Gibt es eine christliche Ethik?

Anmerkungen zum Selbstverständnis einer theologischen Disziplin

1. Einleitung

Die Titelfrage, ob es eine christliche Ethik gibt, lässt sich spontan und simpel beantworten: Ja, es muss sie geben, denn die Kirchen berufen sich darauf, es gibt universitäre Lehrstühle für theologische Ethik und die Disziplin füllt ganze Bibliotheken. Trotzdem ist die die Frage berechtigt, wie ein Blick in die Kirchen- und Theologiegeschichte zeigt. Theologische Ethik «gibt es erst seit dem 17. Jahrhundert, in dem sie zunächst unter der Bezeichnung ‹theologia moralis› auftaucht. Bis dahin galt Ethik fraglos als Teil der Philosophie […]. Als Teil der Philosophie war sie etwas anderes als Theologie, und religiöse Motive spielten in ihr keine Rolle.» Offensichtlich hatten Christ:innen und die Kirche vorher entweder keine moralischen Probleme oder sie sind anders damit umgegangen. Für die Reformatoren gehörten theologische, politische und ethische Fragen untrennbar zusammen. Tatsächlich ist die Verhältnisbestimmung von Dogmatik und Ethik bis in die Gegenwart hinein eine Streitthema geblieben. Damit hängt ein weiteres Merkmal theologischer Ethik zusammen: Es gibt «keine einheitlichen Vorstellungen davon […], was eine theologische oder evangelische Ethik ist oder sein kann. Überspitzt gesagt, gibt es davon so viele Vorstellungen wie evangelische Ethikerinnen und Ethiker, Theologinnen und Theologen.» Für den Theologen Rochus Leonhardt «scheint offensichtlich zu sein [, … d]ass es eine (evangelisch-)christliche Ethik gibt, also eine theologische Reflexion über das gute bzw. richtige Handeln des Menschen im Horizont des (evangelisch-)christlichen Glaubens». Der theologische Ethiker Wolfgang Lienemann präzisiert: «Die heiligen Schriften der Juden und Christen bilden für Christinnen und Christen den privilegierten Entdeckungs-, Begründungs- und Erläuterungszusammenhang (auch) der ethischen Orientierung und Entscheidungsfindung; diese Schriften sind […] Richtschnur und Mass theologisch-ethischer Forschung, kirchlicher Lehre und lebensweltlicher Orientierung.» Schliesslich spitzt der Theologe Klaas Huizing mit Emanuel Lévinas zu: «‹Die Ethik ist eine Optik› – eine spezifische Sichtweise auf die Welt.» Christliche Ethik wird in den zitierten Äusserungen als ein Übersetzungsprogramm von biblisch-theologischen Traditionen für gegenwärtige Fragen der Lebensführung und Konfliktbearbeitung verstanden. Die Bibel ist keine Moralfibe, sondern eine Art Brille, durch die Christ:innen auf sich, die Welt und ihre Probleme schauen. Wenn Theologie als theoretisch-methodische Reflexion des christlichen Glaubens und Ethik als theoretisch-methodische Reflexion der Moral verstanden wird, folgt daraus: Theologische Ethik ist die methodische Reflexion der christlichen Moral. Die Zehn Gebote, die Bergpredigt, das Doppelgebot der Liebe oder die Goldene Regeln gehören zur christlichen Moral, das theoretische Nachdenken darüber zur theologischen Ethik.

2. Zur gegenwärtigen Situation theologischer Ethik

Rückblickend sass die theologische Ethik lange Zeit zwischen den Stühlen der praktischen Philosophie und der dogmatischen Theologie. Gegenüber beiden geriet sie unter Legitimationsdruck, weil sie der einen Seite zu religiös-metaphysisch, der anderen Seite zu säkular-rational erschien. Aus begründungstheoretischer Sicht kritisierte die Philosophie die Partikularität der christlichen Fundamente theologischer Ethik, während die Theologie umgekehrt ihre fehlende biblisch-theologische Fundierung und Korrespondenz bemängelte. Theologische Ethik war lange Zeit das Problemkind von Theologie und Kirche, weil sie den Eindruck erweckte, der Welt zu nah und dem kirchlichen und theologischen Gott zu fern zu sein. Obwohl die Zeiten solcher Frontstellungen vorbei sind, zeigen sich ihre Phantomschmerzen weiterhin in zahlreichen Kontroversen zwischen kirchlichen Stellungnahmen zu ethischen Themen und der akademischen theologischen Ethik. Die theologisch-ethischen Schulbildungen der Vergangenheit in Deutschland, legendär die in Heidelberg und München, spielen seit dem letzten Clash im Rahmen der Stammzellendiskussion um die Jahrtausendwende keine Rolle mehr. Grössere Aufmerksamkeit verdienen die Differenzen zwischen lutherischen und reformiert akzentuierten Ethiken. Zwar gilt für beide Konfessionen ein grosser innerer Pluralismus, der aber – aufgrund der globalen Ausdehnung – auf reformierter resp. calvinistischer Seite ein deutlich breiteres Spektrum abdeckt. Schliesslich macht es Sinn, zwischen einer kirchlichen, akademischen und institutionellen Verortung der theologischen Ethik zu unterschieden. Die Differenzierungen ändern aber nichts daran, dass das, was in einem gesellschaftlichen Zusammenhang aus guten Gründen gesagt werden sollte, in einem anderen gesellschaftlichen Zusammenhang nicht verschwiegen werden darf. Und was umgekehrt für den einen Kontext nicht taugt, sollte auch in keinem anderen verkauft werden.

