«In der Welt habt ihr Angst, aber …»

Freiheit und Sicherheit aus theologisch-ethischer Perspektive

1. Einleitung

«Am Anfang war die Angst: die Angst vor Feinden, Fremdem, wilden Tieren, vor Naturkatastrophen; und daraus resultierend das Bedürfnis nach Sicherheit. Eine Vorbedingung für Sicherheit ist Schutz. Den findet man in der Horde, der Sippe, der Familie, dem Stamm, in Höhlen und anderen geschützten Umgebungen, durch Waffen, aber auch durch Verhandlungen und durch Kontakt mit den Göttern, durch Gebete, Opfer und andere Rituale. Diese Konstellation aus Gefährdung, Sicherheitsbedürfnis und Schutz zieht sich […] in unterschiedlicher Weise durch die gesamte Geschichte der Menschheit. Sicherheit ist ein Grundelement unseres Daseins und ihr Versprechen die zentrale Voraussetzung für Macht.» Mit dieser Bemerkung beginnt der Linguist und Mediävist Klaus-Peter Wegera seine Reise durch die deutsche Wortgeschichte des Schutzbegriffs. Von Freiheit kein Wort – und das bleibt auch so in seinem Schlussresümee: «Geblieben ist die Angst: vor Feinden, Fremden, Naturkatastrophen, Krankheit und Tod (die wilden Tiere haben wir indes ausgerottet, und die, die wir nicht ausgerottet haben, geniessen heute unseren besonderen Schutz). Das Bedürfnis nach Sicherheit ist aber nicht nur geblieben, es ist weiter angewachsen: ‹Die Wahrnehmung dessen, was als Gefahr angesehen wird, wird von einem sich stetig verstärkenden Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft und den sich beständig ausweitenden Sicherheitsversprechen des Staates geprägt.›»

Zivilisation und Kultur sind – nüchtern betrachtet – aus der Not geborene Unsicherheitskompensationsinstitutionen. Dabei gilt: «Sicherheit gibt es nicht, ausser im Moment. Nur Unsicherheit kann als dauerhaft vorgestellt werden.» Sicherheit ist eine «soziale Fiktion», die ihren «utopischen Charakter […] mit anderen Wertbegriffen der Moderne wie ‹Freiheit› oder ‹Gerechtigkeit› [teilt]. Gesellschaftliche Wertideen sind wie Sterne: unerreichbar und doch richtungweisend.»

In der jüngsten Sicherheitsstudie der Militärakademie an der ETH Zürich von 2023 wurde die Bevölkerung erstmals nach den aus ihrer Sicht drei grössten Bedrohungen für die Schweiz gefragt. Am häufigsten genannt wurden: 1. Kriege und Konflikte (41.8%), 2. Zerstörung der Natur (33.8%), 3. Finanz und Wirtschaftskrisen (31.3%); 4. Energiekrise (14.5%), 5. Migration (11.3%), 6. Politische Grosswetterlage (9.9%), 7. Radikalismus und Polarisierung (9.0%), 8. Epidemien und Pandemien (8.2%), 9. Souveränitätsverlust der Schweiz (7.9%) und mit gleicher Häufigkeit 10. Cyber Bedrohungen (7.9%). Die Autor:innen resümieren: «Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Krieg in der Ukraine die Bedrohungswahrnehmung der Schweizer Stimmberechtigten massgebend beeinflusst. Unter den fünf meistgenannten Bedrohungen finden sich insgesamt vier Themen, welche mit Kriegen in Verbindung gebracht werden können. Neben ‹Kriegen und Konflikten› sind dies ‹Finanz- und Wirtschaftskrisen›, die ‹Energiekrise› und ‹Migration›. Unabhängig davon ist die Klimakrise ebenfalls noch immer präsent, was sich durch das Thema ‹Zerstörung der Natur› auf Platz zwei zeigt.»

Zwei Aspekte sind bemerkenswert. 1. Fundamentale Existenzängste spiegeln sich in den Umfrageergebnissen kaum wider. Einmal abgesehen von dem aktuellen Einfluss des Ukraine-Kriegs tauchen an 8. Stelle die Bedrohung durch «Epidemien und Pandemien» – wiederum als Folge der Corona-Pandemie –, an 13. Stelle «Gewalt und Kriminalität» (6.7%) und erst an 25. Stelle «Naturkatastrophen» (2.3%) auf. In vielen, vermutlich sogar der Mehrzahl der Weltregionen würden die Bedrohungen durch Gewalt, Kriminalität, Naturkatastrophen und Krankheiten weitaus höher eingestuft werden als in der Schweiz. Die ursprünglichen und mit der menschlichen Existenz gegebenen Unsicherheiten spielen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von hochentwickelten westlichen Technologiegesellschaften nur eine nachgeordnete Rolle. 2. Ein ähnlicher Befund ergibt sich im Blick auf freiheitsbedrohende Faktoren: An 7. Stelle werden «Radikalisierung und Polarisierung», an 9. Stelle «Souveränitätsverlust der Schweiz» und erst an 23. Stelle «Autokratisierung» (2.8%) genannt. Es gibt zwar eine Aufmerksamkeit für demokratie- und freiheitsgefährdende Entwicklungen, aber diese werden relativ zu anderen Unsicherheiten deutlich niedriger eingestuft.

