Deutschland wird weltweit bewundert für seine Erinnerungskultur. Und bewundert sich selbst dafür.
Wenige Kilometer vom Berliner Holocaustmahnmal entfernt feiert man Preußens Könige, mit dem neuen Militärhaushalt wird eine Zeitenwende beschworen und der Bundespräsident bedankt sich auf Israel-Reise ungefragt für die »Versöhnung«.
Deutschland ist wieder wer, auch weil es sich so mustergültig an den Holocaust erinnert. So war das doch nicht gedacht - oder?Rückseite des Buches "Versöhnungstheater"
Zur Lektüre eines Textes gehört, dass man – ob man nun will oder nicht – eine Position einnimmt. Sei es bei Romanen, wenn sich die Sympathien und Antipathien für die einzelnen Charaktere entwickeln. Sei es bei Sachtexten, wenn man sich von den Argumenten der Autor*innen überzeugen lässt oder nicht.
Als ich Max Czolleks Essay «Versöhnungstheater» las, wurde ich nachhaltig konstruktiv verunsichert. Ganz ungewohnt fand ich mich als Leser mal in fliessendem Übergang, mal gleichzeitig in ganz verschiedenen Positionen wieder: als Deutscher, quasi gleichaltrig zu Max Czollek; als Deutscher in der Schweiz; als jemand, dem das Judentum der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft am Herzen liegt; als Christ. Immer wieder musste ich mir bei der Lektüre eingestehen, dass ich eben nicht aus meiner Haut herauskomme. Und von jeder Position aus liesse sich eine eigene Rezension verfassen. Diese hier hat ihren Ausgangspunkt bei mir als Christ.
Der Titel «Versöhnungstheater» fordert da schon heraus, bevor er überhaupt erklärt ist. Versöhnung ist doch schliesslich für uns Christ*innen ein zentraler Bestandteil der Botschaft Jesu. Ein «Theater», ein inszeniertes Geschehen, das zugleich real und irreal ist, soll die Versöhnung und die Vergebung doch bitte nicht sein.
Czollek meint mit «Versöhnungstheater» die aktuelle Phase der deutschen Erinnerungskultur nach 1945. Eine Zeit, in der die verschiedenen Akteur*innen auf der gesellschaftlichen wie politischen Bühne von der «Wiedergutwerdung der Deutschen» ausgehen und dementsprechend mit der Vergangenheit in der Gegenwart umgehen. «Im Versöhnungstheater ist das Aussöhnen mit der deutschen Vergangenheit und ihren Opfern bereits als vollendete Tatsache vorausgesetzt.» (27). Entlarvend legt Max Czollek dar, dass es aber eigentlich nie zu einer solchen – vor allem beidseitig einvernehmlichen – Aussöhnung kam. Taten, die während der NS-Zeit massenhaft verübt wurden, blieben in ihrer übergrossen Mehrheit juristisch ungesühnt. Und auch wenn die 68er-Generation im gesellschaftlichen Bewusstsein zumindest das Eingeständnis einer kollektiven Schuld der Deutschen verankerte, führte dieses Bewusstsein nicht zu konsequenterer, greifbarerer Aufarbeitung. Stattdessen wurde daraus eine Selbstgenügsamkeit, die im Erinnern den eigentlichen Akt der Versöhnung sah, eine – wie Czollek es mehrfach nennt – «Wiedergutwerdung ohne Wiedergutmachung»:
«Es sollte offensichtlich sein, dass Versöhnung nur funktionieren kann, wenn das Gegenüber mitmacht. Gibt es dieses Gegenüber nicht, etwa, weil man es ermordet hat oder weil es Forderungen nach echter Aufarbeitung und Entschädigung stellt, die man wirklich nicht erfüllen möchte, hat man ein Problem.» (22)
Die Beispiele, die Czollek im Anschluss der Reihe nach ausführt, sind Beispiele, wie dieses «Problem» der Aufarbeitung und Entschädigung über Jahrzehnte gekonnt umschifft wurde, bis es sich jetzt bald mit den letzten Überlebenden der Shoah auch endgültig aus dieser Welt verabschiedet hat. Nein, so funktioniert Versöhnung wirklich nicht!
Allein der eben zitierte Abschnitt hat bei der Lektüre meine Eingeweide auf links gedreht. Als Christ forderte mich noch mehr der vorhergehende Satz heraus: «Dass das [sc. die Vorstellung, dass der Akt der Erinnerung selbst Versöhnung bedeuten kann] mit dem Judentum weitaus weniger zu tun hat als mit einer christlichen Vorstellung von Vergebung brauche ich hoffentlich nicht erklären.» Gleich grosse Teile in mir stimmen Max Czollek zu und widersprechen seiner These. Wie ist das eigentlich mit der Versöhnung und der Vergebung im Christentum?