Den grössten Einfluss in der jüngeren Geschichte der theologischen Ethik hat die seit den 1960er Jahren boomende anwendungsorientierte oder praktische Ethik. Die technologischen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen haben den ethischen Reflexions- und Beratungsbedarf derart gesteigert, dass heute jeder gesellschaftliche Teilbereich über eine eigene Genitiv-Ethik verfügt. Die intensivsten Debatten aus theologisch-ethischer Sicht werden in der Medizin- und Bioethik zu Themen des Lebensanfangs und Lebensendes geführt. Die Dringlichkeit der Problemlagen und Herausforderungen hat den ethischen Fokus zunehmend von den Begründungs- auf die Anwendungsfragen verschoben. Die Entwicklung prägt auch die theologische Ethik im Raum der Kirchen. Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs, der Weltwirtschaftskrise und der heraufziehenden nationalsozialistischen Diktatur wirft die Ökumenische Bewegung bereits in den 1920er und 1930er Jahren die Frage nach einer internationalen Bündelung der ethischen Kräfte und einer engeren Zusammenarbeit zwischen Kirchen, Zivilgesellschaft und Politik auf. Der schottische Theologe Joseph Houldsworth Oldham prägte dafür das Konzept der mittleren oder impliziten Axiome (middle axioms) und verband damit zwei Absichten: 1. Mittlere Axiome sind zeitgebundene Normen, die darüber Auskunft geben, wie «zu einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Verhältnissen das christliche Liebesgebot den angemessensten Ausdruck findet». Mittlere Axiome wollen die Richtung bestimmen, «in der der christliche Glaube sich in einer besonderen Gesamtlage auswirken muss. Sie binden nicht für alle Zeiten, sondern sind vorläufige Umschreibungen der Art von Lebensführung, wie sie in einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Umständen von Christen gefordert wird.» 2. Mittlere Axiome erlauben die Integration von christlich motivierten und nicht-christlich begründeten ethischen Forderungen. Mit den Worten des Theologen Dietrich Ritschl sind sie «‹Richtlinien› oder verdichtete ethische Erfahrungen, die zwischen immer gültigen Prinzipien und partikular-konkreten Anweisungen ihren Ort haben, folglich in der ‹Mitte› liegen». Sie zielen auf «Problemerkenntnisse und Verfahrensweisen für ethisches Handeln in öffentlichen Angelegenheiten» und «müssen von Christen und Nichtchristen gleichermassen akzeptiert werden können.» Der ökonomische Tenor ist unüberhörbar: Angesichts der grossen globalen Probleme müssen Kirche und Welt von ihren unterschiedlichen Weltbildern absehen, um enger zusammenarbeiten zu können.

Eigentlich befände sich die theologische Ethik gegenwärtig in einer günstigen Lage. Die Kontroversen über ethische Letztbegründung und Universalisierung, die christliche Ethiken notorisch mit dem Partikularismus-Vorwurf konfrontierten – nach dem Motto, das glaubst ja nur du –, sind Schnee von gestern. Die religiös- und weltanschaulich pluralen Gesellschaften haben längst auf einen normativen und verfahrenstechnischen Funktionalismus umgestellt, der nicht zeitintensive ethische Begründungsdiskurse abwarten muss, wo ethische Probleme einen zeitnahen Orientierungs- und Regelungsbedarf verlangen. Der gesellschaftliche Pluralismus fördert sowohl die Wahrnehmung von Diversität als auch eine Diversität der Wahrnehmungen. Beides spiegelt sich in der ethischen Theoriebildung wider. Hervorzuheben sind die von feministischer Seite inspirierten Modelle der Care Ethics und befähigungsorientierte, differenzsensible und postkoloniale Konzepte Narrativer Ethik, die auf die Sprachfähigkeit der ethischen Subjekte zielen. Den theoretischen Entwicklungen gemeinsam ist eine Überwindung oder Ergänzung vernunftbasierter und handlungsfokussierter Ethiken im Anschluss an Immanuel Kant, Jeremy Bentham und John Stuart Mill. Aus evangelisch-theologischer Sicht gehört der emeritierte Zürcher Ethiker Johannes Fischer zu den schärfsten Kritikern rationaler Begründungskonzepte von Moral.

