«Du sollst nicht als falscher Zeuge aussagen gegen deinen Nächsten.» (Ex 20,16; Dtn 5,20) Das Falschzeugnisverbot ist das erste biblische Gebot, das in der von Augustinus verallgemeinerten Variante des Lügenverbots nach wie vor zu einer typischen westlich(-christlichen) Sozialisationsbiografie gehört. Das Verbot ist eindeutig, unmittelbar lebenspraktisch relevant und setzt keine komplexen Sachverhalte, moralische Abwägungsurteile und Verantwortungsverhältnisse voraus. Kurioserweise werden Kinder viel eher mit dem Lügenverbot konfrontiert, als sie entwicklungspsychologisch überhaupt in der Lage sind, zwischen Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit und Lüge unterscheiden zu können. «Da der Heranwachsende im Laufe seiner Entwicklung die Fähigkeit zur kritischen Abstandnahme vom bloss Imitierten und zur bewussten, freiheitlichen Stellungnahme erlangt und damit auch die Möglichkeit gewinnt, Wahrheit wie Lüge zu gebrauchen, d.h. entweder weiterhin am Imitierten, meist Tradierten festzuhalten oder neue Werte zu setzen – so in der abweichenden Lüge –, ist die Ausrichtung auf ein bestimmtes Ideal eine künstliche, kulturelle Angelegenheit, die von frühester Kindheit über die je spezifische Sprache und den je spezifischen sozialen Umgang erlernt wird. Was als Wahrheit und was als Lüge zu gelten hat, liegt nicht in der Natur des Menschen und nicht in der Natur an sich, sondern in der Setzung durch den Menschen, der sich am Ende des Entwicklungsprozesses frei entscheidet, zumindest entscheiden kann, was er als das eine oder das andere akzeptieren will.» Das Gleiche gilt für die Geburtsstunde der Lüge aus biblischer Sicht: Mit der Täuschung durch die Schlange, werden die im Blick auf Lüge und Betrug ahnungslosen Menschen überhaupt erst zu moralischen Subjekten, die fähig werden, zwischen Wahrhaftigkeit und Lüge zu unterscheiden. Bezeichnenderweise verlieren Wahrheit und Lüge ihre Eindeutigkeit, sobald zwischen ihnen unterschieden werden kann, und blähen sich zu einer immer komplexeren Angelegenheit auf. Grundsätzlich stellt sich die Herausforderung auf zwei Ebenen: Auf der ersten theoretisch-epistemologischen Ebene geht es um die Übereinstimmung mit oder Abweichung von objektiven Tatsachen. Wahrheit meint gemäss der Korrespondenzformel von Thomas von Aquin «Adaequatio rei et intellectus» und zielt auf die Übereinstimmung des Verstandes (Gedanken, Wörter) mit der Welt (Tatsachen, Sachverhalte). Die «Wort-auf-Welt-Ausrichtung» kennzeichnet assertive Äusserungen (Behaupten, Feststellen, Konstatieren etc.), mit denen eine Sprechperson mitteilt, was der Fall ist. Die Satz «Es regnet», ist genau dann wahr, wenn es regnet, und genau dann falsch, wenn es nicht regnet. Ob im ersten Fall die Äusserung «Du brauchst keinen Schirm, es ist noch trocken» und im zweiten Fall die Behauptung «Es regnet» Lügen sind, scheint auf den ersten Blick sonnenklar, weil etwas nicht zur gleichen Zeit sein und nicht-sein kann. In der «Summa theologica» bemerkt Thomas: «Die Wahrheit besteht in der vollständigen Angleichung (adaequatio) von Ding und Verstand (intellectus) […]. Sind […] die Dinge Regel und Mass des Verstandes, so besteht die Wahrheit in der Angleichung des Verstandes an das Ding, wie es bei uns ist. Denn deswegen, dass das Ding ist oder nicht ist, ist unsere Meinung und unsere Aussage wahr oder falsch. Ist aber der Verstand Regel und Mass der Dinge, so besteht die Wahrheit in der Angleichung der Dinge an den Verstand». Die scholastische Definition hat eine hohe Alltagstauglichkeit. Wenn eine ortsfremde Person nach dem Weg zum Bahnhof fragt, ist die erhaltene Antwort genau dann wahr, wenn sie die Person tatsächlich zum gewünschten Ziel führt. Mit Thomas: Die Wahrheit besteht in der Übereinstimmung von Verstand (Routenbeschreibung) und Sache (Weg zum Bahnhof). Die Gelingensbedingung besteht in der Übereinstimmung von Worten und Welt. Sollte die Person ihr Ziel nicht erreichen, also die Welt nicht den Worten entsprechen, kann das daran liegen, dass sie die Antwort falsch verstanden oder sich die antwortende Person geirrt oder absichtlich eine falsche Wegbeschreibung gegeben hat. Im letzten Fall hängt es von den Umständen und Gründen ab, ob es sich bei der Fehlinformation um eine Lüge handelt oder nicht.