2. Die politische Konstruktion von Sicherheit und Freiheit

Ohne staatliche Absicherung sind unsere Freiheiten gefährdet. Zur Freiheit gehört etwa, sich ohne Bedrohung in der Öffentlichkeit bewegen zu können. Was nützt die persönliche Bewegungsfreiheit, wenn sich kein Mensch mehr aus dem Haus auf die Strasse traut? Unsere Freiheiten können wir selbst wahrnehmen, aber die Bedingungen dafür nicht selbst herstellen. Das moderne Freiheitsverständnis ist zweigeteilt: Die negative Freiheit richtet sich gegen unzulässige Übergriffe von anderen. So schützt die Gewissens- und Religionsfreiheit die eigenen Überzeugungen und den eigenen Glauben vor Indoktrination und Verfolgung durch Andersdenkende und Andersgläubige. Die positive Freiheit formuliert die Ansprüche, auf die jede Person ein Anrecht hat. Die Menschenrechte definieren solche grundlegenden Rechte und Güter, etwa Schutz der Persönlichkeit, Nahrung, Unterkunft, Bildung und Gesundheitsversorgung. Zwar ist jeder Mensch als Mensch frei, aber der Staat muss die Bedingungen schaffen, damit seine Bürger:innen darin tatsächlich in Freiheit leben können.

Die unspektakuläre Verbindung von Sicherheit und Freiheit in demokratischen Rechtsstaaten wird in der Regel erst dann sichtbar, wenn Freiheiten um der Sicherheit willen – über ein normales Mass hinaus – begrenzt werden. Einschränkungen von Grundrechten müssen nach Artikel 36 Bundesverfassung (1.) auf gesetzlicher Grundlage, (2.) im öffentlichen Interesse erfolgen und (3.) verhältnismässig sein. Das öffentliche Interesse und die Verhältnismässigkeit sind keine festen Grössen, sondern hängen ab von der Wahrnehmung und Beurteilung aktueller Unsicherheitslagen. Das bringt jede Sicherheitspolitik ins Schwitzen. Denn sie muss in der Gegenwart entscheiden und handeln, um ein aktuell nicht vorhandenes, aber in Zukunft möglicherweise eintretendes Ereignis zu verhindern. Es geht um Entwicklungen oder Szenarien, die noch nicht eingetreten sind, und möglicherweise auch nicht eintreten werden, aber auf die, wenn sie doch eintreten, nicht mehr reagiert werden kann. Je realer und gravierender die Gesellschaft eine Gefährdung oder Bedrohung eingeschätzt, desto grösser ist ihre Zustimmung zu freiheitsbeschränkenden Sicherheitsmassnahmen. Die grosse gesellschaftliche Zustimmung zu den staatlichen Corona-Beschränkungen am Beginn der Pandemie sank später in dem Mass, wie die Beurteilung der Gefährdungslage zwischen Staat und Gesellschaft auseinanderging. Die staatlichen Massnahmen genügten nicht mehr dem fundamentalen liberalen Grundsatz: Nicht Freiheiten, sondern Freiheitsbeschränkungen sind begründungspflichtig. Darin kommt der Unterschied zwischen Gefahren und Risiken zum Ausdruck. Während Gefahren schicksalhafte Unglücke sind, auf die nicht handelnd zugegriffen werden kann, betreffen Risiken beeinflussbare Ereignisse, die um eines Vorteils willen eingegangen oder aus Vorsicht vermieden werden. Der Erfolg moderner Zivilisationen zeigt sich in den wissenschaftlich-technologischen Möglichkeiten – etwa der Medizin und Biotechnologien –, Gefahren in Risiken zu transformieren. Damit dehnt sich die Handlungsfreiheit immer weiter aus. Der Preis dafür besteht einer enormen Zunahme der Entscheidungslast und Verantwortung. Denn im Gegensatz zu Gefahren betreffen das Eingehen und Vermeiden von Risiken das menschliche Urteilen, Entscheiden und Handeln.

Die einflussreichste politische Erzählung über Sicherheit und Freiheit in der Neuzeit stammt vom englischen Philosophen Thomas Hobbes (1588–1679). Er hatte unter dem Eindruck des englischen Bürgerkriegs 1651 ein staatstheoretisches Werk verfasst, das als Titel den Namen des kosmischen Seeungeheuers aus Hi 40f. «Leviathan» trug. Die Staatstheorie bietet eine bis heute gängige Begründung des Rechtsstaats, staatlichen Gewaltmonopols und der demokratischen Legitimation von Herrschaft: «Die Absicht und Ursache, warum die Menschen bei all ihrem natürlichen Hang zur Freiheit und Herrschaft sich dennoch entschliessen konnten, sich gewissen Anordnungen, welche die bürgerliche Gesellschaft trifft, zu unterwerfen, lag in dem Verlangen, sich selbst zu erhalten und ein bequemes Leben zu führen; oder mit anderen Worten, aus dem elenden Zustand eines Krieges aller gegen alle gerettet zu werden. Dieser Zustand ist aber notwendig wegen der menschlichen Leidenschaften mit der natürlichen Freiheit solange verbunden, als keine Gewalt da ist, welche die Leidenschaften durch Furcht vor Strafe gehörig einschränken kann und auf die Haltung der natürlichen Gesetze und der Verträge dringt.»