Vom Tisch sind schliesslich auch die seit den 1970er Jahren prominent von John Rawls angemahnten «Bürden des demokratischen Urteilens». Der Philosoph hatte den liberalen Gesellschaften ins Stammbuch geschrieben, «dass wir uns weder auf umfassende religiöse oder philosophische Lehren berufen dürfen […], wenn wir über wesentliche Verfassungsinhalte oder Fragen grundlegender Gerechtigkeit diskutieren, noch auf elaborierte ökonomische Theorien […], wenn diese umstritten sind». Bezeichnenderweise waren es einstige Verfechter, die später die These verwarfen, wie beispielhaft Jürgen Habermas seit seiner Friedenspreis-Rede von 2001. Die Philosophie hatte etwas von der Theologie gelernt, um den Preis, dass sich die theologische Ethik nicht mehr am Gegenüber der philosophischen Schwester profilieren musste und konnte. Die These von Rawls war aber genau genommen ein alter Hut. Denn auf die Frage, ob es überhaupt ein spezifisch christliches Handeln im politischen Bereich geben könne und dürfe, hatte Dietrich Bonhoeffers in einem Brief an Eberhard Bethge vom 16. Juli 1944 geantwortet: «Der antike Kosmos ist ebenso wie die mittelalterliche geschaffene Welt endlich. Eine unendliche Welt – wie auch immer sie gedacht sein mag – ruht in sich selbst ‹etsi deus non daretur› [als ob es Gott nicht gäbe]. [...] Gott als moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese ist abgeschafft, überwunden; ebenso aber die philosophische und religiöse Arbeitshypothese (Feuerbach!). Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit, diese Arbeitshypothese fallen zu lassen bzw. sie so weitgehend wie irgend möglich auszuschalten.» Die verblüffende Quintessenz des lutherischen Theologen lautet: Die Welt lässt sich nicht mit Gott als moralischen deus ex machina ordnen oder retten. Zwei Jahre später folgte die Bestätigung seines reformierten Kollegen Karl Barth – der von 1930 bis – zu seiner Absetzung durch die Nationalsozialisten – 1935 in Bonn lehrte: «Im politischen Raum können nun einmal die Christen gerade mit ihrem Christentum nur anonym auftreten. […] In den eigentlich politischen, den Aufbau der Bürgergemeinde als solcher betreffenden Fragen können sie nur in Form von Entscheidungen antworten, die nach Form und Inhalt auch die anderer Bürger sein könnten, ja von denen sie geradezu wünschen müssen, dass sie ohne Rücksicht auf deren Bekenntnis auch die aller anderen Bürger werden möchten.» Beide Theologen waren sich einig, dass das Evangelium von der christlichen Freiheit verspielt würde, wenn biblische Gebote zum Massstab für die Gestaltung politischer Ordnungen und staatlichem Recht würden. Das wirft die Frage auf, ob und wo eine theologische Ethik noch gebraucht wird und worin ihr eigener Beitrag gegenüber anderen Ethiken besteht.

3. Christliches Handeln

Die verbreitete Antwort auf die Frage, was christliches Handeln ausmacht, lautet: Es orientiert sich an den Zehn Geboten, der Bergpredigt bzw. Feldrede Jesu und an seinem vorbildlichen Leben. Die Reformatoren unterschieden zwischen dem Handeln von Christ:innen, für die beide biblischen Gebotssammlungen Gültigkeit haben, und dem moralisch ermässigten Handeln des Staates, für den allein der Dekalog die Richtschnur bildet. Beim Ausdruck «christliches Handeln» hören biblisch sozialisierte Ohren vielleicht auch die Äusserung Jesu am Schluss der Bergpredigt: «An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.» (Mt 7,16) Glauben, Reden und Handeln bilden eine Einheit und sind wechselseitig aufeinander bezogen. Das Attribut «christlich» bezieht sich auf die Motive, Antriebe und Absichten, die im Handeln sichtbar werden. Deshalb könne rückwärts von den Handlungen auf die christliche Haltung der Handelnden geschlossen werden. Das ist eine verbreitete, dem neuzeitlichen Utilitarismus und dem modernen Verantwortungsbegriff geschuldete Denkweise, die allerdings aus biblischen, theologischen, argumentationslogischen und ethischen Gründen bezweifelt werden muss.