Auf der zweiten praktisch-moralischen Ebene geht es um ein ehrliches, aufrichtiges und redliches Verhalten im Umgang mit der Wahrheit. Die Wahrheit bildet hier nicht das Kriterium für die Richtigkeit der Aussage (ihres propositionalen Gehalts), sondern das Gut, das im Verhalten geschützt und gefördert werden soll. Das stärkste Plädoyer stammt von Immanuel Kant in seiner kleinen Schrift «Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen». Er widerlegt darin die These von Benjamin Constant: «Der sittliche Grundsatz: es sei eine Pflicht, die Wahrheit zu sagen, würde, wenn man sie unbedingt und vereinzelt nähme, jede Gesellschaft zur Unmöglichkeit machen.» Der französische Philosoph erläutert seine pragmatische Position am Beispiel eines Mörders, der uns fragt, ob wir den von ihm verfolgten Freund, der zu uns geflohen ist, versteckt hätten. Wäre in dem Fall tatsächlich unsere Lüge und nicht vielmehr unsere Ehrlichkeit das eigentliche Verbrechen? Constant argumentiert: «Die Wahrheit zu sagen ist also eine Pflicht; aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf die Wahrheit hat. Kein Mensch aber hat Recht auf eine Wahrheit, die anderen schadet.» Der Königsberger Philosoph wendet dagegen ein, dass die Pflicht zur Wahrhaftigkeit nicht von irgendwelchen Nutzen- und Schadensabwägungen abhängig gemacht werden dürfe, weil Pflichten unbedingten und nicht konditionalen Charakter hätten. Die Lüge «schadet jederzeit einem anderen, wenn gleich nicht einem anderen Menschen, doch der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht. […] Es ist also ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Konvenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot: in allen Erklärungen wahrhaftig (ehrlich) zu sein.» Constants Unterstellung, dass Wahrhaftigkeit schaden könne, träfe nicht zu. Denn wenn wir in dem Beispiel dem Mörder wahrheitsgemäss antworten, tun wir dem Freund kein «Unrecht […] (laedit)», sondern lediglich etwas, das ihm – aufgrund der zufälligen Umstände – «schadet (nocet)». deutung Kants Pflichtenrigorismus erscheint einem ökonomisch-konsequentialistischem Denken nicht nur weltfremd und herzlos, es widerspricht auch den spätmodernen, folgenorientierten Alltagsintuitionen. Für Kant beruhen diese Einwände allerdings auf einem Kategorienfehler. Eine Antwort auf die Frage nach Ehrlichkeit und Lüge dürfe nicht an den Konsequenzen eines konkreten Handelns festmachen, sondern müsse auf die Konsequenzen fokussieren, die eine Relativierung der Pflicht zur Wahrhaftigkeit und eine Rechtfertigung der Lüge für die Gesellschaft und die Menschheit insgesamt hätten. Das Unrecht, das einer Person durch das Befolgen der Wahrhaftigkeitspflicht droht, ist ein ganz anderes als das Unrecht, das mit einer Verletzung der Wahrheitspflicht begangen wird. Denn der Schaden wird nicht durch die Pflichtbefolgung verursacht, sondern durch das verbrecherische Handeln der Person, gegenüber der die Pflicht besteht. Das mag im Einzelfall schwer verständlich sein, macht aber den Kern einer liberalen Rechtsauffassung aus, nach der selbst für brutale Mörder:innen, obwohl sie sich skrupellos über das Tötungsverbot hinwegsetzen, das staatliche Verbot der Todesstrafe nicht sistiert werden darf (auch wenn aus konsequentialistischer Sicht damit die Gefahr zukünftiger Morde durch diese Personen ein für alle Mal beseitigt wäre). Niemand könne wollen – so Kant, dass durch einen akzeptierten und gerechtfertigten Rechtsbruch das Recht selbst aufgehoben würde. Deshalb dürfe die Rechtsgeltung keine Ausnahmen im Einzelfall zulassen. «Denn aus seinem Recht, von einem anderen zu fordern, dass er ihm zum Vorteil lügen solle, würde ein aller Gesetzmässigkeit widerstreitender Anspruch. Jeder Mensch hat nicht allein ein Recht, sondern sogar die strengste Pflicht zur Wahrhaftigkeit in Aussagen, die er nicht umgehen kann: sie mag nun ihm selbst oder anderen schaden.» Das Problem der Lüge bestehe nicht in der «Gefahr (zufälligerweise) zu schaden» (zweifellos eine etwas lapidare Formulierung für ein anderes Unrecht), sondern darin, «Unrecht zu tun». Das würde geschehen, «wenn ich die Pflicht der Wahrhaftigkeit, die gänzlich unbedingt ist und in Aussagen die oberste rechtliche Bedingung ausmacht, zu einer bedingten und noch anderen Rücksichten untergeordneten mache». Kants Auffassung muss auch im Zusammenhang der gerichtlichen Grenzen der Wahrheitsfindung beurteilt werden. Der englische Ausdruck für Gerichtsurteil heisst «verdict» und ist zusammengesetzt aus den lateinischen Wörtern verus = wahr, wirklich, echt und dictum = Wort, Spruch, Äusserung. Allerdings weiss nicht nur der Volksmund, dass nirgendwo so notorisch gelogen wird, wie im Gerichtssaal. Wahrheit ist nicht erzwingbar. Das gilt für martialische Drohungen, Erpressungen und Folter ebenso wie für die viel beschworenen Faktenchecks, die Behauptungen bestätigen oder widerlegen, aber keine Wahrheit herausfinden können. Angesichts der äusserst begrenzten Möglichkeiten, Wahrheit festzustellen und «durchzusetzen» erhält die Kantische Wahrhaftigkeitspflicht ihr besonderes Gewicht.
Das kantische Prinzipiendenken wurde von Anfang an kritisiert und steckt aktuell in einer veritablen Krise. Aber die intuitiv naheliegende Absicht, aus Sorge um den verfolgten Freund und aus Empörung über den Mörder dem Prinzip eine Moral vor die Nase zu setzen, birgt drei unkalkulierbare Risiken: (1.) Die Strategie rentiert sich nur für diejenigen, die über die moralische Definitionsmacht verfügen. (2.) Sie relativiert Verbrechen, aktuell etwa den völkerrechtswidrigen Einmarsch der Russischen Föderation in die Ukraine und die mit dem Selbstverteidigungsrecht Israels gerechtfertigten Verletzungen des humanitären Völkerrechts im Gazastreifen, indem sie diese als moralische Ansichtssachen deklariert, die sich einem verallgemeinerbaren Urteil systematisch entziehen. Und (3.) Jede Person, die für sich in Anspruch nimmt, Richterin in eigener Sache auf der Grundlage ihrer eigenen Moral zu sein, bestreitet ipso facto die objektiven Rechtsansprüche jedes Opfers einer Rechtsverletzung auf Schutz, Verteidigung und Durchsetzung ihrer Rechte mit Hilfe des Rechts. Wer im Blick auf das eigene Handeln die eigene Moral zur obersten Instanz erklärt, kann Dritte und ihr Handeln nicht mehr auf Prinzipien verpflichten. Wer ein Prinzip relativiert, aussetzt oder abschafft, kann sich im Notfall nicht mehr darauf berufen. Wer die Pflichten gegenüber einem Prinzip verweigert, kann nicht mehr umgekehrt die daraus abgeleiteten Ansprüche für sich geltend machen. Die Gewalt der Konsequenzen zeigt sich in aller Klarheit darin, dass sich in der Regel Opfer von Unrecht und Ungerechtigkeit auf Prinzipien berufen und nicht Täter:innen, deren Macht darin besteht, Prinzipien brechen und daraus persönliche Vorteile ziehen zu können. Prinzipien bewähren sich in der Welt der Machtlosen und Ohnmächtigen und nicht in den privilegierten Milieus derjenigen, die auch ohne sie gut durchs Leben kommen. Pflichten zu verweigern, bildet die Kehrseite zu den Rechten, die verweigert werden. Moral und Recht pflegen eine kultivierte Disharmonie. Während die Macht der Moral darin besteht, sich zur Richterin in eigener Sache zu machen, beruht die Stärke des Rechts umgekehrt darauf, die normative Selbstbezüglichkeit zugunsten einer allgemeinen Rechtsgeltung auszuschliessen. Die Differenz lässt sich am reformierten Widerstandsrecht verdeutlichen: Von den Genfer Reformatoren und den ihnen folgenden Juristen bis zum zeitgenössischen Kirchenasyl gilt, dass ein moralisch begründeter Widerstand gegen staatliche Gesetze nicht darauf gerichtet ist, das Recht und seine Geltung durch eine «bessere» oder «höhere» Moral aufzuheben. Vielmehr zielt der konkrete Widerstand kontrafaktisch auf die Anerkennung der Rechtsgeltung, die sich darin zeigt, dass die rechtliche Schuld der Widerstandshandlung grundsätzlich anerkannt wird. Widerstand aus theologisch-ethischer Sicht propagiert keine Anarchie.
