessen, was einen Menschen und eine:n Bürger:in ausmacht, welche Attribute als «normal» dazugehören und welche Merkmale als «unnormal» oder Abweichung ausgeschlossen werden. Das Ungleichheitsproblem besteht nicht im Blick auf die formale Rechtsegalität der Person, sondern hinsichtlich der Begrenztheit der Attribute der Person, die rechtlich garantiert und geschützt werden.
Die Kontroverse zwischen der Forderung nach strafrechtlicher Normierung von Konversionsmassnahmen (3.1), dem Primat der Selbstbestimmung (3.2) und der menschenrechtlichen Deklarierung (3.3) besteht in der unterschiedlichen Beurteilung der Inklusivität und Wirksamkeit bestehender Rechtsordnungen. Während die Positionen 3.1 und 3.3 aus moralkritischer Perspektive eine explizite straf- bzw. menschenrechtliche Normierung fordern, um Konversionsmassnahmen wirksam zu sanktionieren und die davon betroffenen Personen effizient zu schützen, hält die Position 3.2 aus liberaler Sicht die geltenden Gesetze und bestehenden Standesregelungen für ausreichend. Beide Seiten können sich auf plausible Gründe berufen, aber beide Argumentationsrichtungen setzen eine Rechtsperson und -funktion voraus, die in der Realität so nicht vorkommen. Die Schwierigkeit begegnet bereits bei Immanuel Kant, der sich den Kosmos der praktischen Vernunft als einen globalen Gerichtssaal vorzustellt, in dem die autonomen Subjekte – gleich Iustitia, der Göttin des Rechts – mit verbundenen Augen durch die Welt laufen und jedem Mitmenschen «ohne Ansehung der Person» begegnen.
Das so konstruierte neuzeitliche Rechtssubjekt bildet – mit einem Bild von Slavoj Žižek – eine Art entkoffeinierten Standardbürger, der einem bekannten Zähmungsschema folgt: «Heutzutage ist eine ganze Reihe von Produkten auf dem Markt, denen ihre schlechten Eigenschaften entzogen wurden: Kaffee ohne Koffein, Sahne ohne Fett, Bier ohne Alkohol. Und die Liste lässt sich fortführen: Wie wäre es mit virtuellem Sex als Sex ohne Geschlechtsverkehr? Oder mit Colin Powells Doktrin vom Krieg ohne Opfer (auf unserer Seite, natürlich) als Krieg ohne Krieg?» Danach werden gleichgeschlechtlich, genderinkongruent empfindende oder Trans*personen gleichbehandelt, wenn sie von ihrer Genderidentität abstrahieren, sodass niemand damit konfrontiert wird. Respektiert und anerkannt werden genau jene Merkmale einer konkreten Person, die mit dem dominierenden cis-heteronormativen Menschenbild übereinstimmen. Das neuzeitliche Gleichheitsprinzip hat keine Schwierigkeiten mit dem formalen Rechtssubjekt, auf das es fixiert ist, aber massive Probleme mit der politischen Realität, in der moralische Menschenbilder über die Anerkennung einer Person als Rechtssubjekt entscheiden. Universale Gleichheit ist eine Egalität der Subtraktion, bei der alles abgezogen wird, was mit den Standardsichtweisen und Konformitätsforderungen kollidiert.
Wenn diese knappe Gebrauchsanweisung des neuzeitlichen Rechtssubjekts zutrifft, löst sich die Kontroverse zwischen den drei Positionen auf, weil sie je auf ihre Weise auf das falsche Pferd des Rechts setzen. Die Selbstbestimmungsposition beruft sich korrekt auf die universale Geltung der Persönlichkeitsrechte und die Strafrechts- und Menschenrechtsposition bemängeln ebenso zutreffend die partikulare Auslegung dessen, was als schützenswerte Aspekte zu jeder Person gehört. Alle drei übersehen aber, dass das Recht nur ein Regulativ für die Praxis lebensweltlicher Wahrnehmungen und Urteile darstellt. Das Recht fordert, dort wegzusehen, wo es lebensweltlich gerade darauf ankommt, genau hinzuschauen. Lebenswelten, soziale Gemeinschaften und politische Gesellschaften konstituieren sich über Aufmerksamkeit, Sichtbarkeit, Präsenz und Anerkennung und nicht über ein künstliches Ausblenden dessen, was eine Person als genau diese Person ausmacht. Die zurecht angeprangerten Diskriminierungen, Stigmatisierungen und Ausgrenzungen sind kein eigentliches Problem des Rechts (das die gleiche Anerkennung aller Rechtssubjekte selbstverständlich voraussetzt), sondern einer das Recht für sich nutzenden Moral und deshalb ist es fraglich, ob die prekären Ungleichbehandlungen rechtlich bearbeitet und gelöst werden können.