Auf Anhieb fallen mir viele Bibelstellen dazu ein. Und zumindest dem Gefühl nach, ist die Haltung dort klar: «Vergebt einander!» (so etwa in Lk 6,37; Kol 3,13 oder Eph 4,32 u. ö.) setzt unmissverständlich eine Gegenseitigkeit voraus. Wie auch immer sich das im Detail ausgestaltet: Ohne Zustimmung der Geschädigten gibt es keine vollständige Vergebung und Versöhnung. Auch aus der frühen Kirche ist eine ausgeprägte Busspraxis bekannt, die auf Wiedergutmachung und Wiedergutwerdung ausgelegt war.
Andererseits: Aus der Reformationszeit stammt in Deutschland der «Buss- und Bettag», in der Schweiz gibt es heute den eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag. Aber welchen Stellenwert hat da jeweils noch die Busse? Als Christ*innen in den Kirchen der Reformation sind wir zurecht stolz auf die Errungenschaft, dass alles Versöhnungsbedürftige bei Gott schon gesühnt und vergeben ist, dass es gegenüber Gott keine Wiedergutwerdung mehr braucht. Keine wirren Busskataloge mehr, bei denen die Wiedergutmachungsleistung vielen dient, aber nicht den Geschädigten. Und keine völlig ins Jenseits verschobene Wiedergutwerdung mehr.
Seit meinem Studienjahr in Jerusalem ist es für mich aber eine echte offene Frage, ob diese Errungenschaft nicht manches Mal auch eine willkommene Abkürzung bietet, die wir Christ*innen der reformatorischen Traditionen bereitwillig gehen. Bei dieser Abkürzung umgehen und verpassen wir – ob gewollt oder ungewollt – den wichtigen Zwischenhalt der Wiedergutmachung. Max Czollek, das musste ich einsehen, legt hier en passant den Finger in die Wunde und führt eine erschreckend grosse, gesellschaftspolitische Bedeutung dieser Abkürzung vor Augen. Teil des Problems war schon allein wegen ihrer damaligen gesellschaftlichen Stellung auch die evangelische Kirche in der Nachkriegszeit. An einem prominenten offiziellen Text wie der Stuttgarter Schulderklärung von 1945 wurde damals wie heute der mangelnde Verweis auf Antijudaismus und Shoah innerhalb der evangelischen Kirche kritisiert. Christlich-jüdischer Dialog, der die Beziehungen beider Religionen in grosser Bandbreite erneuern (oder überhaupt herstellen) sollte, war in der Folge nicht selten beim zweiten Hinsehen ein Monolog des Christentums über sein Verhältnis zum Judentum.
Als Christ*innen sollen wir uns permanent der Frage danach aussetzen, ob, und wenn ja, welchen Teil wir zum Gottesreich und zu einer göttlichen Gerechtigkeit beitragen. Eine selbstgenügsame Gerechtigkeit, die sich der Versöhnung mit Gott gewiss sein darf und dabei die Versöhnung mit den Mitmenschen bewusst oder unterbewusst vergisst, schiebt die Verantwortung für diese Welt weg und droht in einem Konstrukt der «Wiedergutwerdung ohne Wiedergutmachung» zu landen. Max Czollek plädiert am Schluss seines Buches (157f) für eine plurale Erinnerungskultur, die durch ihren Umgang mit der Vergangenheit die Verantwortung für die Gegenwart wahrnimmt und so einer Gerechtigkeit Rechnung trägt, die zwar keine Wiedergutmachung für die Vergangenheit mehr leisten kann, die aber zu einer Gesellschaft beiträgt, die sensibler, friedlicher und ehrlicher mit sich selbst ist. Der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 auf jüdische Zivilist*innen und der wieder an die Oberfläche gekommene, einst (mal mehr, mal weniger) erfolgreich verdrängte Antisemitismus in den westlichen Gesellschaften verleihen dieser Forderung auf traurige Weise eine Brisanz und Dringlichkeit. Das Geschehene können die heutigen Generationen weitestgehend nicht mehr wiedergutmachen. Aber sie können ihre Verantwortung für die Gegenwart wahrnehmen.
Max Czollek, Versöhnungstheater, München 2023
Martin Rahn-Kächele ist evangelischer Pfarrer in der Kirchgemeinde Meikirch.
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