Die Götter, Gott und der Sport
«Durchlaufe die Natur in all ihrer Majestät, die Natur, der du dich nähern zu wollen scheinst, und leite daraus, wenn du es wagst, ein Beispiel für diese tyrannische Herrschaft ab. Geh zu den Tieren, befrage die Elemente, studiere die Pflanzen, ja wirf einen Blick auf den Kreislauf der Natur und füge dich dem Beweis, wenn ich dir die Mittel dazu in die Hand gebe. Suche, untersuche und unterscheide, wenn du es kannst, die Geschlechter in der Ordnung der Natur. Überall findest du sie ohne Unterschied zusammen, überall arbeiten sie in einer harmonischen Gemeinschaft an diesem unsterblichen Meisterwerk.»
Olympe de Gouges
Der viel zitierte antike Ausspruch, dass in einem gesunden Körper ein gesunder Geist wohne, trifft nicht ganz zu. Gegen eine krankmachende Überforderung des Körpers oder der Seele hatte der griechische Philosoph Platon im «Timaios» empfohlen: «Weder die Seele ohne Körper noch den Körper ohne die Seele in Bewegung zu setzen, damit beide, auf ihre Verteidigung bedacht, gleichgewichtig und gesund werden. Der Mathematiker also oder wer sonst eine andere Disziplin intensiv mit dem Verstand betreibt, muss zum Ausgleich, indem er sich daneben auch der Gymnastik widmet, die Bewegung des Körpers pflegen; wer dagegen seinen Körper eifrig bildet, der muss zum Ausgleich indem er sich zusätzlich mit der musischen Kunst und jeglicher Philosophie beschäftigt, die Bewegungen der Seele pflegen, wenn er mit Fug und Recht sowohl schön als auch gut im rechten Sinne genannt werden will.» Für den antiken Philosophen ist die Korrelation von körperlicher und seelischer Gesundheit keineswegs ausgemacht, vielmehr gilt es, einen solchen Zustand durch ein ausgleichendes Verhalten anzustreben. Noch deutlicher wird der römischer Dichter Juvenal ein gutes halbes Jahrtausend später, auf den sich der heutige Ausspruch beruft: «orandum est ut sit mens sana in corpore sano» – es soll darum gebetet werden, dass ein gesunder Geist in einem gesunden Körper sei. Das Zusammenspiel (Eurythmie) von gesundem Körper und gesundem Geist/gesunder Seele ist weder ein Patentrezept zwischen Muckibude und Migros-Clubschule noch im Kaufpreis von Produkten des japanischen Sportartikelkonzerns «ASICS» (Anima Sana In Corpore Sano) schon enthalten, sondern steht für eine komplexe Lebensform der goldenen Mitte (Aristoteles’ Mesotes-Lehre), die auf Ausgleich der Antriebe und ein umfassendes Lebensgleichgewicht zielt.
Auf die antike Lehre berief sich auch der französische Pädagoge und Historiker Pierre de Coubertin. Unter dem Eindruck der archäologischen Ausgrabungen im griechischen Olympia (und – wie behauptet wird – wegen der Niederlage Frankreichs im Deutsch-Französischen-Krieg 1871, die er auf die mangelnde körperliche Fitness der französischen Truppen zurückführte) engagierte sich de Coubertin 1880 für eine Wiederbelebung des olympischen Gedankens. Dabei griff er auf nationale und regionale Traditionen zurück, in Frankreich die «Olympiades de la République» die allerdings nur von 1796 bis 1798 veranstaltet wurden, in England die 1612 erstmals ausgetragenen «Cotswold Olimpick Games» und die seit 1850 stattfindenden «Wenlock Olympian Games» (beide Traditionen bestehen noch heute). 1894 gründete de Coubertin das Internationale Olympische Komitee (IOC), dessen erster Generalsekretär er wurde, und entwarf die olympischen fünf Ringe, die seit 1920 das offizielle Olympiade-Logo bilden. Die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit fanden 1896 in Athen statt. An den V. Olympischen Spielen in Stockholm 1912 gewann de Coubertin – unter Pseudonym – mit seinem Gedicht «Ode au sport» in der Disziplin Literatur.