Hobbes beginnt mit einer erfundenen Geschichte vom Naturzustand, in dem alle Menschen in «natürlicher Freiheit» existieren, eine Art tiefergelegtes Paradies. Es ist ein Leben in völliger Herrschaftsfreiheit, die «ein Recht selbst auf den Körper des anderen» einschliesst und deshalb die grösste Unsicherheit bedeutet: «der Mensch ist dem Menschen ein Wolf». Daraus zieht der Philosoph den Schluss, dass ein Leben in Sicherheit nur möglich ist, wenn alle Menschen auf ihre «natürlichen Freiheiten» verzichten und an den Staat übertragen. Dieser verfügt dann über die notwendige und legitime Macht und das Gewaltmonopol, um staatliche Gesetze und Ordnungen aufzustellen, durchzusetzen und zu verteidigen. Auf der Soll-Seite tauschen die Bürger:innen die Unsicherheiten ihrer natürlichen Existenz gegen Pflichten gegenüber dem Staat und bei Zuwiderhandeln das Risiko polizeilicher Verfolgung und rechtlicher Bestrafung. Die Gewalt verschwindet zwar nicht, aber sie kann von den Bürger:innen als staatlich geordnete Gewalt erwartet und kalkuliert werden. Auf der Haben-Seite erhalten die Bürger:innen für ihren Verzicht auf Gewaltgebrauch ein staatlich garantiertes Recht auf Sicherheit und Freiheit. Nachfolgend hat der Philosoph Immanuel Kant begründet, dass die Freiheit begrenzt werden müsse, damit die Freiheit jeder einzelnen Person wirksam geschützt werden könne. Die Freiheit der Person endet dort, wo sie in die Freiheit jeder anderen Person eingreift. Deshalb ist «Freiheit […] immer die Freiheit der Andersdenkenden». Immer neu abgewogen werden müssen das Verhältnis von Freiheit und Unsicherheit und umgekehrt das Verhältnis von Sicherheit und Unfreiheit. Das geschieht in demokratischen Rechtsstaaten zwischen den Polen «in dubio pro libertate», im Zweifel für die Freiheit, und «in dubio pro securitate», im Zweifel für die Sicherheit.

3. Äussere und innere Sicherheit

In aktuellen Diskussionen begegnen Sicherheit und Freiheit durchweg als politische Kategorien. Das gilt im übertragenen Sinn auch für die christliche Freiheit. Paulus (1Kor 9,19) und später besonders prominent Martin Luther beschreiben sie als Doppelexistenz von Freiheit und Knechtschaft. Dahinter steht das Bild von der christlichen Doppelbürger:innenschaft: als unfreie Fremde im irdischen Staat und als freie Mitbürger:innen der göttlichen Polis: «Ihr seid also nicht mehr Fremde ohne Bürgerrecht, ihr seid vielmehr Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes.» (Eph 2,19) Die Wohngemeinschaft Gottes kennt keine Unsicherheit, aber die Welt bleibt auch für Christ:innen ein durch und durch unsicherer Aufenthaltsort. Dabei muss berücksichtigt werden, dass den Menschen der Bibel und der Antike unsere Verständnisse von Sicherheit und Freiheit fremd sind. Für sie ist die Unsicherheit omnipräsent. «Windhauch um Windhauch, sagte Kohelet, Windhauch um Windhauch: Alles vergeht und verweht. Welchen Gewinn hat der Mensch bei aller Arbeit, mit der er sich unter der Sonne abmüht?» (Koh 1,2f.) Und David erkennt: «Des Menschen Tage sind wie Gras, er blüht wie eine Blume des Feldes: Wenn der Wind darüber fährt, ist er dahin, und seine Stätte weiss nicht mehr von ihm.» (Ps 103,15f.) Ihre und unsere Welt trennen eine enorme wissenschaftlich-technologische Entwicklungsgeschichte mit gravierenden Wirkungen auf Politik und Kultur. Die damaligen Menschen leben in einer gefährlichen Welt und nicht in modernen Risikogesellschaften. Die politischen und rechtlichen Verhältnisse bieten nicht die Persönlichkeits-, Schutz- und Sicherheitsgarantien moderner demokratischer Rechtsstaaten ganz zu schweigen von der völligen Abwesenheit moderner sozialer, gesundheitlicher und finanzieller Sicherungssysteme. Die Menschen der Bibel und Antike stehen weniger vor der Frage, was sie mit und aus ihrem Leben machen können, als vielmehr vor der umgekehrten Frage, was das Leben mit und aus ihnen macht.