Gleichzeitig gilt: Kein formales Prinzip der Welt darf Personen um dessen Geltung oder Aufrechterhaltung willen opfern. Die Märtyrer:innen in der Kirchengeschichte setzten ihr Leben für ihren Glauben und nicht für ein Prinzip aufs Spiel. Und die Personen, die ihr Leben für das Leben anderer opferten und hingeben, taten und tun es um das Überleben und den Schutz konkreter Personen willen. Deshalb beruht die verbreitete Behauptung von der christlichen Nächstenliebe als Prinzip auf einem fundamentalen Irrtum. Es ist ein Abgrund von Verrohung und ein Irrsinn narzisstischen Heldentums, Menschen aufgrund irgendwelcher Ideale oder Ziele auf die Auslöschung ihres Lebens zu verpflichten. Christus starb am Kreuz nicht aus Prinzip, sondern aus Gehorsam. Die Selbsthingabe ist ein Grenzfall des «um willen» und nicht eines «um zu». Deshalb geht die übliche Lesart von Kants Begründung eines kategorischen Lügenverbots nicht auf, wobei umstritten ist, ob er es tatsächlich so verstanden haben wollte. Seine Deutung ist immerhin missverständlich, weil er die Klarstellung unterlässt, dass Benjamin Constant eigentlich gar nicht das Lügenproblem diskutiert, sondern die Frage, was aus der Pflichtenkollision angesichts einer zu Unrecht mit dem Tod bedrohten Person folgen sollte. Tatsächlich präsentiert der Fall kein Lügenproblem, sondern eine existenzielle Bedrohungslage, aus der eine in der Praxis kaum umstrittene Pflichtenhierarchie folgt. Der Holzweg Kants steckt bereits in der falschen Fallbeschreibung im Titel. Es geht nicht darum, ob aus Menschenliebe gelogen werden darf, sondern um die Menschenliebe, deren Motive, Antriebe und Affekte weder auf Prinzipien oder Pflichten beruhen noch durch diese gesteuert werden. Wenn überhaupt von einer Verpflichtung gesprochen werden kann, dann allenfalls im Sinn supererogatorischer Pflichten.
Allerdings verweist die Kontroverse zwischen Constant und Kant auf ein jenseits des analysierten Fallbeispiels liegendes Problem. Die rechtsphilosophischen Überlegungen des Königsberger Philosophen über die generalisierte Pflicht zur Wahrhaftigkeit begegnen in sozialwissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Sprachspielen als Diskurse über wechselseitige Erwartungen, reziproke Erwartungssicherheit, Zuverlässigkeit und Vertrauen. Die Alltagsweisheit, dass wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, selbst wenn er auch die Wahrheit spricht, mag zwar numerisch überambitioniert sein, aber hat eine unmittelbare Plausibilität. Die Unterscheidung zwischen Wahrhaftigkeit und Lüge ist unverzichtbar für die Verteilung der knappen Ressource Vertrauen, die wiederum eine essenzielle Voraussetzung für ein gelingendes Zusammenleben bildet. Alltagserfahrungen lehren einigermassen zuverlässig, wer als vertrauenswürdig gilt und auf wen sich nicht verlassen werden sollte, um nicht zu riskieren, verlassen zu werden. Aus der Tatsache, dass Menschen nicht für sich, sondern in komplexen Verhältnissen wechselseitiger Abhängigkeit existieren, folgt die Unverzichtbarkeit der Wahrhaftigkeit und die Bedrohung und Verunsicherung durch die Lüge. Vertrauen ist eine Wette auf die Zukunft, die nichts auf ihrer Seite hat, als die Versprechen derjenigen, auf deren zukünftiges Verhalten gesetzt wird. Die Worte werden nicht durch die gegenwärtige Welt bestätigt, sondern erklären lediglich, wie ihnen eine zukünftige Welt angepasst werden soll. Die Frage von Wahrheit und Lüge verweist wesentlich auf ein Zeitproblem, entweder im Blick auf die Aufklärung über eine Vergangenheit (hast du das getan?) oder im Blick auf die Aussichten auf eine Zukunft (wirst du das tun?). So sehr Wahrheit aus philosophischer Perspektive eine erkenntnistheoretische Herausforderung darstellt, so deutlich bestimmt die Wahrhaftigkeit die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen gelingender Praxis.