Während der Arbeiten des Rates EKS zum Thema «Religiöse Konversion im Asylverfahren» kam es zu einem Missverständnis, weil der religiöse Glaubenswechsel mit Konversionsbehandlungen der sexuellen Orientierung verwechselt wurde. Natürlich haben die Themen nichts miteinander zu tun, allerdings begegnet in beiden Zusammenhängen der Konversionsbegriff und der Wechsel oder Wandel hängt eng (wenn auch nicht ausschliesslich) mit religiösen Überzeugungen zusammen. Aus der Perspektive der religiösen Konversion hat Henning Theissen die rechtliche Gleichbehandlung von religiösem Glauben und sexueller Orientierung im Asylverfahren kritisiert, weil die sexuelle Orientierung im Gegensatz zum religiösen Bekenntnis nicht gewechselt werden könne. Unabhängig davon, ob diese Unterscheidung zutrifft, geht es auch hier um die Entkoffeinierungsfrage: Im Blick auf welche Aspekte ihrer Identität kann einer Person zugemutet werden, auf deren (öffentlichen) Ausdruck zu verzichten? Darf von einer Person in einer repressiven religiösen Gesellschaft erwartet werden, ihre Glaubensausübung auf die Privatsphäre zu beschränken, um keine religiöse Verfolgung zu riskieren? Und darf analog einer Person in einer cis-heteronormativen Mehrheitsgesellschaft zugemutet werden, ihre Geschlechtsidentität in der Öffentlichkeit zu verbergen, um nicht Opfer von Diskriminierung und Stigmatisierung zu werden?
Aufschlussreich ist die Gegenüberstellung beider Konversionskontexte, weil religiöser Glaube und sexuelle Orientierung in der Asyldiskussion als Gründe für eine unzumutbare Gefährdung im Herkunftsland analog behandelt werden, während sie im Zusammenhang der «sexuellen Umpolung» in ein Konfliktverhältnis rücken, in dem der religiöse Glaube die «richtige» und «falsche» sexuelle Orientierung definiert und sanktioniert. Interessant ist weniger, dass bestimmte religiöse Strömungen eine strikt heteronormative Sexualmoral vorschreiben als vielmehr, wie sie mit den konfligierenden religiösen und geschlechtlichen Identitäten umgehen. Tatsächlich lösen sie den Identitätskonflikt auf, indem sie die religiöse Identität mit der «richtigen» und «falschen» sexuellen Orientierung konfrontieren. Aber was heisst es überhaupt, sich sexuell zu orientieren?