Wenn es unmöglich ist, sich vor äusseren Katastrophen, Unglücken und Schicksalsschlägen wirksam zu schützen, bleibt nur die Alternative einer von den äusseren Umständen und Einflüssen unabhängigen, inneren Sicherheit. Dieser Zusammenhang spiegelt sich im lateinischen Ausdruck securitas wider, der gewöhnlich mit Sicherheit übersetzt wird, aber wörtlich – als Kopplung von sine + cura (ohne Sorge) – «Sorgenfreiheit» oder «Seelenruhe» bedeutet. Der römische Schriftsteller Cicero, von dem der Begriff securitas überliefert ist, greift auf epikureisch-stoische Vorstellungen von der Unerschütterlichkeit (griech. ataraxia) und der Freiheit von Leidenschaften (griech. apathia) als Ziel des guten Lebens zurück. Securitas meint das «Freisein des Geistes von jeglicher Aufregung, Begierde, Furcht, Ärger, Lust und Zorn, d. h. von sämtlichen Leidenschaften», aus der «Standhaftigkeit und Würde» resultieren, die die Grundlage für weitere erstrebenswerte Charaktereigenschaften bilden. Mit den Worten Ciceros: «Sicherheit nenne ich jetzt die Freiheit von Kummer, worin eben das glückliche Leben besteht.» Die christliche Tradition übernimmt zwar zunächst die securitas und nach der Konstantinischen Wende im 4. Jahrhundert werden der Frieden und die Sicherheit des Staates fester Bestandteil der kirchlichen Liturgie. Aus theologischer Sicht wird aber securitas von Anfang an ambivalent beurteilt. Die Sorgenfreiheit könne – so der Vorwurf – zu einer Sorglosigkeit (lat. acedia) verführen. Das Mönchtum befürchtet darin eine «Erschlaffung der Seele und Entkräftung des Geistes», Augustinus prangert ihren Mangel an Gottesfurcht an, und Thomas von Aquin zählt sie als Flucht vor Gott zu den Todsünden. Die theologische Kritik führt zur sukzessiven Ersetzung des Ausdrucks securitas durch den Begriff certitudo, die Gewissheit. Die Glaubens- und Heilsgewissheit ist eine göttliche Gabe des Glaubens und wird kategorisch unterschieden von der menschlichen Sicherheit. Die Subjekte von Sicherheit sind die handelnden Menschen, aber Gewissheit können sie sich nicht selbst gewinnen, weil sie nur von Gott selbst bewirkt werden kann.

Zusammenfassend lässt sich sagen:

  1. Sicherheit und Freiheit haben eine politische, soziale und personale Dimension, die unterschiedlich bestimmt und gewichtet werden.
  2. Sicherheit ist ein Wert bezogen auf eine geplante, erwartete oder angestrebte Zukunft. Begriffsgeschichtlich verschiebt sie sich aus dem Inneren der Person in die politische Sphäre.
  3. Freiheit kennzeichnet einen politischen Status, einen inneren Zustand oder eine alle Menschen auszeichnende Qualität.
  4. Unsicherheiten betreffen entweder schicksalhafte Gefahren und Bedrohungen, auf die Menschen keinen Einfluss nehmen können, oder Risiken, die prognostizierbar, kalkulierbar und entscheidbar sind.
  5. Während in der Antike Sicherheit vor allem als Freiheit von innerer Verunsicherung und Sorge begegnet, wird Freiheit in der Neuzeit personalisiert und zu einem gefährdeten Gut, das immer neue Sicherheitsbedürfnisse weckt.
  6. Im Anschluss an Thomas Hobbes geht die grösste Unsicherheit von der friedlosen menschlichen Natur aus, die nur durch einen starken Staat mit Rechtsordnung und Gewaltmonopol gebändigt werden kann. Die befriedende Ordnungsgewalt des Staates schafft die Bedingungen für Sicherheit und Freiheit.
  7. Sicherheit ist kein genuiner biblisch-theologischer Begriff; gegen die menschliche Haltung der Sorgenfreiheit setzen Kirche und Theologie die göttliche Gabe der Glaubens- und Heilsgewissheit.

4. Vulnerabilität und Resilienz

In der Gegenwart verlagert sich die Diskussion über Sicherheit und Freiheit auf das neue Begriffspaar «Vulnerabilität» und «Resilienz». Beide Begriffe reagieren auf einen Denkfehler Thomas Hobbes’. Bei ihm tauchen die Menschen als anthropologisches Phantom von Einzelgänger:innen auf, die zu Bestien werden, sobald sie aufeinandertreffen. Die Menschen sind einfach da, als eltern- und beziehungslose, erwachsene, männliche Individuen ohne Kindheit. Unbeantwortet lässt der Philosoph die Frage seiner späteren Kollegin Judith Butler, «[w]ie wir zu Individuen wurden, [...] und wir erfahren auch nicht, weshalb genau der Konflikt unsere erste leidenschaftliche Beziehung zueinander ausmacht und nicht Abhängigkeit oder Bindung […]. Welche Unterstützung, welche Abhängigkeit muss man verleugnen, um zur Phantasievorstellung der Selbstgenügsamkeit zu gelangen, um Geschichte mit zeitloser erwachsener Maskulinität beginnen zu lassen?» Hobbes und die vielen, die ihm nachfolgten, ignorieren, dass sich «menschliches Leben in einem spannungsvollen Dialog zwischen Abhängigkeit und Selbstbehauptung, zwischen Bindung und Autonomie vollzieht», und dass menschliches Leben durch die fundamentale Wiederfahrnis von Verletzlichkeit bestimmt wird. Darauf beziehen sich die neuen Begriffe «Vulnerabilität» und «Resilienz».