Das Thema Wahrheit begegnet im Alltag vor allem in der Frage nach ihren Grenzen: Soll die Ärztin dem sterbenskranken Patienten die «ganze Wahrheit» über seinen letalen Zustand mitteilen? Muss der Kirchgemeinderat das Versteck der von Ausschaffung bedrohten Flüchtlinge den Behörden preisgeben? Sind Adoptiveltern verpflichtet, ihr Kind über seine wahre Herkunft aufzuklären? Darf die Politik vertuschen, wenn die Sicherheit oder schwerwiegende Interessen des Landes auf dem Spiel stehen? Wie viel Wahrhaftigkeit ist unverzichtbar und wie viel Unwahrheit, Lüge und Vertuschung müssen möglich sein? Dort, wo Wahrhaftigkeit schmerzhaft oder gefährlich sein kann, wird sie zu einer verhandelbaren Grösse: Das Vorenthalten des tatsächlichen Krankheitszustands gewichtet die Belastungssituation für den Patienten höher als die schonungslose Information über seine Prognose. Der Kirchgemeinderat verschweigt den Aufenthaltsort, um die Flüchtlinge vor ihrer Ausschaffung zu schützen. Dem Wohl des Kindes wird Vorrang vor dem Wissen über seine biologischen Eltern eingeräumt. Und der Staat ordnet – spätestens seit Machiavelli – das Wahrheitsgebot seinen politischen Interessen, Schutz- und Erhaltungspflichten unter.
Karen Gloy unterscheidet zwischen acht Kategorien von Unwahrheiten bzw. Lügen: (1.) Sinnliche Täuschungen, die alle Sinnesorgane betreffen, wobei die visuellen und auditiven Irreführungen durch die digitalen Manipulationsmöglichkeiten ins Zentrum gerückt sind; (2.) intellektuelle Irrtümer, bei denen sich feste Überzeugungen durch Beobachtung, neue Fakten oder Belehrung als falsch herausstellen; (3.) standpunktliche Perspektivität, bei der Behauptungen, abhängig von der eingenommenen Perspektive als kohärent (Wahrheit) oder inkohärent (Lüge) erscheinen; (4.) kulturelle Relativität der Weltbilder, aus der die «gleichen» Ereignisse und Sachverhalte verschieden oder sogar gegensätzlich erlebt, erfahren, beurteilt und eingestuft werden; (5.) Filter Bubbles, in denen Ereignisse und Sachverhalte als Aspekte gemeinschaftskonstituierender Selbstbilder und Erzählungen gedeutet werden; (6.) Fake News als zumeist mit politischer, ideologischer, propagandistischer oder ökonomischer Absicht gestreute Falschmeldungen, um ein Publikum in eine bestimmte Richtung zu lenken und zu beeinflussen; (7.) soziale Lügen, entweder als rein äusserliche, formale Verhaltensweisen und Rituale oder als Ausdruck von Gefühlen der Empathie, Anteilnahme, Hilfsbereitschaft, Mitleids und Erbarmens, sowie (8.) Imitation und Mimikry als Täuschungen durch nonverbale Kommunikation und Signalisierung etwa durch Gesten, Mimik oder die Körperhaltung.
Die acht Kategorien unterscheiden sich im Blick darauf, wie Lügen zustande kommen bzw. warum Äusserungen als Lüge wahrgenommen und beurteilt werden und wie Lügen wirken bzw. was mit ihnen beabsichtigt wird. Anders als Gloy macht es Sinn, zwischen Unwahrheiten, denen Personen aufsitzen (1.-5. Kategorie), einer moralischen Konfliktlüge (7. Kategorie), hinter der zwar eine Absicht steckt, die aber nicht in jedem Fall schlecht oder betrügerisch sein muss, und echten Lügen (6. und 8. Kategorie), die auf eine vorsätzliche Täuschung um des eigenen Vorteils willen zielen, zu differenzieren. Unwahrheiten sind nicht beabsichtigt, wer sie äussert, ist Opfer eines Irrtums oder einer nicht durchschaubaren oder durchschauten Strategie. Moralische Konfliktlügen sind zwar beabsichtigt, aber beruhen auf Normenkollisionen zwischen Wahrhaftigkeit einerseits und Nichtschaden, Wohltun, Fürsorge und Barmherzigkeit andererseits. Entscheidend ist dabei, dass die Lüge nicht um der eigenen, sondern um der anderen Person willen geschieht. Allerdings beruht die Begründung auf der fragwürdigen paternalistischen Unterstellung, dass die belogene Person vor der für sie eindeutig relevanten Wahrheit geschützt werden müsse. Die Absicht, die belogene Person einem Irrtum über sich oder die Welt auszusetzen oder darin zu belassen, kann lediglich ein situativ vorzugswürdiger Entscheid in einer Dilemmasituation sein, der die grundsätzliche moralische Falschheit der Lüge nicht aufhebt. Echte Lügen sind der einfachste Fall, weil sie in Kenntnis einer unumstrittenen Wahrheit, absichtlich und um des eigenen Vorteils willen erfolgen.
Die groben und nicht trennscharfen Unterscheidungen können weiter differenziert werden, etwa im Blick auf «die Unwahrheit sagen» (Simulation) versus «die Wahrheit verschweigen» (Dissimilation) oder «die Wahrheit unterschlagen», «Informationen für sich behalten» versus «Informationen selektiv weitergeben», «die belogene Person schützen» versus «andere vor der belogenen Person schützen», «einen Sachverhalt falsch darstellen» versus «einen Sachverhalt im Blick auf bestimmte Interessen günstig präsentieren», «einen Konflikt umgehen» versus «einen Betrug kaschieren», «einen Skandal inszenieren» versus «einen Skandal vertuschen» etc. Dabei vermischen sich epistemologische und moralische Aspekte. In jedem Fall setzen bewusste und absichtliche Lügen Wahrheit voraus. Hannah Arendt meinte im Anschluss an Herodots Einsicht – legein ta conta, zu sagen, was ist –, dass es zwar eine Welt ohne Gerechtigkeit und Freiheit, aber keine Welt ohne Wahrheit geben könne. «Keine Dauer, wie immer man sie sich vorstellen mag, kann auch nur gedacht werden ohne Menschen, die Zeugnis ablegen für das, was ist und für sie in Erscheinung tritt, weil es ist.» Ohne Wahrheit keine Lüge. Als absichtliche Negation, Bestreitung, Abweichung oder Vertuschung der Wahrheit setzt die Lüge Wahrheit logisch voraus. Mehr noch, die Wahrheit muss allgemein (von allgemeinem Interesse bzw. allgemeiner Relevanz) sein, damit die Lüge überhaupt einen strategischen Vorteil gegenüber der Wahrhaftigkeit erringen kann. Auch wenn es despektierlich klingt, sind gerade der Erfolg und die Erfolgsaussichten von Lüge, Fälschung, Vertuschung, Verschleierung, Intrige, Desinformation, Ablenkung usw. starke Belege für die vorausgesetzte allgemeine Geltung von Wahrheit. Andernfalls wären die genannten sprachlichen Manipulationsstrategien blosse Meinungen und ebenso erheblich oder unerheblich, wirkungsvoll oder wirkungslos wie jede andere Meinung neben ihnen.