Der sportliche Wettkampf zu Ehren der Götter ist eine griechische Erfindung, deren Anfänge bis ins 11. Jahrhundert v. Chr. zurückreichen. Die Olympischen Spiele in Olympia bei Elis zu Ehren des Göttervaters Zeus waren die bedeutendsten der Panhellenischen Spiele, zu denen ausserdem die Pythischen oder Delphischen Spiele zu Ehren Apollons, die Nemeischen Spiele zu Ehren von Zeus und die Isthmischen Spiele zu Ehren Poseidons gehörten. Schon damals waren die Festanlässe ein kulturelles, politisches und wirtschaftliches Grossereignis, eine Mischung aus religiöser Feier, Volksfest und Sportveranstaltung, an denen Menschen aus allen Schichten aus der gesamten griechischen Welt zusammenkamen. An den Spielen waren nur männliche Sportler zugelassen. Trotzdem gab es antike Olympiasiegerinnen, weil bei den Wagenrennen nicht die Lenker, sondern die Rennstallbesitzer:innen gekürt wurden. Für Sportlerinnen fanden ebenfalls in Olympia eigenständige Wettkämpfe (Heraia) zu Ehren der Göttin Hera statt. Der in historischen Quellen überlieferten Ansicht, dass die christlichen Kaiser Theodosius I. im Jahr 393 oder sein Enkel, Theodosius II., im Jahr 426 die Olympischen Spiele wegen ihres heidnisch-kultischen Hintergrunds verboten hätten, widerspricht die Tatsache, dass die Wettkämpfe bis zum Einfall der Goten und Slawen im 6. Jahrhundert fortgeführt wurden. Allerdings begann sich bereits seit Mitte des 4. Jahrhunderts die kultische Verbindung von Sport und Religion aufzulösen.
Hinzu trat als genuin christliches Motiv (im römischen Westen) die Kritik an der sportlichen Demonstration körperlicher Eitelkeit. Im scheinbaren Widerspruch dazu steht die christliche Adaption sportlicher Sprache und Symbolik, die aber in spezifischer Weise umgedeutet wurden: Das Wettkampftraining, die aiskesis, wurde zur entbehrungsvollen, streng disziplinierten mönchischen Lebensweise und in der Arena traten anstelle trainierter Männer mit sportlichen Ambitionen christliche Märtyrer auf, die mutig und tapfer nicht für sich selbst und den eigenen Namen, sondern für ihre Zugehörigkeit und ihr Bekenntnis zu Christus kämpften und starben. Bei Paulus ist Christusnachfolge Leistungssport: «Ich laufe also, aber nicht wie einer, der ziellos läuft, ich boxe, aber nicht wie einer, der ins Leere schlägt; vielmehr traktiere ich meinen Körper und mache ihn mir gefügig, denn ich will nicht einer werden, der anderen predigt, sich selber aber nicht bewährt.» (1Kor 9,26f.) Umstrittene Berühmtheit erlangte die Aussage des Apostels durch den beinamputierten Läufer Oscar Pistorius, der sich die Bibelverse auf die linke Schulter tätowiert hatte, mit seinen «Cheetah» Carbon-Prothesen die Sportwelt in Erstaunen versetzte und anschliessend auf brutale Weise im Leben scheiterte.
