Ich erinnere mich noch sehr gut an die Parole der US-Wahlen 2016: «Drain the swamp». Damals kritisierten die Pro-Demokraten die Anti-Establishment-Rhetorik des Trump-Lagers als Angriff auf die amerikanischen Institutionen. Nach dem republikanischen Sieg in diesem Jahr (2024) ist die Stimmung anders: Der Zweifel schleicht sich ein, ob die Demokraten tatsächlich ein Problem mit der sozialen Basis haben. Vielleicht müssen sie sich wirklich neu erfinden? Kamala Harris tritt zurück. Es ist, als ob man aus einem Traum erwacht. Vielleicht gibt es die Offenheit, für neue und andere Sichtweisen, die über blosse Empörung hinausgehen.
Unter den Reaktionen, die ich in den Tagen nach der Wahl beobachte, betonen einige die Vorhersehbarkeit des Ergebnisses. Die Kandidatur von Harris begann spät und schaffte es nicht, eine Mehrheit der Wählenden zu überzeugen. Sie verfügte über kein überzeugendes wirtschaftliches Programm, das den Erwartungen der Bevölkerung hinsichtlich ihrer Kaufkraft gerecht wurde.
Weder die von den Kandidat:innen vertretenen moralischen Werte, noch die Konkruenz ihres Verhaltens spielten eine entscheidende Rolle. Ein Kollege in den sozialen Netzwerken betonte: Die Wählerinnen und Wähler, die für Trump gestimmt haben, sind nicht die Mehrheit der Dummen. Es gab Gründe, für die Republikaner und nicht für die Demokraten zu stimmen. Das mag viele enttäuschen, aber es scheint einfach «so zu sein».
Diese Forderung konnte ich in letzter Zeit regelmässig in meiner sozialen Blase lesen und hören. Dahinter verbirgt sich die Furcht vor einer sich drastisch verändernden politischen Praxis. «Wenn Donald Trump wiedergewählt wird, dann…“. Das Echo dieser Ängste hallt im Memo von Jordan Davis (Korrespondent der RTS in den USA) nach, das auf die Siegeserklärung des republikanischen Kandidaten folgte: «Democracy! Democracy!» – Die Stimme von Jordan EP 24.
1) Eine Person, die in mehreren Prozessen angeklagt und vor Gericht verurteilt wurde, ist eine Person, die für das Präsidentenamt wählbar ist; 2) Eine Person, die nach ihrer Wahlniederlage zur Invasion gegen den Sitz des Kongresses (Legislative) motiviert hatte, ist eine Person, die für das Präsidentenamt wählbar ist; 3) Eine Person, die ohne Scham und wiederholt die Regeln der politischen Debatte (Anstand, Rationalität) brach, ist eine Person, die für das Präsidentenamt wählbar ist.
Nach der Wahlnacht ist meine soziale Blase in einer Art Katerstimmung. Für sie hatte Trump bereits in der ersten Legislaturperiode Tabus gebrochen. Die Wiederwahl besiegelt das Undenkbare, dass die Welt ist nicht mehr die Gleiche ist. Andere Blasen reagieren gelassen: Alles nur Wahlrhetorik, die Institutionen der Demokratie sind nicht in Gefahr! (Marc Fuhrmann, Forum, 06 november).
Aus distanzierterer Sicht erscheint der Sieg als Bestätigung einer allgemeineren Frustration gegenüber den politischen Dynamiken des liberal-sozialen Kompromisses nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist auch eine Frustration über die Verfahren, die den politischen Diskurs regulieren (vgl. als prominentestes Beispiel die Diskursethik von J. Habermas). Von Rechts (Neo-Nationalismus) und von Links (radikale Demokratie) regt sich Unmut über eine Perspektive, die den rationalen argumentativen Diskurs ins Zentrum des politischen Systems stellt.
Der Unmut über das System fokussiert besonders auf die behauptete Unfähigkeit, zufriedenstellende Antworten auf die Herausforderungen des Alltags zu liefern. Der Frust äussert sich in Enttäuschung und Groll. In einem Podcast mit meinem Kollegen Stephan Jütte bringt die Nationalrätin Tamara Funiciello ihre Frustration zum Ausdruck: Trotz aller Analysen und empirischen Studien über gesellschaftliche Gewaltverhältnisse und Ungerechtigkeiten, kann beispielsweise die Realität von Gewalt gegen Frauen aus dem politischen Diskurs weiterhin und leichtfertig verdrängt werden (Geschlecht, Gewalt und Verantwortung - Difference ab 30:45), ohne dass damit irgendwelche Konsequenzen verbunden wären.
Die Empörung über das Wahlergebnis dominiert die Stimmung in meiner protestantisch-reformierten und sozial-progressiven Blase. Trumps Sieg wird als Schlag gegen den Wert intellektueller Redlichkeit und die Hochschätzung von Vernünftigkeit, Verständigung, Gerechtigkeit und Respekt gegenüber anderen erlebt. Letztlich erscheint die Wahl als Beleidigung für die Würde des Wortes – das einzig wahre Mittel, das in der protestantischen Denkweise in der Lage ist, die Herzen zum Umdenken und zur Umkehr zu bewegen.
Und vielleicht sehen wir hier, wie sehr die moderne westlich-liberale Welt mit der protestantischen Identität im Einklang kommt. Wenn diese Welt einen Schlag bekommt, erheben ihre Verteidiger:innen stolz ihre Stimme, um die Situation anzuprangern und globales Mitgefühl zu erklären. Eine andere Wahl, als den Schlag hinzunehmen, haben sie nicht. Die Empörung als Verdrängungsreflex der eigenen Ohnmacht verdeckt die Notwendigkeit einer konsequenten politischen Analyse. Ich fürchte jedoch, dass diejenigen, denen diese Analyse vorrangig gelten müsste, gegen die Übermacht der moralischen Empörung keine Chance haben.
Die Wahlnacht konnte Kopfschmerzen verursachen. Wahrscheinlich sind wir aber noch nicht am Ende der Nacht angekommen – ich weiss nicht, ob wir schon den ganzen Schnaps herunter gesoffen haben oder ob wir nur eine Atempause eingelegt haben. Die Nacht geht mit einer Art «Party danach» weiter, bis das Tageslicht die noch im Dunkeln liegenden Verwüstungen der Nacht offenlegt.
Immer deutlicher zeigt sich, dass sich jedes protestantische Überlegenheits-Ethos – egal aus welchem Lager – in Zukunft verdächtig macht. Das gilt für die, die nun die Macht haben (die evangelikale Rechte ist in der Tat protestantisch!), und für die anderen, deren liberales Modell sich als zu wenig krisenresilient erweist (es reagiert hilflos auf die Enttäuschung und den Groll in der Gesellschaft).
Das ist kein Plädoyer für eine Aufgabe der liberalen Idee – insbesondere vom Status der Person, ihrer Freiheiten und Rechte. Aber man kann jetzt, nüchtern die Ambivalenzen des Systems anerkennen: Die Realität der Gewalt im System und die inzwischen dominierenden Sicherheitsbedürfnisse dürfen nicht länger verdrängt werden. Ihr müssen sich Politik und Gesellschaft stellen. Die Empörungslust – als Abwehrreflex – wird bleiben. Entscheidend aber ist die (selbst-)kritische Prüfung der realen materiellen Bedingungen von Politik und Gesellschaft und die Bereitschaft mit den Transformationsprozessen engagiert zu ringen.
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