Aus soziologischer Perspektive ist Wahrheit keine Frage epistemologischer Gewissheit, sondern normativer Geltung. Insofern ist die erwähnte Volksweisheit «Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, selbst wenn er auch die Wahrheit spricht» nur die halbe Wahrheit. Häufig trifft das Umgekehrte zu: Die Welt will belogen werden, wichtig ist nur, dass darüber Einigkeit besteht. Die Fähigkeit und Bereitschaft von Gemeinschaften, sich über sich selbst zu täuschen, bilden eine starke gesellschaftliche Kohäsionsressource, deren Stabilität sich nicht zuletzt daran bemisst, trotz besseren Wissens daran festzuhalten. Beispielhaft dafür steht die historische Kontroverse um die zwischen 1996 und 2001 amtierende «Unabhänige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK)». Die sogenannte Bergier-Kommission sollte den Goldhandel und die Devisengeschäfte mit jüdischen Vermögen durch die Schweizerische Nationalbank und die privaten Geschäftsbanken während des Zweiten Weltkriegs untersuchen. Im Hintergrund des vom Bundesrat lancierten Projekts stand der Streit zwischen der Aktivdienstgeneration und der historischen Forschung über die geschichtliche Deutungshoheit in der Zeit der faschistischen Diktaturen in Europa. Die aktuellen Debatten über die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in den Kirchen bestätigen, wie massiv institutionelle Selbstverständnisse und -bilder der Wahrheitssuche im Weg stehen. Und erst viel später wird vielleicht ans Tageslicht kommen, welcher Propaganda die Welt im Ukrainekrieg und im Gaza-Konflikt aufgesessen war. Von Aischylos bis zu US-Senator Hiram Johnson gilt: «Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit.» Unwahrhaftigkeit bestimmt auch die sozialen Konventionen und Höflichkeitsrituale. Das Begrüssungsformel «Wie geht es Dir/Ihnen?» gelingt nur, wenn Fragende und Gefragte auf das Höflichkeitsspiel konditioniert sind. Es hätte gravierende Missverständnisse zur Folge, wenn die Frage, über den Austausch gegenseitigen Nettigkeiten hinaus, ernstgemeint und ernstgenommen würde. Der Dispens von und die Immunisierung gegenüber der Wahrhaftigkeit bilden einen wichtigen ökonomischen Zug im sozialen Spiel wechselseitiger Vergewisserung und Bestätigung.
Nicht zufällig beendete Thomas Hobbes sein grosses und wegweisendes staatstheoretisches Werk «Leviathan» von 1651 mit der ernüchternden Einsicht: «Denn solche Wahrheit, die niemandes Vorteil oder Vergnügen entgegensteht, ist allen Menschen willkommen.» Gut zwei Jahrhunderte später radikalisiert Friedrich Nietzsche in seinem Essay «Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn» den Gedanken seines älteren Kollegen: Der Mensch «begehrt die angenehmen, Leben erhaltenden Folgen der Wahrheit; gegen die reine folgenlose Erkenntnis ist er gleichgültig, gegen die vielleicht schädlichen und zerstörenden Wahrheiten sogar feindlich gestimmt». Macht, Eigeninteresse, Bequemlichkeit, Selbstbestätigung und Dummheit sind sprudelnde Quellen von Unwahrheit, Lüge und Betrug. Zwar haben investigativer Journalismus, WikiLeaks und Whistleblowing Konjunktur und die Empörung über «alternative facts» (von der Trump-Administration) und «fake news» (der Berichterstattung über die Trump-Administration) gehört zum guten Ton. Zugleich präsentieren sich die sozialen Medien als Börse für den Handel alternativer Wahrheiten und bestätigen die Ahnung von Nina Hagen nach ihrer Emigration in den Westen: «Ich kann mich gar nicht entscheiden, is’ alles so schön bunt hier.» Lange vor den Begriffen «Fake-News», «Filter-Bubbles» und «alternative facts», polterte Eberhard Jüngel: «Hat es je ein grösseres Lügenmaul gegeben als die sogenannte Medienwelt?» Angesichts des Verschwimmens der Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge, Klarheit und Täuschung, Transparenz und Verschleierung liegt der Verdacht nahe, dass sich hinter der Sehnsucht nach Wahrheit eine gesteigerte und unter Umständen unfreiwillige Form des Selbstbetrugs verbirgt. Warum Wahrhaftigkeit anstreben, wenn sie das Leben mühseliger machen, den eigenen Vorteil riskieren, die soziale Anerkennung aufs Spiel setzen und die liebgewonnenen Selbstbilder demontieren könnte? Das epistemologische Ziel der Wahrheit kollidiert mit den lebenspraktischen Zielen von Erfolg, Funktionalität, Bestätigung, Kalkulierbarkeit und Sicherheit.
Die These, dass Politik ein «schmutziges Geschäft» ist, bezweifelt niemand ernsthaft. Kontrovers diskutiert wird lediglich die Frage, ob es sich dabei um eine Beschreibung von unhintergehbaren Tatsachen oder um ein kritisches Urteil über prekäre moralische Zustände handelt. In der Geschichte standen wenige optimistische Stimmen, die von einem reparablen Moraldefekt der Politik ausgingen, einer Mehrheit realistischer oder zynischer Sichtweisen gegenüber, die die Unverzichtbarkeit der Lüge für die Politik behaupteten. Als schillernder Prototyp gilt die Staatstheorie des Politikers und Philosophen Niccolò Machiavelli, der in seinem «Il Principe» von 1513/1532 den Herrschenden empfahl, «dass man Hass sowohl durch gute als auch durch schlechte Taten auf sich ziehen kann: Daher sieht sich […] ein Fürst, im Interesse der Staatserhaltung, oft genötigt, nicht gut zu sein. Denn wenn diejenige Gruppe – sei es das Volk, seien es die Soldaten oder seien es die Granden –, der du am meisten zu bedürfen glaubst, um dich zu behaupten, korrumpiert ist, so muss du ihrer jeweiligen Laune entsprechen, um sie zufriedenzustellen: Aber dann sind gute Taten schädlich für dich.» Der Florentiner Gelehrte hatte die nüchtern-realistische Sicht auf die politische Herrschaft nicht erfunden, aber daraus eine wegweisende Theorie der Staatsführung entwickelt. Gleichzeitig riet er den Christ:innen, sich aufgrund der ambivalenten Moralzumutungen von der Politik fernzuhalten. Diese Empfehlung klingt noch in Max Webers Unterscheidung zwischen christlicher Gesinnungs- und politischer Verantwortungsethik nach: «Aber es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt – religiös geredet – ‹der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim›, oder unter der verantwortungsethischen: dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.» Damit rücken zwei Fragen ins Zentrum: (1.) Welche Bedeutung spielt die Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit für die Politik? Und (2.) Worauf kann sich Politik mit ihrem zumindest teilweisen Dispens von einer Wahrheits- resp. Wahrhaftigkeitspflicht berufen?