Der Vulnerabilitätsbegriff stammt aus der Entwicklungspsychologie, Armutsforschung und Entwicklungspolitik und wandert nach 9/11 in die Politikwissenschaften und politische Philosophie ein. Die Vulnerabilitätsforschung in Natur- und Ingenieurwissenschaften, Klimaforschung und Technology Assessment befasst sich mit der Analyse von systemischen Schwachstellen. Im Kontext der Humanwissenschaften bezeichnet «Vulnerabilität […] ein anthropologisches Grunddatum. Sie dementiert jede Form von Überhöhung, die den Menschen zuallererst als autarkes Wesen deutet, das erst durch widrige Umstände in seiner Selbstgenügsamkeit und Stärke beeinträchtigt wird und nur dann auf solidarische Unterstützung angewiesen ist. Stattdessen gilt: ‹Wir Menschen alle sind bedürftig und […] aufeinander angewiesen› – und zwar hinsichtlich sowohl der leiblichen wie der psychosozialen Dimension menschlicher Existenz. Physisch vulnerabel ist der Mensch als körperliches Wesen insbesondere aufgrund seines leiblichen Empfindens von Leid und Schmerz. Sozial und psychisch verletzbar ist der Mensch insbesondere deshalb, weil er auf verlässliche Beziehungen und Bindungen, auf entgegenkommende Begleitung und Unterstützung und darin auf Anerkennung und Wertschätzung angewiesen ist.»

Der Resilienzbegriff hat seinen Ursprung in der Materialforschung «und bezeichnet die Fähigkeit hochelastischer Werkstoffe, nach einer Verformung wieder in den ursprünglichen Zustand ‹zurückzuspringen› (lat. resilio)». Auf die Humanwissenschaften übertragen meint Resilienz «die Kraft, inmitten der Situation der Verletzlichkeit und des konkreten Verletztseins mit den daraus resultierenden Herausforderungen so umzugehen, dass die Möglichkeit eines gelingenden Lebens offenbleibt oder durch die erhöhte Sensibilität für die Verletzlichkeiten und Stärken des Lebens sogar gesteigert werden kann. Der resiliente Mensch ist deshalb keine Person, die sich gegen alle Verletzlichkeiten weitgehend abzuschirmen oder ihr Angewiesensein auf andere möglichst gering zu halten bemüht ist, sondern eine, die dieses wechselseitige Angewiesensein als Potenzial gemeinsamer Stärke erkennt und mit ihr die Fragilitäten des Lebens produktiv zu gestalten lernt.»

5. Verletzliches Leben zwischen technischer Abschaffung und widerständiger Annahme

Grundlegend für das Verständnis von Vulnerabilität und Resilienz ist die Unterscheidung zwischen den Kategorien Verwundbarkeit, Wunden und Verletzlichkeit. Verwundbarkeit bezeichnet eine Eigenart technologischer und gesellschaftlicher Systeme und ist Gegenstand der Sicherheitspolitik von Staaten und Staatenbünden. Analog zur Umstellung von Gefahren auf Risiken richtet sich der sicherheitswissenschaftliche und -politische Fokus weniger auf äussere Bedrohungslagen als auf die eigenen Verwundbarkeiten. Es geht nicht darum, Sicherheit herzustellen, sondern Unsicherheit praktikabel zu machen, systemische Resilienz zu steigern und die Flexibilität im Umgang mit der eigenen Vulneranz zu erhöhen. Beispielhaft dafür stehen die aktuellen Debatten über kritische Infrastrukturen und über asymmetrische Konflikte wie Terrorismus und Cyberkriminalität.