Aus biblischer Perspektive wird sie von Jesus selbst widerlegt. Im gleichen Abschnitt bemerkt er: «Viele werden an jenem Tag zu mir sagen: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen als Propheten geredet, in deinem Namen Dämonen ausgetrieben und in Deinem Namen viele Wunder getan? Dann sollen sie von mir hören: Ich habe euch nie gekannt!» (Mt 7,22f.) Die «christlich» aussehenden Taten sind gerade kein zweifelsfreier Beleg für eine «christliche» Haltung, sondern können auf einer Täuschung beruhen. Jesus liefert keine positive Bestätigung, sondern ein negatives Ausschlusskriterium – also: Es muss nicht so sein, wie es auf den ersten Blick aussieht. Vorsicht vor voreiligen Rückschlüssen vom Handeln auf die die Handlungsabsichten! Nicht überall wo christlich draufsteht, ist auch Christliches drin. Aus theologischer Perspektive kollidiert der Rückschluss vom Handeln auf die Motive mit dem rechtfertigungstheologischen Kern protestantischer Theologie: «Denn durch die Gnade seid ihr gerettet aufgrund des Glaubens und zwar nicht aus euch selbst, nein, Gottes Gabe ist es: nicht durch eigenes Tun» (Eph 2,8f.). Christliches Handeln ist danach aus eigenem Antrieb gar nicht möglich. Paradoxerweise wäre ein Handeln genau dann christlich, wenn es nicht von der handelnden Person selbst verursacht ist. Das Handeln wäre gewissermassen nicht aktiv, sondern pathisch, mit den Worten des Paulus: «Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir» (Gal 2,20). Aus argumentationslogischer Perspektive führt der Handeln-Glauben-Rückschluss zu einer absurden Konsequenz, wie Wolfgang Hildesheimer an der Jesus zugeschriebenen Behauptung verdeutlicht: «Geben ist seliger als Nehmen» (Apg 20,35): «Denn indem ich gebe, mache ich den, dem ich gebe, zum Nehmer und beraube ihn damit seiner Seligkeit [...], ich handele also sehr egoistisch, um mir meine Seligkeit zu erkaufen». Eine nutzenorientierte Lesart, nach der der Zweck die Mittel heiligt, führt in die Irre. Die Menschen der Bibel – einschliesslich Jesus – waren keine ethischen Konsequentialisten. Aus ethischer Perspektive verweist der Ausdruck «christlich» auf die Hintergründe, Absichten und Motive – den «Geist» – des handelnden Subjekts, aber nicht die Handlungen selbst. Denn einer Handlung selbst kann nicht angesehen werden, ob sie aus «christlichen» oder etwa aus «besonnenen», «menschenfreundlichen» oder «empathischen» Motiven und Absichten zustande gekommen ist.

Paulus formuliert die Gegenthese zur missverständlichen Umkehrung des Jesus-Zitats: «Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Frieden, Geduld, Güte, Rechtschaffenheit, Treue, Sanftmut, Selbstbeherrschung.» (Gal 5,22f.) Diese Wirkungen zeigen sich weder in bestimmten Handlungen noch in christlichen Tugenden, im Sinn der griechisch-hellenistischen Tradition. Tugenden sind gemäss Aristoteles lehr- und erlernbar, sie sind das Ziel von Erziehung und nicht die Wirkungen einer Geistbegabung. Die Charakterisierung eines Handelns als ein christliches stösst also auf eine Reihe von Schwierigkeiten. Das Christliche steckt in den handelnden Subjekten, aber nicht in den Handlungen und deren Wirkungen. Die Merkmale von Handlungssubjekten können nicht als Charakteristika auf die Handlungen übergehen. Das Handeln selbst – so könnte im Anschluss an Bonhoeffer und Barth gesagt werden – ist religiös neutral oder anonym.

3. Das ethische Subjekt

Das Christliche, das nicht die Handlungen selbst betrifft, muss in den Handlungssubjekten gesucht werden. Aber wo? Beim barmherzigen Samaritaner steckt die Moral im Magen, der sich beim Anblick des Gewaltopfers umdreht (Lk 10,33). Salomo bittet Gott im Traum um ein «Herz, das hört» (1Kön 3,9). Das Herz gilt in Ägypten und Israel als das Organ, mit dem Gott wahrgenommen wird und in dem Gott selbst in den Menschen ist. In Übereinstimmung mit der gesamten biblischen Vorstellungswelt geht Paulus davon aus, dass Gottes Geist nicht in der Seele (psyche), sondern im Herz (kardia) wirkt. «Über das Herz erreicht der göttliche Geist den Leib und die mentalen Kapazitäten des Menschen (2Kor 1,22; 3,3; Gal 4,6; Röm 3,29; 55). Gott selbst kann im Herzen des Menschen ‹aufleuchten› (2Kor 4,6). Das göttliche Wort weckt im Herzen den Glauben (Röm 10,8ff.). […] Das Herz bündelt emotionale und moralische Energien, es gibt charakterliche ‹Festigkeit›, empfängt Trost und Orientierung (1Thess 3,13; 1Kor 7,37; 2Thess 2,17; 3,5); es ist der Ort des Eifers und der festen Vorsätze und des geistlichen Gehorsams (Röm 6,17; 8,16; 9,7).» Die biblisch-antiken Vorstellungen passen nicht in die rationale Welt neuzeitlicher Personen, die ihren Glauben im Gehirn lagern und ihre Seele im Notfall in die Therapie schicken. Die Menschen der Bibel glaubten körperlich, leibhaftig, mit Haut und Haaren.

