Gesellschaftsreife ohne Wissen über Religion?

Zur Situation des schulischen Religionsunterrichts

Ukrainische orthodoxe Christ:innen verlegen ihr Weihnachtsfest zur Abgrenzung von der russisch-orthodoxen Kirche vom 7. Januar auf den 25. Dezember. Der Nahost-Konflikt zieht lebensbedrohliche Kreise bis zu einem Messerattentat in Zürich. Ein grosser Schweizer Detailhändler verkauft erstmals Artikel zum Ramadan. Um weltpolitische Ereignisse und das Verhalten der Nachbar:innen besser verstehen zu können, ist ein Wissen über Religionen unverzichtbar. Da die Glaubensgemeinschaften nicht alle Menschen erreichen, muss es eindeutig Aufgabe der Schule sein, ein Wissen über verschiedene Religionen zu vermitteln.

In der Volksschule etabliert

Auf den ersten Blick ist für den Erwerb eines Grundwissens über Religionen bestens gesorgt: Religionsunterricht im Sinne eines Unterrichts über Religion wird in fast allen Schweizer Schulen auf unterschiedliche Weise durch den Staat angeboten. Im deutschschweizerischen Rahmenlehrplan für die Volksschule, dem «Lehrplan 21», ist der Fachbereich «Ethik, Religionen, Gemeinschaft» (ERG) als Perspektive und als Teilbereich des sachunterrichtlichen Integrationsfaches «Natur, Mensch, Gesellschaft» (NMG) definiert. Im übergreifenden «Plan d’Etudes Romand» der französischsprachigen Schweiz heisst er «Éthique et Cultures Religieuses» (ECR). Ein solcher Religionsunterricht gehört zum schulischen Bildungsauftrag, er dient der Orientierung in der Welt und nicht der Vermittlung von Glauben. Er tastet nicht die Glaubensfreiheit an und kann deshalb für alle Schüler:innen unabhängig davon, ob und wenn ja welche Religionszughörigkeit sie haben, obligatorisch sein. Er grenzt sich klar von einem bekenntnisorientierten Unterricht in den Religionsgemeinschaften ab, in dem die Kinder und Jugendlichen in den Glauben eingeführt werden und gemeinsam religiöse Handlungen wie Gebet oder Beichte vollziehen.

An den Rand gedrängt

Schaut man genauer hin, fällt jedoch auf, dass gerade dort, wo die angestrebte Vereinheitlichung besonders wichtig wäre, die durch die übergreifenden Lehrpläne angestrebte Harmonisierung nicht erfolgt ist: Während ein flächendeckender Unterricht in Mathematik und Naturwissenschaften auch schon vor den Lehrplanprojekten selbstverständlich war, wird ausgerechnet im Bereich der Religion die kantonale Gestaltungsfreiheit genutzt. So haben die Kantone Genf, Neuenburg und Solothurn die bekenntnisunabhängige religionsbezogene Bildung nicht in ihre kantonalen Lehrpläne aufgenommen. Vor allem in Innerschweizer Kantonen wird in der Oberstufe der Fachbereich ERG mit der beruflichen Orientierung kombiniert und damit im Unterricht insbesondere das Lernen über Religionen an den Rand gedrängt.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Lehrmittel, welche die Lehrpersonen in diesem Unterricht unterstützen sollen, veraltet sind. Der «Blickpunkt Religion und Kultur», der als einziges Lehrmittel einen kompletten Lehrgang von der Primarstufe bis zur Oberstufe umfasst, ist bereits 2012/13 erschienen und für den damaligen Zürcher Lehrplan für das Fach «Religion und Kultur» konzipiert worden. Die klare Schwerpunktsetzung beim Christentum und die fehlende Berücksichtigung konfessionsloser Menschen in den Bänden für die Primarstufe entsprechen weder den aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten noch der vom «Lehrplan 21» geforderten Gleichwertigkeit der Religionen.