Diesen Fragen ist Hannah Arendt im Anschluss an die heftigen Reaktionen auf ihren Bericht «Eichmann in Jerusalem» von 1963 nachgegangen. Ihre in mehreren Vorträgen entwickelte Position beruht auf der von Leibniz übernommenen Unterscheidung zwischen (theoretischen) Vernunft- und (praktischen) Tatsachenwahrheiten. Während die ersten auf die Erkenntnis des Göttlichen (Platon) bezogen sind, die an die Grenzen des Wissens stossen und entdeckt werden (Heidegger: aletheia als «Entbergen»), betreffen die zweiten «die unweigerlichen Ergebnisse menschlichen Zusammenlebens und Handelns, die [die] eigentliche Beschaffenheit des Politischen ausmachen». Im alten Streit zwischen Vernunftwahrheit und Politik, die Thomas im eingangs erwähnten Zitat im Blick hatte, ging es um zwei inkommensurable Lebensweisen: die philosophische, die auf die Erkenntnis überzeitlicher Wahrheiten bezogen ist, und die politische, die es mit Meinungen über kontingente Tatsachen zu tun hat. Theoretisch bereits bei Aristoteles, praktisch in der Moderne verschiebt sich der politische Wahrheitskonflikt von der Kontrovers zwischen Vernunftwahrheiten und politischen Meinungen zum Streit zwischen Tatsachenwahrheiten und politischen Meinungen. Die Rolle der Wahrheit bleibt dabei gleich: «in beiden Fällen inspiriert sie das Denken und hält die Spekulation in Schranken».
Zwar gab es zahlreichen Versuche, die kontingente Welt der Tatsachen, in der alles, was ist, auch anders hätte kommen können, durch metaphysische Annahmen einer «höheren» Notwendigkeit in den Griff zu bekommen: eine «invisible hand» (Smith), ein «verborgener Plan der Natur» (Kant), eine «List der Vernunft» (Hegel), eine «Dialektik der materiellen Verhältnisse» (Marx) oder ein historischer Standpunkt, von dem aus erkannt werden kann, «wie es eigentlich gewesen ist» (von Ranke). Alle Konzepte scheitern an der Kontingenz der Tatsachen und der Grenzenlosigkeit der Meinungen darüber. Für die Politik gilt: Nicht Wahrheit begrenzt die Uferlosigkeit der Meinungen, sondern Macht: «Sed auctoritas non veritas facit legem». Arendt geht über Hobbes hinaus, indem sie politische Macht als das Ergebnis politischer Kommunikation von Meinungen über Tatsachen rekonstruiert. Ihr Ansatz wird verständlich vor dem Hintergrund ihrer Ablehnung der Begründung politischer Entscheidungen mit Vernunftwahrheiten. Vernunftwahrheit mit dem «Anspruch absoluter Wahrheit, die von den Meinungen der Menschen unabhängig zu sein vorgibt» darf kein Massstab sein, weil sie, jenseits der Politik verortet, «die Axt an die Wurzeln aller Politik und der Legitimität aller Staatsformen legt». Vernunftwahrheiten betreffen «den Menschen im Singular». Als Gegenstände der menschlichen Erkenntnis – und nicht seiner Existenz – sind sie «ihrem Wesen nach unpolitisch». Auf den Bereich der Politik übertragen münden sie in die philosophische Tyrannei, die Platon mit seinen Philosophenkönigen vor Augen hatte, die «im Namen der ‹Wahrheit› eine jener Despotien errichten, wie wir sie aus politischen Utopien kennen». Deshalb müsste Arendt in der Konsequenz auch die von Apel und Habermas begründete Diskurstheorie ablehnen, weil diese auf das epistemische Konzept egalitär-argumentativer Rechtfertigungsdiskurse qua Vernunft setzt.
Einem Relativismus blosser Meinungen entgeht Arendt, indem sie an der Wahrheit kontingenter Tatsachen als Fixpunkte für die Begründung politischer Meinungen festhält. Für Tatsachen gilt, dass sie «ausserhalb aller Übereinkunft und aller freiwilligen Zustimmung» stehen. Sie sind nicht Gegenstand demokratischer Abstimmungen, sondern «von einer unbeweglichen Hartnäckigkeit, die durch nichts ausser der glatten Lüge erschüttert werden» können. Dass die Russische Föderation die Ukraine überfallen hat und nicht umgekehrt, ist eine historische Tatsache, deren Wahrheit unabhängig von allen Meinungen über den Ukrainekrieg besteht. Allerdings lässt sich diese Tatsachenwahrheit nicht – wie Vernunftwahrheiten – begründen, denn bei einem Tatbestand lässt sich «niemals ein schlüssiger Grund angeben, warum er ist, wie er eben ist. Alles, was sich im Bereich menschlicher Angelegenheiten abspielt – jedes Ereignis, jedes Geschehnis, jedes Faktum – könnte auch anders sein, und dieser Kontingenz sind keine Grenzen gesetzt.» Tatsachen können nur konstatiert werden. Sie beschränken sich nicht auf empirisch-wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern betreffen die Wahrnehmungen und Erfahrungen gemeinschaftlicher Praxis. Gegenstand von Politik sind sie in der Art und Weise, wie sich in politischen Meinungen (Debatten) darauf bezogen wird. Bezüglich der Meinungen rechnet Arendt nur die Bestreitung (Lüge) von Tatsachen, nicht aber ihre Bestätigung dem Handeln zu. Denn die Bestätigung lässt den – durch die Tatsachen konstituierten – politischen Raum, wie er ist, während die Lüge darin mit der Absicht eingreift, ihn zu verändern. Lüge in der Politik meint ein Handeln, das auf Veränderung der Deutung der Tatsachen zielt. Von einem eigentlichen Handeln unterscheidet es sich darin, dass es nicht auf Zukunft, sondern auf die Vergangenheit gerichtet ist, aus der die Tatsachen stammen. Lüge in der Politik ist ein Handeln, das die Bedingungen der Praxis als Ort eigentlichen Denkens und Handelns verändern will.