Allerdings stolpert die theologische Ethik sofort über die nächste Schwierigkeit. Sie betrifft ein körperliches Koordinationsproblem, das prototypisch in dem Salomo zugeschriebenen Sprichwort begegnet: «Das Herz des Menschen plant seinen Weg, aber der Herr lenkt seinen Schritt.» (Spr 16,9) Der Ausspruch gehört zur eisernen Ration des jüdisch-christlichen Glaubens und bringt die Ethik in Verlegenheit. Denn die Handlungsverben «planen» und «lenken» werden dort verschiedenen Subjekten zugeschrieben. Das planvoll handelnde ethische Subjekt ist mit einem Gott konfrontiert, der – moralisch, ethisch oder anders motiviert – seine Finger im Spiel hat. Das moralische Handeln muss danach stets mit einem anderen Handeln rechnen, das ganz offensichtlich keiner menschlichen Moral folgt. Die im Dreissigjährigen Krieg krisenerprobte Mutter Courage gibt der biblischen Weisheit in ihrem «Lied von der grossen Kapitulation» eine andere Wendung: «Der Mensch denkt: Gott lenkt. Kein Red davon!» Allerdings lässt die Protagonistin aus Bertolt Brechts Theaterstück offen, wie der Doppelpunkt in dem Refrain zu lesen ist: als «aber» oder als «dass» – also: Der Mensch denkt, aber Gott lenkt – Gott macht, was er will, unabhängig davon, was die Menschen denken. Oder: Der Mensch denkt, dass Gott lenkt – das Tröstliche oder die menschliche Unschuldsvermutung angesichts der göttlichen Handlungssouveränität könnten sich als gewaltiger Irrtum entpuppen. Je nach Lesart werden die menschliche Moral massiv eingeschränkt oder enorm aufgebläht. In einem Fall wird die Vorstellung vom selbstbestimmten und frei verantwortlichen ethischen Subjekt mehr oder weniger bestritten. Im anderen Fall wird das ethische Subjekt vollständig auf sich selbst zurückgeworfen.

Die biblisch-theologische Frage, wer eigentlich handelt, wenn gehandelt wird, klingt für neuzeitliche Ohren seltsam. Zwar bestätigt auch die biblische Paradieserzählung das vertraute Narrativ von der Genealogie der menschlichen Moral: Die moralische Grammatik von Gut und Böse kommt mit dem Sündenfall, also den sterblichen – genauer sterblich gewordenen – Menschen in die Welt. In ihrer paradiesischen Ursprungsexistenz kannten die Menschen weder Tod noch Moral (das gilt, welch entspannende Aussicht, auch für den Himmel). Die Menschen der Bibel wussten genauso wie der Begründer der akademischen Ethik, der griechische Philosoph Aristoteles, dass ethischen Fragen immer nur bestätigen, dass das moralische Kind längst in den Brunnen gefallen ist. Ethik ist ein Kind der Krise und ein zuverlässiger Seismograph für die grossen und kleinen menschlichen Katastrophen. Ethik bemüht sich – nüchtern betrachtet – darum, aus der Not der conditio humana eine Tugend zu machen.

Neuzeitliche westliche Ethiken – einschliesslich der theologischen – setzen dabei auf das autonome Subjekt. Autonomie – wörtlich autos + nomos = Selbstgesetzgebung – ist die erkenntnistheoretische und anthropologische DNA freier und selbstbestimmter Personen. Der Theorie nach folgt die autonome Person in ihrem Handeln ausschliesslich den Maximen, Normen und Gesetzen, die sie sich selbst gegeben oder denen sie aus freien Stücken zugestimmt hat. Deshalb gehören autonome Person und Demokratie so eng zusammen. Allerdings ist die Definition des autonomen Handlungssubjekts zirkulär: Nur autonome Personen gelten in einem rechtlichen und ethischen Sinn als Subjekte, denen ein Verhalten als ihr Handeln zugerechnet werden kann (Zurechnungsfähigkeit vor Gericht). Umgekehrt kann nur dann von einer Handlung gesprochen werden, wenn sie von einem autonomen Subjekt verursacht wurde.

Die Bestimmung der autonomen Person als Handlungssubjekt reicht aber für eine theologische Ethik aus vier Gründen nicht aus: 1. Die Bibel kennt auch Gott und seinen Geist als Handelnde und viele biblische Erzählungen lassen offen, wer in der Situation tatsächlich aktiv ist. 2. Personen erscheinen nicht nur als moralische Handlungssubjekte, sondern zuerst und zugleich als Geschöpfe Gottes. 3. Personen, Gegenstände und Sachverhalte, für die moralische Subjekte Sorge tragen, sind ebenfalls zuerst und zugleich Geschöpfe oder Schöpfung Gottes. Und 4. Personen, die handeln und an denen gehandelt wird, sind nicht nur moralische Subjekte und Geschöpfe, sondern zugleich die von Gott Erwählten oder zur Gemeinschaft mit ihm Berufenen. Mit den Worten des Paulus: «Ihr seid also nicht mehr Fremde ohne Bürgerrecht, ihr seid vielmehr Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes.» (Eph 2,19) Danach sind Christ:innen Bürger:innen zweier Welten, der irdischen und himmlischen polis, und somit gleichzeitig in zwei Ordnungs- und Orientierungsräumen anwesend. Als moralische Subjekte sind sie binär verortet. Wie konfliktreich diese beiden Wohnsitze sind, zeigen die lutherisch-reformierten Kontroversen um die Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche – nicht zuletzt im Blick auf die Kriegsfrage.