Bei der Kategorie der Wunden muss zwischen der Perspektive der Betroffenen und der von Dritten unterschieden werden. Biblisch gesprochen konfrontieren uns die Wunden der anderen mit den Forderungen der Seligpreisungen, der Nächsten-, Fremden- und Feindesliebe, nach Frieden und Gerechtigkeit. Die Perspektive von Dritten ist die der Verantwortung, der rechtlichen und ethischen Schutz-, Sorge- und Solidaritätspflichten gegenüber den Opfern von Gewalt und Ungerechtigkeit. Davon unterschieden ist die Perspektive der Gewaltopfer. Bei Resilienz hängt alles davon ab, wer spricht. Ein Beispiel: In der ersten Prüfung der Wette zwischen Gott und Satan verlor Hiob alle Kinder und seinen gesamten Besitz. «Da stand Hiob auf und zerriss sein Gewand und schor sein Haupt, und er liess sich zur Erde sinken und warf sich nieder und sprach: Nackt bin ich gekommen aus dem Leib meiner Mutter, und nackt gehe ich wieder dahin. Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gepriesen.» (Hi 1,20f.) Dagegen die Szene aus Arno Schmidts «Leviathan»: «Noch einmal klatschte einer eine hysterische MG-Salve in die Baumstämme, dann drehten sie ab und raupten wieder zurück ins Wäldchen. Wir rannten sofort geduckt hinter der Böschung zurück: da war der Boden rot; rot ach. Einer der alten Bauern sass stumpf und hielt den tropfenden schlenkernden Arm. Und eins der Kinder war fast völlig zerrissen von zwei Riesensplittern, Hals und Schultern, alles. Die Mutter hielt noch immer den Kopf hoch und sah wie verwundert in die fette karminene Lache. [...] Der Pfarrer tröstete die weinende Frau; er meinte: ‹Der Herr hat’s gegeben; der Herr hat’s genommen› – und, hol’s der Teufel, der Feigling und Byzantiner setzte hinzu: ‹Der Name des Herrn sei gelobt!›» Obwohl Hiob und der Pfarrer den gleichen Satz sagen, sind ihre Äusserungen durch einen Abgrund voneinander getrennt. Schwindelerregend demonstriert das Opfer Hiob seine Treue zu Gott – eine aus unserer Sicht ungewöhnliche, aber ursprüngliche Form von Resilienz. Aus dem Mund des Pfarrers an das Opfer gerichtet, wird das Bekenntnis Hiobs zur Verhöhnung des getöteten Kindes und der trauernden Mutter. Wenn die Täter:innen und Dritte die Sprache der Opfer okkupieren, werden die gleichen Wörter zur blanken Gewalt. Deshalb kann von Resilienz ausschliesslich in der 1. Person gesprochen werden.

Hiobs Bekenntnis leitet über zur dritten Kategorie der Verletzlichkeit als ein Merkmal alles Lebendigen. Die Bibel deutet die kreatürliche Verletzlichkeit als Folge des Sündenfalls, über die die gesamte Schöpfung seufzt (Röm 8,22). Sünde meint kein moralisches Vergehen, sondern die kreatürliche Existenz neben der Spur: ängstlich, mühselig, gewalttätig und tödlich. Das bestätigt Jesus in seinem Abschiedswort an die Jünger: «In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.» (Joh 16,33) In einer Welt jenseits ihrer Bestimmung gibt es kein angstfreies Leben. Bei Jesus folgt nach dem «aber» keine Resilienz-Strategie, vielmehr verweist auf seine Überwindung der Welt, in der die Angst zuhause ist. Wenn aber die Angst konstitutiv zur Welt gehört, ist es aussichtslos, in ihr den Frieden, die Freiheit, Gerechtigkeit und Versöhnung finden zu wollen, die das endgültige Ende der Angst bedeuten. Die Angst im Sog der geschöpflichen Verletzlichkeit lässt sich nicht handelnd aus der Welt schaffen. In der Welt kann sie «nur» «im Horizont einer Öffnung und Überschreitung der natürlichen Wirklichkeit für eine ganz andere Realität» entmächtigt werden.

Gegenüber den aktuellen Vulnerabilitätsdiskursen unterscheidet die Bibel weiterhin zwischen der Passivität des Opfer-Seins (victim) und der Aktivität der Sich-Opferns (sacrifice). Die Theologin Hildegund Keul präzisiert: «Victim bedeutet Opfer, insofern man Schaden erleidet, Gewalt erfährt, verletzt und damit geschwächt wird. Als Victim ist man passiv. Es passiert etwas, auf das man zunächst keinen Einfluss hat – man wird verwundet und damit victimisiert. Sacrifice bedeutet das Opfer, das man um eines höheren Zieles willen bringt. Man handelt selbst, ist aktiv. Aber jedes Sacrifice hat zugleich einen Victim-Anteil, denn man gibt etwas her, man riskiert, dass man verwundet wird – oder, und das macht die Sache besonders heikel, dass Andere verwundet werden. Ein Sacrifice erhöht eigene oder fremde Verwundbarkeit. Victim und Sacrifice, Verwundbarkeit und Resilienz bilden miteinander ein sehr bewegliches und zugleich fragiles Spannungsfeld.» Die aktive Selbst-Opferung verbinden aus phänomenologischer Sicht die Kreuzigung Jesu und die antifaschistischen Widerstandskämpfer:innen mit dem Selbstmordattentäter Simson (Ri 16) und den japanischen Kamikaze-Piloten. Der intuitive Widerstand, Jesus und Selbstmordattentäter in einem Atemzug zu nennen, verweist auf die prekäre Ambivalenz von sacrifice, das jede Sicherheitsüberlegung für sich und andere in den Wind schlägt. An dieser Stelle kommen sich die Gewalt, die Menschen zu Opfern macht, und die Gewalt, die die opferwillige Person gegen sich selbst richtet, sowie die Gewalt, mit der die sich opfernde Person andere zu Opfern macht, gefährlich nahe.