Was damit gemeint ist, erläutert Arendt an den sogenannten «Pentagon Papers». Es handelt sich um die unter Leitung des US-amerikanischen Verteidigungsministers Robert McNamara zwischen 1967 und 1969 erarbeitete geheime Studie über die Verwicklungen und militärischen Entscheidungen der USA im Vietnamkrieg. Das Beispiel steht für zwei neue Spielarten der Lüge durch «Public-Relations-Manager in der Regierung» und durch expertokratische «berufsmässige ‹Problem-Löser›». Beide Strategien unterscheiden sich von den immer schon und bis heute angewendeten Mitteln der Lüge staatlicher Politik: Geheimhaltung, Täuschung, Diplomatie, Staatsgeheimnisse, gezielte Irreführungen und strategische Lügen. Während diese Strategien selektiv und punktuell vorgehen, stellt die Verwissenschaftlichung oder Expertokratisierung von Politik eine institutionalisierte, strukturelle Lüge dar, deren Dynamiken nicht durch den absichtlichen Betrug anderer, sondern durch einen unbemerkten und deshalb ungebremsten Selbstbetrug erzeugt werden. Die Politik stützt ihre Urteile und Entscheidungen nicht auf die Wirklichkeit, sondern auf «wissenschaftliche» Theorien, Formeln und Prognosen über die Wirklichkeit. Um die theoretischen Vorhersagen als politische Entscheidungsgrundlagen zu plausibilisieren, muss die Vergangenheit der Tatsachen mit den theoretischen Vorgaben kompatibel gemacht werden, damit die Extrapolationen der Tatsachen aus der Vergangenheit mit den intendierten zukünftigen Zielen übereinstimmen. Die Strategie folgt der Logik der Person, die «sagt, Frau Schmidt sei gestorben, und […] dann hingeht und sie umbringt». Die Lüge der expertokratischen «Problem-Löser»-Strategie von Politik besteht für Arendt in dem Bestreben, «die Tatsachen beiseite zu schieben». Die systematische Manipulation führt zur Verzerrung und Verdrängung der Realität auch derjenigen, die sie inszenieren. Indem die Politik ihre eigenen Propaganda-Erzählungen internalisiert, verliert sie die Fähigkeit, überhaupt noch zwischen Wahrheit und Täuschung zu unterscheiden.
Wie die 7.000 Seiten der Pentagon-Papers dokumentieren, reagierten Politik und Militär im Vietnamkrieg nicht mehr auf Fakten und Analysen, sondern auf die Illusionen, die sie selbst – mit Hilfe der von ihnen zugezogenen Expert:innen – geschaffen hatten. Die Folgen waren eine zunehmende Kontraintuitivität und Irrationalität der Entscheidungen. Die Entscheidungsträger:innen waren schlicht nicht mehr in der Lage, die Welt der Tatsachen zu sehen, wie sie war. Während die Person, die eine andere gezielt und bewusst täuscht, darum weiss, dass sie die Tatsachen verdreht oder verschleiert, verliert die Person, die sich damit zugleich selbst täuscht, den Blick für die Differenz. Sie ist sich ihres eigenen Täuschungsmanövers nicht mehr bewusst, weil sie strategisch alles daransetzt, die Täuschung aufrechtzuerhalten und abzusichern. Die Selbsttäuschung richtet sich nach innen und manipuliert das eigene Urteilen. Während die Täuschung anderer als Mittel zur Stabilisierung und zum Fortbestand der Politik eingesetzt wird, bedeutet die Selbsttäuschung – für Arendt – das Ende der Politik durch die Zerstörung der Öffentlichkeit und ihrer Urteils- und Entscheidungsfähigkeit im Meinungsstreit.
Max Weber hatte in seinem bereits genannten Vortrag «Politik als Beruf» drei Eigenschaften für Politiker:innen gefordert: Leidenschaft, Verantwortung und Augenmass. Alois Riklin stellt am Schluss seiner Abschiedsvorlesung die Frage, ob nicht Wahrhaftigkeit als vierte Eigenschaft hinzutreten müsste. Dagegen hat Niklas Luhmann aus systemtheoretischer Sicht eingewendet: «Die Dame ist nicht fürs Feuer, das politische System ist nicht für eine Kontrolle an Hand von moralischen Kriterien gedacht. Es kann sich nur politisch steuern. […] Es scheint, dass das politische System […] selbst regelt, in welchen Hinsichten und in welchen Formen Moral relevant wird. […] Die Leute neigen zum Moralisieren, weil das Moralschema gut/schlecht ihnen eine Chance gibt, sich selbst auf der guten Seite zu platzieren.» Für den Soziologen ist das Thema mit zwei Paradoxien konfrontiert: einerseits einem Moralparadox, das darin besteht, «dass die Moral gelegentlich unmoralisches Handeln erfordert», und andererseits einem Kommunikationsparadox, das die «Kommunikation von Nichtkommunizierbarem» fordert. Das Moralparadox könnte nur durch eine Ethik aufgelöst werden, die «über die Anwendung und Nichtanwendung von Moral befinden könnte. Sie müsste Moral als eine Form beobachten können, die zwei Seiten hat, nämlich eine gute und eine schlechte, und die mit beiden Seiten wirkt.» Weil es eine solche Dispensethik von Moral nicht geben kann, übernimmt eine durch Massenmedien verwaltete Moral die moralische Kontrolle der Funktionssysteme mit Hilfe von Skandalen. Sie machen auf schrille Weise klar, «was zu vermeiden ist und worin man sich vorsehen muss. Skandale heben die Einmaligkeit hervor, sie markieren individuelles Fehlverhalten und lassen damit den normalen Betrieb unmarkiert passieren. Wen es erwischt, der wird geopfert, damit alles andere unverändert weiterlaufen kann. Das erfordert hohe Eindeutigkeit des individuellen Fehlverhaltens mit der Möglichkeit, dass alle Unbeteiligten sich bei der Aufdeckung überrascht und entrüstet zeigen können.» In der Moderne reimt sich für Luhmann (nicht nur in der Politik) «Paradise lost» auf «Paradigm lost». Bezogen auf die Frage von Wahrheit und Lüge geht es – mit Hannah Arendt – um die «beunruhigendste Frage»: «[W]enn die modernen Lügen sich nicht mit Einzelheiten zufrieden geben, sondern den Gesamtzusammenhang, in dem die Tatsachen erscheinen, umlügen und so einen neuen Wirklichkeitszusammenhang bieten, was hindert eigentlich diese erlogene Wirklichkeit daran, zu einem vollgültigen Ersatz der Tatsachenwahrheit zu werden, in den sich nun die erlogenen Einzelheiten ebenso nahtlos einfügen, wie wir es von der echten Realität gewohnt sind?»