Aus biblisch-theologischer Sicht ist das ethische Subjekt ein hybrides Wesen, das nicht nur durch sich selbst – autos nomos –, sondern massgeblich von aussen – extra nos – bestimmt ist. Das wechselseitige Bezogensein verweist aus jüdisch-christlicher Sicht auf eine Konstellation eigener Art, die in der Bibel unter dem Stichwort «Bund» verhandelt wird. Der Bund beschreibt keinen Status von Personen, die eine Mitgliedschaft eingehen oder einen Vertrag schliessen. Mit den Theologen Karl Barth und Hans-Joachim Kraus: Wie der Bund «Israel als solches nicht etwa schon vor[findet], sondern schafft», werden Personen «im Bund, was sie zuvor nicht waren: Gottes Partner, in Jesus Christus Versöhnte und Geheiligte.» Der Bund ist kein metaphysischer Kitt, der ein soziale Gemeinschaft oder eine institutionelle Struktur zusammenklebt. Der Gottesbund ist eine schöpferische Praxis, die sich in jeder Begegnung zwischen Gott und seinen Geschöpfen ereignet. Sie gründet in der Einseitigkeit der Treue Gottes, die von geschöpflicher Seite nicht bestätigt werden kann und deshalb über jedes vertragliche Gegenseitigkeitsverhältnis hinausgeht. Die Asymmetrie des Bundes zeigt sich einerseits darin, dass die Geschöpfe – wie Barth formuliert – «sich selbst zur Antwort auf das Wort Gottes» hergeben und andererseits darin, dass Gott selbst für die geschöpfliche «Gegentreue und also für die Erfüllung des Bundes […] aufkommt und sorgt». Die Logik des Bundes lässt sich auf die kurze Formel bringen: «Ich bin, indem Du bist». Das ist in aller Radikalität zu denken. Der Begriff würde sofort «leer und nichtig […], wenn die ihm zugrunde liegende Anschauung die eines reinen Subjekts und nicht die des Subjekts in dieser Begegnung wäre. Und sie sagt ontologisch, dass der wirkliche Mensch da und nur da am Plane ist, wo sein Existieren in dieser Bewegung stattfindet, nur in der Gestalt des Menschen mit seinem Mitmenschen.» Nicht zufällig wählt Barth den Ausdruck «Begegnung» und nicht «Beziehung». Es geht um je aktuelle und sich immer wieder neu ereignende Präsenz. Weil das Subjekt nur in der Präsenz mit einem anderen zum Subjekt wird, scheidet sowohl jede individualisierte Vorstellung vom Subjekt als auch jede essentialistische oder institutionelle Vorstellung von Beziehung aus. Mit den Worten des Philosophen Jean-Luc Nancy: «Präsenz ist unmöglich, es sei denn als Ko-Präsenz.»

Das Konzept von der Subjektwerdung-in-Begegnung hat in der politischen Theorie von Hannah Arendt eine prominente Vorläuferin. Programmatisch konstatiert sie: «[A]ls ob es im Menschen etwas Politisches gäbe, das zu seiner Essenz gehöre. Dies gerade stimmt nicht; der Mensch ist a-politisch. Politik entsteht in dem Zwischen-den-Menschen, also durchaus ausserhalb des Menschen. Es gibt daher keine eigentlich politische Substanz. Politik entsteht im Zwischen und etabliert sich als der Bezug. […] Freiheit gibt es nur in dem eigentümlichen Zwischen-Bereich der Politik. Vor dieser Freiheit retten wir uns in die ‹Notwendigkeit› der Geschichte. Eine abscheuliche Absurdität.» Politik ereignet sich konkret zwischen den Personen, die sich auf dem Forum der Öffentlichkeit begegnen. Arendts konsequentes Verständnis von Politik als Begegnung richtet sich gegen einen substanzialistischen Politikbegriff, der politische Beteiligung an bestimmte Merkmale der Person knüpft: «Der Ruin der Politik nach beiden Seiten entsteht aus der Entwicklung politischer Körper aus der Familie. [...] Insofern man in der Familie mehr sieht als die Teilnahme, das heisst aktive Teilnahme an der Pluralität, beginnt man, Gott zu spielen, nämlich so zu tun, als ob man naturaliter aus dem Prinzip der Verschiedenheit herauskommen könne.» Das von der Philosophin kritisierte «Gott spielen» besteht darin, dass bestimmte Gruppen die politische Entscheidungsmacht exklusiv für sich reklamieren und andere Gruppen systematisch davon ausschliessen. Gegen Ethnie, Nationalität, Religion, Weltanschauungen, Geschlecht, und Alter lässt Arendt allein die gesellschaftliche Zugehörigkeit als politisches Zugangskriterium gelten.