«Das Wort ‹orientieren› kommt von lat. ‹oriens›, ‹sich erhebend›: der ‹Orient› ist, von Europa aus gesehen, das Land, das in Richtung der ‹aufgehenden Sonne› (sol oriens) liegt, gegenüber dem ‹Okzident›, dem Land im Westen, wo sie untergeht (sol occidens), und ‹orientieren› heisst ursprünglich also ‹dem Osten zuwenden›.» Allen Orientierungen gemeinsam ist, «dass sie es mit ‹Spielräumen› zu tun haben, in denen Alternativen auftreten, über die entschieden werden muss, dass diese Entscheidungen unter Ungewissheit getroffen werden müssen und darum Mut erfordern. Orientierungen haben darum gemeinsame Strukturen, sind aber nicht einheitlich und dürfen es nicht sein, wenn sie individuellen Situationen gerecht werden wollen.» Um sich zu orientieren, muss eine Person nicht nur die Ordnung kennen, sondern sich auch in dieser verorten, also ihren Standort in der Ordnung identifizieren können. Nach diesem Verständnis wäre die religiöse Identität die Ordnung, in der sich die Person mit ihrem Geschlecht und ihrer Sexualität zu verorten hätte. Die Deutung entspricht im Kern einer fundamentalistisch-christlichen Sicht ebenso, wie der neulutherischen Lehre der Schöpfungsordnungen, die die sexuelle Orientierung zur Frage biblischer Forderungen oder quasi-natürlicher Normen erklären. Verlieben, Begehren und Sex werden zum moralischen Elchtest, wie die alte Frau an Bordsteinkante, die über die Strasse begleitet werden will, oder die gefundene Geldbörse, die ohne vorgängige Plünderung im Fundbüro abgegeben werden soll.
Der Orientierungsbegriff entpuppt sich als Holzweg, weil er die geschlechtliche Anziehung isoliert und kategorisch von der Geschlechtsidentität, dem Geschlecht und Ausdruck abkoppelt. Die sexuelle Orientierung transformiert die Geschlechtsidentität der Person in eine akzidentielle Frage tugendhaften Handelns. Dagegen gilt aus der Perspektive personaler Identität: (1.) Die Geschlechtsidentität (einschliesslich der Anziehung) lässt sich ebenso wenig «von der Identität einer Person subtrahieren wie ein Glaube, der eine Person vollständig bestimmt». Die Person wäre ohne ihre Geschlechtsidentität nicht die Person, die sie ist. (2.) «Die Identität einer Person beschränkt sich nicht auf ihre Innerlichkeit, sondern drückt sich darin aus, […] wie sie von Dritten wahrgenommen und identifiziert wird. Intrapersonale Identität und interpersonale Identifikation stehen in einem unauflösbaren Resonanzverhältnis. In beiden Fällen – der sexuellen Orientierung und der religiösen Identität – geht es um die konstitutive soziale Dimension personaler Identität.» Der Irrtum religiös motivierter Konversionsanhänger:innen besteht aber nicht nur in der Bestreitung der geschlechtlichen Identität der Person, sondern auch in dem Misstrauen gegenüber der religiösen Identität der gläubigen Person. Welche erbärmliche Kleingläubigkeit verbietet die Vorstellung, dass Christus selbstverständlich in Schwulen, Lesben, Trans*-, genderdiversen und geschlechtsinkongruenten Personen lebt? Warum bleibt einer religiösen Sprache, die so demonstrativ auf Liebe setzt, ausgerechnet dort, wo sich Affekte und Emotionen unmittelbar und in grösster Intimität und Zärtlichkeit äussern, die Liebe im Hals stecken? Warum tauscht mit besonderem Ernst auftretende Frömmigkeit die christliche Liebe gegen eine bigotte Moral ein?
Eigentlich dürfte eine christliche – an der paulinischen Theologie – geschulte Sicht von der Pluralität und Diversität menschlicher Lebensformen nicht überrascht sein. Irritationen entstehen nur deshalb, weil die Theologie die Frage, was es für die eigene Geschlechtsidentität bedeutet, dass nicht mehr ich, sondern Christus in mir lebt (Gal 2,20), gescheut hat, wie der Teufel das Weihwasser. Die Verteidigung einer cis-heteronormativen Normalmoral mit den Mitteln der Indoktrination, Stigmatisierung und gewaltsamen Verbiegung der Persönlichkeit von abhängigen Kindern und Jugendlichen und abhängig gemachten Erwachsenen ist präzise das, was die Bibel Götzendienst nennt. Sexuelle Orientierung ist keine religiöse Überzeugung, weil beide Kategorien die Geschlechts- und religiöse Identität auf einen einzigen Nebenaspekt reduzieren. Dagegen kann es einen das gesamte Leben bestimmenden Glauben nur geben, wenn religiöse und Geschlechtsidentität in der gläubigen Person untrennbar zusammengehören.
Text im Original mit Quellen und Fussnoten:
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