Auch alltägliche Praktiken von Vulnerabilität und Resilienz finden nicht jenseits von Machtstrukturen und Gewaltverhältnissen statt, sondern sind darin eingebettet und manchmal bis zur Unkenntlichkeit in diese verwickelt. Eine häufige Reaktion auf Verwundbarkeit besteht darin, «sich selbst durch immer mehr Gewalt gegen Andere unverwundbar zu machen». Der aktuelle Israel-Gaza-Konflikt zeigt, wie die eigene Verwundbarkeit durch die Massaker der Hamas-Terroristen in Israel in einen Selbstschutz umschlägt, der «andere Menschen ihrer Verwundbarkeit aussetzt». Strategien des Selbstschutzes müssen nicht notwendig auf tatsächliche Wunden reagieren, es reicht bereits die «Angst davor, verwundet zu werden», wie die europäische Flüchtlings- und Asylpolitik zeigen. Darüber hinaus beschränkt sich der Selbstschutz häufig nicht auf die eigene Person und ihre Wunden, sondern auf alles, «womit man sich verbunden fühlt und sich identifiziert, wie vor allem die eigenen Kinder, aber auch die eigene Gesellschaft, Kultur oder Religion». Der Übergänge zwischen den Kategorien Wunden und Verwundung sind fliessend. «In den Angriffen auf die Redaktion von Charlie Hebdo (Januar 2015), die Konzerthalle Bataclan (November 2015) oder den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz (Dezember 2016) verkörpert sich die Vulnerabilität der Gesellschaft […]. Die tödliche Verwundung überschreitet den Lebensraum der Einzelnen und greift mit unerhörter Macht auf die Öffentlichkeit zu. Staat, Kultur und Religion werden in ihrer Verwundbarkeit blossgestellt.» Vulnerabilität kann als Verletzung von Stolz und Ehre besonders in neonationalen Stimmungen die Gewalt weiter anheizen.

Aber auch persönliche Resilienz-Strategien werfen Fragen auf im Blick auf. Die Theologin Rebekka Klein kritisiert solche Selbsttechniken als Ökonomien der Machbarkeit des Lebens. «[B]egleitet wird die sich in der Gegenwart vollziehende Ökonomisierung unseres Lebensvollzuges durch eine entsprechende Mindstyle-, Therapie- und Ratgeberkultur. Diese suggeriert, dass Menschen alles, aber auch wirklich alles, was ihnen widerfährt, über kurz oder lang in den Griff bekommen können. [… E]s soll den Menschen weisgemacht werden, dass es nichts gibt, was ihnen im echten Sinne widerfahren könne – nichts, das nicht durch ihre innere Einstellung in Glück, Freude und inneres Wachstum verwandelt werden kann.» Die Kritik geht in zwei Richtungen. Einerseits wendet sie sich gegen den Anspruch eines überzogenen Souveränitätsideals, das das eigene Leben vollständig selbst in der Hand behalten will und die Eingriffe des vulnerablen Lebens in die eigene Selbstbestimmung ignoriert. Andererseits richtet sich die Kritik gegen eine unreflektierte Anpassung an Erwartungen, die durch die gesellschaftliche und kulturelle Konstruktion von Vulnerabilität erzeugt werden. Der Wunsch, Wunden zu vermeiden, führt dazu, dass die Zusammenhänge und Strukturen, die sie verursachen und zufügen, nicht hinterfragt werden. Stattdessen findet eine fatalistische Anpassung statt, bei der die widerständigen Potentiale von Vulnerabilität verloren gehen.

Ambivalent ist schliesslich auch die Kategorie der Verletzlichkeit als conditio humana. Eine Verallgemeinerung von Verletzlichkeit kann dazu führen, dass die Opfer von Gewalt, Unrecht und Ungerechtigkeit übersehen und ihre Leiden als unabwendbar festgeschrieben werden. Zugleich droht eine zynische Harmonisierung mit dem Leiden, bei der die «gewaltvollen Beschädigungen oder Traumata des Subjekts verharmlost oder sogar vollständig unterschlagen werden». Das gilt in gleicher Weise für biblisch-theologische Aussagen über die Erlösungsbedürftigkeit der Schöpfung. Die entscheidende Frage lautet auch hier: Wer spricht? Ich selbst kann mein Unglück als Ausdruck meiner Erlösungsbedürftigkeit begreifen. Aber es wäre eine zynische Instrumentalisierung der biblischen Botschaft, wenn ich auf das Leiden einer anderen Person mit dem Hinweis auf ihre Erlösungsbedürftigkeit reagieren würde. Aussagen über die menschliche Verletzlichkeit gehören nicht zum Sprachspiel von Begründungen. Verletzlichkeit ist und bleibt ein anstössiges und prekäres Grenzphänomen, das prinzipiell durch nichts gerechtfertigt werden kann. Das Seufzen der Kreatur gründet in der Angst, an der kein einziges gutes Haar zu finden ist.