4. Was macht das Christliche in der Ethik?

Ein kurzer Rückblick 1. Christliches Handeln ist im Blick auf seine sichtbaren Folgen so gut oder schlecht, richtig oder falsch, wie jedes andere Handeln. 2. Das Christliche steckt nicht in den Handlungen und seinen Wirkungen, sondern in den handelnden Subjekten. 3. Die ethischen Subjekte sind aus biblisch-theologischer Sicht hybride Wesen bei denen sich Fremd- und Selbstbestimmung untrennbar überlagern. Und 4. Die ethischen Subjekte sind aus biblisch-theologischer Sicht nicht die biologischen Lebewesen oder die sozial konstituierten Individuen. Sie haben keine Substanz, sondern es gibt sie ausschliesslich im Zwischen der konkreten Begegnung. Das klingt ernüchternd und legt den Verdacht nahe, eine solche Sicht würde die theologische Ethik aus dem Spiel nehmen, ihr die harten Bretter der Welt unter den Füssen wegziehen und sie gewissermassen irrelevant oder überflüssig machen. Die Vermutung trifft zu, wenn die Aufgabe der Ethik analog zu Gebrauchsanweisungen, Kochbüchern und Ratgeberliteratur verstanden wird, also wo sich alles darum dreht, was getan werden soll, um ein gewünschtes Ergebnis zu erhalten, wozu etwas gut ist und worin der Nutzen besteht.

Der moralischen Standardfrage «was soll/en ich/wir tun?» ergeht es wie dem Betrunkenen, der, sich an einer Litfasssäule abstützend, immer wieder um sie herumläuft und verzweifelt ruft: «Hilfe, man hat mich eingemauert!» Die moralische Frage klammert sich notorisch an die Liftfasssäule des guten oder richtigen Handelns und kommt nicht auf den Gedanken, sich auf die andere Seite zu bewegen. Das ist – mit einem Buchtitel von Herbert Marcuse – die Moral des «One-Dimensional Man», des eindimensionalen Menschen. Aber was wäre auf der anderen Seite? Bildlich gesprochen, nichts zum Festhalten, keine stabile Wand zum Abstützen und unter Umständen sogar Leere. Die jüdische Kabbalistik im Mittelalter nannte sie «Zimzum». Die Idee des Zimzum – so Gershom Scholem – «stellt an den Anfang des Weltendramas, das aber ein Drama Gottes ist, […] einen Akt, in dem er sich in sich selbst verschränkt, sich auf sich selbst zurückzieht und anstatt nach aussen sein Wesen in eine tiefere Verborgenheit seines eigenen Selbst kontrahiert.» Der theologische Ethiker Mathias Wirth hat im Anschluss daran gefragt, «ob es nicht von grundlegenderer Bedeutung ist und damit zum Primat des religiösen und ethischen Denkens gehören müsste, Raum für das Leben der anderen vornehmlich durch Rückzug und nicht durch Einzug zu schaffen». Der Berner Theologe plädiert für eine «Einstellung der Kontraktion und Raumgabe», weil Ethik damit dialogfähig würde, «wenn das Recht auf Berücksichtigung des anderen berührt ist».

Anstatt Rettungsaktionen und Selbstrettung, Rückzug und Selbstzurücknahme käme einem Seitenwechsel gleich, der das Christliche nicht auf ein lebloses Destillat biblisch abgeleiteter Normen eindampft, sondern – einmal probehalber – den biblischen Gott in der New Yorker South Bronx auftreten lässt, wo in den 1970er Jahren der Hip Hop und das «Sampling» erfunden wurden. Sampling eignet sich perfekt als musikalische Hymne des Volkes Israel im Exil und in der Diaspora sowie für die christliche Wanderschaft «[D]enn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir» (Hebr 13,14). 1983 sangen Lance Taylor alias Afrika Bambaataa und seine Soulsonic Force in «Renegades of Funk»: «No matter how hard you try / you can’t stop this now / We are the force of another creation / a new musical renegation.» Der Klang der Stimme einer anderen Schöpfung und eine neue musikalische Offenbarung setzen die Abgrenzung und den Bruch voraus. Folgerichtig mündet der Song in den Loop «We're the renegades of funk», wir sind die Abtrünnigen des Funk. Das Sampling von Musik und Stimmen unterbrechen die Ordnung des Songs, der nicht eine musikalische Ordnung gegen eine andere austauscht, sondern durch musikalische Fragmente ersetzt, die nur durch den hämmernden elektronischen Beat zusammengehalten werden.

Im Anschluss an den Philosophen Gilles Deleuze erkennt Jens Balzer darin einen alternativen Zugang zur Kunst: «Es gibt Kunst, die nach geschlossenen Formen sucht, und es gibt Kunst, die ganz bewusst im Fragmentarischen bleibt, und in beiden spiegeln sich bestimmte historische und soziale Dispositionen. Die fragmentarische Kunst ist der Ausdruck einer Gesellschaft, die aus Minderheiten besteht und das auch von sich weiss; die auf Totalität gerichtete Kunst spiegelt eine Gesellschaft, die sich im Kern ihres Selbstverständnisses als einheitliche entwirft.» Das gilt auch für die Kulturtechnik der Ethik. Der auf Totalität gerichteten Kunst und der auf Einheit fokussierten Gesellschaft entspricht eine Ethik, die ihre Normen aus einem universalen Prinzip – wörtliche übersetzt: einem Obersten oder Ersten – ableitet. Es ist eine Ethik der Heimatverteidigung, gemäss ihrem Prototypen Odysseus, der von zuhause aufbricht, um nach zahllosen Umwegen nach Hause zurückzukehren. Ihm gegenüber steht Abraham, der auf Geheiss Gottes aus der Heimat aufbrach und nichts weiter folgte als einer Verheissung. Damit wurde er der Prototyp einer Ethik des Fragmentarischen. Eine Ethik der heimischen Totalität und Einheit kehrt günstigstenfalls zu sich selbst zurück. Sie braucht weder Hoffnung noch eine Verheissung, weil sie das Ziel längst kennt. Gleichzeitig scheut sie jede Subversion, die den Blick auf das Ziel und am Ende dieses selbst irritieren könnte.