Die vorgestellten Überlegungen von Arendt, Luhmann und anderen stammen allesamt aus einer Zeit lange vor Social Media, Donald Trump, «Fake News», «alternative facts» und Artificial Intelligence, mit ihren grenzenlosen Manipulationsmöglichkeiten. Trotzdem thematisieren sie bereits alle wesentlichen Problemaspekte und dekonstruieren schon im Vorfeld die Holzwege, auf denen die Kritiken und Forderungen von heute unterwegs sind. Im Kern geht es um die Frage, wie Lüge, Täuschung und Betrug erkannt werden können, wenn die Massstäbe oder Referenzen der Wahrheit und des Guten selbst nicht mehr identifizierbar sind. Wenn nicht mehr klar ist, wovon abgewichen wird, ist die Abweichung die Realität, Norm und Normalität. Die Forderung nach Wahrheit als Norm für die Wirklichkeit folgt präzise der Logik in der Frage, wie viele Sprossen ein Matrose hochsteigen muss, der auf einer an der Schiffsreling befestigten Strickleiter mit einem Sprossenabstand von 30 cm Abstand kurz über der Wasseroberfläche steht, wenn die Flut den Meeresspiegel um einen Meter ansteigen lässt. Tatsächlich erfolgen die meisten Debatten über die Lüge auf dem Politikdampfer aus der Matrosenposition. Der Selbstbetrug, in der Unterstellung, neben oder über den Verhältnissen zu stehen, macht aus Betrüger:innen Betrogene und aus moralischen Wahrheitswächter:innen Betrüger:innen. Das ist kein moralischer Makel, sondern technische Systemfunktionalität, die in der Regel mit den besten Absichten auftritt. Während der Corona-Pandemie bemühten sich eine Vielzahl unterschiedlicher Expert:innen darum, das Virus zu entschlüsseln, die Funktionsweise und Folgen zu prognostizieren und effiziente Reaktionen und Gegenmassnahmen zu entwickeln. Die pandemieunerfahrene Politik verliess sich auf die naturwissenschaftliche und medizinische Expertise, was dazu führte, dass aus Bürger:innen Patient:innen wurden, deren Belange nach bestem medizinischen Wissen und Gewissen auf Kosten der rechtsstaatlich-demokratischen Grundsätze von Politik organisiert wurden. Die Politiker:innen und Fachleute verfolgten keinerlei Betrugsabsichten, aber trotzdem wurden viele Bevölkerungsgruppen um ihre Rechte und Freiheiten «betrogen». Die durch die massive Verunsicherung der Politik höchst beunruhigten Bürger:innen verlangten nach Antworten, Strategien und Lösungen. Die offensichtlichen Tatsachen waren zu bedrohlich, um ihnen ins Auge zu sehen, und die Politik reagierte komplementär, in dem sie ihre komplette ehrliche Ratlosigkeit der Bevölkerung nicht zumutete, sondern kommunikativ verhüllte.
An dieser Stelle findet eine verblüffende Umkehrung statt. Die Frage, wie viel Ehrlichkeit Politik braucht und wie viel Lüge sie darf, wird zu derjenigen danach, wie viel Ehrlichkeit die Gesellschaft überhaupt erträgt und wie viel Lüge sie braucht. Die öffentlichen Diskussionen in Politik, Zivilgesellschaft und sozialen Netzwerken werden mit Bestätigungsdebatten geflutet, in denen Expert:innen aller Art jede beliebige Meinung mit einem Wahrheitssiegel ausstatten. Persönliche Befindlichkeiten werden zu politischen Ereignissen von staatstragender Bedeutung aufgepustet und verdrängen den nüchternen Streit um die Tatsachen. So entstehen Ghettos des Selbstbetrugs, in denen Fragen nach Wahrhaftigkeit und Lüge obsolet und durch das jeweils «richtige» Bekenntnis ersetzt werden. Donald Trumps Ego ist lediglich das Symptom gesellschaftlicher Zustände, die durch moralische Entrüstung nicht kritisiert, sondern bestätigt werden. Ärgerlicherweise ist der zukünftige US-Präsident seinen Kritikerinnen einen entscheidenden Schritt voraus: er wird Tatsachen schaffen. Der Wahlerfolg mit seinem Versprechen, Tatsachen zu schaffen, bestätigt Arendts Beobachtung von der allgemeinen Verweigerung, die Tatsachen sehen und anerkennen zu wollen. Die Philosophin benennt, die Misere, an der es anzusetzen gälte: «Dass Menschen Tatsachen, die ihnen wohl bekannt sind, nicht zur Kenntnis nehmen, wenn sie ihrem Vorteil oder Gefallen widersprechen, ist ein so allgemeines Phänomen, dass man wohl auf den Gedanken kommen kann, dass es vielleicht im Wesen der menschlichen Angelegenheiten, der politischen wie der vorpolitischen, liegt, mit der Wahrheit auf Kriegsfuss zu stehen. Es ist, als seien Menschen gemeinhin ausserstande, sich mit Dingen abzufinden, von denen man nicht mehr sagen kann, als dass sie sind, wie sie sind – in einer nackten, von keinem Argument und keiner Überzeugungskraft zu erschütternden Faktizität.»
Vollständiger Text mit Fussnoten und Quellenangaben:
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