6. Tröstliches und Untröstliches

Das klingt reichlich ernüchternd und tatsächlich lassen sich politische und gesellschaftliche Sicherheitsbedürfnisse nicht theologisch begründen und regeln. Sicherheitsdoktrinen und -strategien sind der Bibel fremd. Mit den Worten Dietrich Bonhoeffers: «Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muss gewagt werden, ist das eine grosse Wagnis, und lässt sich nie und nimmer sichern.» Das gilt in gleicher Weise für Freiheit und Gerechtigkeit. Ein Wagnis kann eingehen, wer mit der Gegenwart Gottes rechnet. Weil der Staat nicht darauf zählen kann und darf, muss er auf Nummer Sicher gehen. Dagegen eröffnet der christliche Glaube einen kritisch-korrigierenden Blick auf menschliche Unsicherheitswahrnehmungen und Sicherheitsbedürfnisse: «Wer von euch vermag durch Sorgen seiner Lebenszeit auch nur eine Elle hinzuzufügen? […] Sorgt euch also nicht um den morgigen Tag, denn der morgige Tag wird für sich selber sorgen. Jeder Tag hat genug an seiner eigenen Last.» (Mt 6,27.34) Die Aufforderung Jesu aus der Bergpredigt ist falsch, weil sie allen Krisen-, Konflikt- und Gesundheitsstatistiken widerspricht. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Ländern mit rechtsstaatlicher Ordnung, verlässlicher Gewaltenteilung und funktionierendem Gesundheitssystem ist signifikant höher als in Ländern, auf die das nicht zutrifft. Prävention und Sicherheit haben zweifellos einen Einfluss auf die Lebenszeit. Der Irrtum Jesu löst sich aber auf vor dem Hintergrund des biblischen Verständnisses vom Lebensalter als Indikator für den göttlichen Segen und die Gottestreue (vgl. Gen 35,29; Hiob 42,17; Jes 65,20). Dann bedeutet der Satz Jesu: Die menschlichen Sorgen und Sicherheitsbedürfnisse können einem segensreichen Leben keine «Elle hinzufügen».

Eine biblisch-theologische Sicht auf Sicherheit und Freiheit richtet sich gegen die falsche Bescheidenheit menschlicher Sicherheitsbedürfnisse und -versprechen. Sicherheit kann nicht genug sein, weil die Welt, wie sie ist, nicht genug ist. Deshalb teilt ein biblisches Verständnis von Verletzlichkeit nicht «die moderne Erzählung von einer selbstbestimmten Beherrschung des Lebens durch ein souveränes und unverwundbares Subjekt». An die Stelle der Sicherheit tritt der Begriff, mit dem der Heidelberger Katechismus von 1563 einsetzt: «Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?» Die Frage klingt seltsam, weil sie dem Selbstverständnis des souveränen Subjekts zuwiderläuft. Die Suche nach Trost hat etwas von einem Offenbarungseid, der das Eingeständnis voraussetzt, mit dem eigenen Latein am Ende zu sein. Darüber hinaus beruht sie auf einem Vertrauen, das durch keine Evidenz- und Wahrscheinlichkeitsberechnung bestätigt werden kann. Ihr Potential zeigt sich erst bei einer Umkehrung der Perspektive. Denn wenn Vertrauen und Trost mit dem Ideal vom souveränen Leben schwer zu vereinbaren sind, dann weist sich dieses Leben als ein – im Wortsinn – untröstlichen und misstrauisches aus. Vieles spricht dafür, dass darin der tiefere Grund für die Grenzenlosigkeit spätliberaler Sicherheitsbedürfnisse liegt. Umso verrückter klingt die Antwort des Heidelberger Katechismus «Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.» Die Antwort kann sich das «Ich» nicht selbst geben. Es können nur die Worte desjenigen sein, dem das «Ich» gehört und der durch das «Ich» spricht. Und das eine Sache des Vertrauens – genauso unsicher, wie tröstlich und befreiend.


Dies war ein Vortrag in der Reihe «Sicherheit oder Freiheit?» der Ökumenischen Erwachsenenbildung Männedorf, gehalten von Frank Mathwig in Männdorf, am 22.01.2024.


Der ganze Text mit Fussnoten und Quellenangaben kann hier gelesen werden:

Vgl. auch den Beitrag von Frank Mathwig/David Zaugg, Ethische Anmerkungen zur Ökonomie der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Heft 2-21, ab Seite 39 entweder hier oder via Download:

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Frank Mathwig

Prof. Dr. theol.
Beauftragter für Theologie und Ethik

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Eine Antwort

  1. Die Welt war noch nie so sicher wie heute.
    Die weltweite Medienaktivität lässt uns aber ein anderes Gefühl geben, weil wir so viele negative Ereignisse und Zustände in uns aufnehmen (war wir allerdings mit Medienabstinenz umgehen könnten).
    Angst vor Unsicherheit ist das Geschäftsmodell der Medien und ein Machtinstrument. Denn wer sich unsicher fühlt, ist leichter mainpulierbar.
    All dies kann nicht in der Bibel stehen, weil es die weltweite Medienflut damals noch nicht gab. Auch social media nicht.

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