Eine Ethik für das «Leben als Fragment» geht davon aus, dass «das, was ist, nicht alles ist», und dass die Wirklichkeit in jedem Moment eine andere sein könnte. Eine solche Ethik rechnet nicht nur damit, sondern setzt darauf. Riskant ist diese Offenheit für eine Ethik der Heimatverteidigung, weil sie sich schwer damit tut, Neues als Bereicherung und Gabe wahrzunehmen. Das Subjekt einer theologischen Ethik des Fragmentarischen ist – mit der Philosophin Judith Butler – eines, «das sich nicht durch und durch kennt und das nicht voll für sich einstehen kann, ein fragiles und fehlbares Subjekt der Ethik, charakterisiert eher durch seine Grenzen als durch seine Souveränität.» Mit Karl Barth könnte hinzugefügt werden, dass sich das Subjekt auch gar nicht kennen kann, weil es sich im konkreten Zwischen der Begegnung immer wieder neu konstituiert. Damit ändern sich notwendig die ethischen Fragen. So wird die Frage «Was soll ich tun?» problematisch, weil sie einerseits voraussetzt, dass es ein ethisches Subjekt gibt, dass überhaupt fragen und gefragt werden kann, und andererseits, dass es ein «Ich» gibt, das darauf mit seinem Handeln antworten kann. Dagegen setzt eine Ethik des Fragmentarischen ein Subjekt voraus, das nicht nur gegenüber seiner Umwelt, sondern auch sich selbst gegenüber fremd bleibt. Das ist die Bedingung für die paulinische Einsicht: «Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir» (Gal 2,20). Um den Glaubenssatz kommt eine Ethik nicht herum, die den Anspruch erhebt, eine christliche oder theologische zu sein.

Die Frage nach dem Handeln ist aus theologisch-ethischer Sicht eine nachgeordnete. Ihr voraus geht die Frage: Wo bin ich, wenn ich frage? Dietrich Ritschl hat darauf negativ geantwortet: «[U]nsere heutigen Mitmenschen ‹bewohnen› die biblischen Geschichten vielfach nicht mehr. Sie sind wie leere, unbewohnte Strassenzüge in der Stadt, in der wir leben. Jemand hat noch die alten Stadtpläne – die Theologen vielleicht – aber die Häuser sind leer, und wir kennen die Strassen nicht mehr. Das ist eine Tragik, nicht nur der Sprache, sondern der Kirche.» Positiv gewendet ginge es darum, die biblischen Geschichten zu bewohnen, in die Stories einzutreten, die eigene Biographie und Lebenswelten als Fortsetzungen jener Geschichten zu begreifen und den Menschen der Bibel sozusagen Auge in Auge zu begegnen. In diesem Sinn hat Wolfgang Lienemann im Zitat am Anfang vom «Entdeckungszusammenhang» der biblischen Geschichten gesprochen. Entdeckungen sind nicht aus der distanzierten Beobachtungsperspektive möglich. Wer etwas entdecken will, muss dorthin gehen, wo es etwas zu entdecken gibt. Und was gäbe es dort Neues zu entdecken? Etwa, dass die Strategien und Wege, die das Problem verursacht haben, die falschen Strategien und Wege sind, um sie zu lösen: dass also das Problem militärischer Gewalt nicht mit noch mehr militärischer Gewalt gelöst werden kann; dass die Waffen der Angriffsopfer nicht weniger tödlich sind, als die Waffen der Angreifer:innen; dass die Frauen, Kinder, Mütter und Väter um ihre toten Männer, Väter und Söhne trauern, egal ob sie von den Angreifer:innen oder den Angegriffenen gekillt wurden; dass die Naturzerstörung und der Klimawandel durch die Technologisierung nicht mit noch mehr Technologien aufgehalten oder repariert werden können; dass es nicht immer noch mehr Strategien, Handlungskonzepte und Aktivitäten braucht, sondern ein konsequentes Sein-Lassen, ein Rückzug, ein Betrachten anstatt Bewirken. Dagegen könnte eingewendet werden, dass diese Einsichten nicht wirklich neu seien. Darauf hat der Philosoph Robert Spaemann entgegnet: «Wo es um Fragen des richtigen Lebens geht, könnte nur Falsches wirklich neu sein.»


Text mit Fussnoten und Quellenangaben:

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Frank Mathwig

Prof. Dr. theol.
Beauftragter für Theologie und Ethik

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