Im Gymnasium kein Grundlagenfach

Deutlich schlechter als in der Volksschule ist die Stellung des Religionsunterrichts am Gymnasium. Mit der gegenwärtigen Reform der Maturität unter dem Projekttitel «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität» (WEGM) werden zwei Bildungsziele für das Gymnasium angestrebt: die allgemeine Studierfähigkeit und eine «vertiefte Gesellschaftsreife». Die am Anfang dieses Beitrags genannten Beispiele deuten an, dass für eine Orientierung in der heutigen multikulturellen und multireligiösen Welt und für ein Verstehen und Mitwirken an gesellschaftlichen Prozessen ein Wissen über Religionen unverzichtbar ist. Dennoch fanden in der Vernehmlassung weder die beiden vorgeschlagenen Grundlagenfächer «Religion» und «Religion/Philosophie» breite Unterstützung. Dies ist besonders stossend, da so die positiven Wirkungen, die das gemeinsame Erkunden der Religionen und Weltsichten in der Volksschule zeigt, ignoriert und gegen eine erklärte Absicht der Reform, die Anschlussfähigkeit an die Lehrpläne der Volksschule, verstossen wird. Die nicht nur fachlich, sondern auch überfachlich bedeutsamen Kompetenzen aus dem Bereich Religion werden nicht in einem Grundlagenfach des Gymnasiums weitergeführt und mit gymnasialem Anspruch weiterentwickelt. Selbstverständlich kommen einzelne Aspekte der Religionen in Fächern wie Deutsch, Geografie und Geschichte zur Sprache. Es fehlt aber ein Unterricht, der durch eigens dafür ausgebildete Fachlehrpersonen angeleitet wird und im Wechselspiel mit fachlichem Wissen Fragen der eigenen religiösen Identität behandelt.

Negative Haltung

Was sind mögliche Gründe für diese Entwicklung? Die demografische Entwicklung mit einer stetig sinkenden Zahl von Kirchenmitgliedern und einer beständig steigenden Zahl von Konfessionslosen ist vordergründig ein Argument gegen einen Religionsunterricht, der allzu oft noch mit überholten Bildern eines auf das Christentums fokussierten Unterrichts verbunden wird. Zugleich wird vernachlässigt, dass die wachsende religiöse Vielfalt unbedingt einen Dialog über die Grenzen der Religionen und ein genaues Wissen über die Religionen erfordern würde. Die persönliche Entfremdung vieler Lehrpersonen von der Religion verstärkt negative Haltungen zu einem Unterricht über Religion. Bei ständig wachsenden Ansprüchen an die Schule und die dort vertretenen Fächer ist, wie der gegenwärtige Reformprozess zeigt, die Lobby für ein Grundlagenfach «Wirtschaft und Recht» weitaus grösser als für die Grundlagenfächer «Religion» oder «Religion/Philosophie». Während Ersteres unstrittig als notwendig für die Erlangung einer «vertieften Gesellschaftsreife» angesehen wird, wird auf Letztere zukünftig wohl verzichtet.

Konsequenz für kirchliches Handeln

Wenn Glaubensgemeinschaften für einen Unterricht über Religion eintreten, müssen sie dieses gemeinsam tun und unmissverständlich deutlich machen, dass es ihnen nicht um die Wahrung eigener Interessen, sondern ein gesellschaftliches Anliegen geht: Unterricht über Religionen zielt auf eine umfassende Allgemeinbildung, einen respektvollen Umgang mit Vielfalt, das Verstehen von individuellen Handlungen und gesellschaftlichen Prozessen und eine Prävention von Fundamentalismus und Radikalisierung.

Eine Stärkung des schulischen Unterrichts über Religion erfolgt vor Ort, wo Kirchgemeinden Klassen in ihren Kirchen empfangen und durch Kirchenführungen und Gespräche mit Mitarbeitenden, die deutlich das religionskundliche Fachprofil wahren, Vertrauen aufbauen und dadurch attraktive Lerngelegenheiten zur Verfügung stehen. Sie zeigen dann bespielhaft, was heisst, das Eigene vorzustellen, kritisch zu reflektieren und im Dialog weiterzuentwickeln.

Kirchen und andere Religionsgemeinschaften können dadurch einen Teil dessen ausgleichen, der fehlt, wenn Religionen nicht eigens und fachlich fundiert im schulischen Unterricht vorkommen. Auf die Dauer wird das aber nicht reichen. Wenn die Spannungen, die durch das wechselseitige Unverständnis zwischen religiösen und säkularen Bürger:innen entstehen, nur einseitig als Integrationsthema behandelt werden, bringt dies Religionen zusätzlich ins Zwielicht. Religion ist dann keine Ressource für den sozialen Frieden, sondern dessen Gefährdung.

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Eva Ebel

Eva Ebel

Direktorin Gymnasium Unterstrass ZH
Dozentin Didaktik Religionen, Kulturen, Ethik

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