Hatte der Arzt William Penny Brookes die «Wenlock Olympian Games» ins Leben gerufen, um «die moralische, körperliche und intellektuelle Verbesserung der Bewohner des Dorfes und des Wenlock-Distrikts zu fördern, vor allem die Arbeiterklasse», ging es Pierre de Coubertin darum, «die französische Rasse durch die körperliche und moralische Umerziehung der zukünftigen Eliten des Landes zu regenerieren». Dieses Anliegen verband er mit der antiken Idee von der befriedenden, völkerverbindenden Funktion des festlichen Wettstreits. Im Vorfeld der diesjährigen Grossereignisses in Paris wurde die schillernde Persönlichkeit des Erfinders der Olympischen Spiele der Neuzeit zum Politikum. Uneinigkeit bestand darüber, ob und welche Rolle die Erinnerung an den Sohn der Stadt bei dem Grossanlass spielen sollte. Demonstrativ blieben im Juni 2024 politische Repräsentant:innen der Gedenkfeier an der Sorbonne anlässlich des 130. Jahrestages von de Coubertins Rede zur Gründung des Olympischen Komitees fern. Seinen unbestreitbaren Verdiensten für die olympischen Ideale stehen seine kolonialistische und patriarchale Gesinnung sowie seine öffentliche Sympathie für den deutschen Nationalsozialismus gegenüber. Aufgrund seines (zu seinen Lebzeiten weitmehrheitlich geteilten) Widerstands gegen die Geschlechtergleichheit wurden weibliche Sportlerinnen erst zögerlich und über den Umweg einer eigenen Olympiade für Frauen (Fédération Sportive Féminine Internationale, FSFI, gegründet 1921) als gleichberechtigte Teilnehmerinnen an den Olympischen Spielen zugelassen.
Die Olympischen Spiele der Neuzeit dienten den austragenden Ländern auch dazu, ein Idealbild der eigenen Nation zu verbreiten und sich selbst zu feiern. An die Stelle des kultisch-religiösen Hintergrunds (mit politischen Ambitionen) der Antike traten in der Neuzeit handfeste politische und ökonomische Interessen. Je nach staatlichem System und politischem Weltbild wurden die Vereinnahmungen entweder wohlwollend akzeptiert, kritisch kommentiert oder (in Ausnahmefällen und zum Leidwesen für die heimischen Sportler:innen) mit Boykott sanktioniert. Das IOC zeichnet sich bis heute weder durch politische Sensibilität noch durch eine klare menschenrechtliche Haltung aus. Stattdessen bildet es breitwillig den Catwalk für autoritäre Regimes und autokratische Staatsführer. Und hatten die Wettkämpfe erst einmal begonnen, interessierte sich niemand mehr für die politischen Interessen und Hintergründe. Dagegen riskieren Sportler:innen, die auf prekäre Menschenrechtsverhältnisse aufmerksam machen, harte Strafen oder den Wettkampfausschluss durch das IOC.
Ein anderer Laufsteg oder – wie kritische Beobachter:innen zu erkennen meinten – Abendmahlstisch sorgte bei der diesjährigen olympischen Eröffnungsfeier für Empörung. Die Ouvertüre und das Finale der XXXIII. Olympischen Spiele von Paris 2024 sollten die gigantischsten werden, die die Welt jemals gesehen hatte. Dafür wurde der Schauspieler und Theaterregisseur Thomas Jolly, der sich unter anderem durch opulente Shakespeare-Inszenierungen einen Namen gemacht hatte, als Künstlerischer Leiter engagiert. Mit der Eröffnungsfeier wolle er zeigen – so Jolly in einem Interview mit der «Vogue» vom Mai 2024 –, dass «in Paris alle Platz haben. Vielleicht wird es ein bisschen chaotisch, mag sein, aber das erlaubt es jeder Person, ihren Ort für sich zu finden». Erfolgreich sei das Ereignis, «wenn sich alle vertreten fühlen». Jolly beschreibt sich als experimentierfreudigen, mit Gewohnheiten spielenden und Konventionen brechenden Theaterenthusiasten, der jede Bühne nutzt, die sich ihm bietet. Auf den ersten Blick führte diese Einstellung zu den Missverständnissen über das queere Happening unter dem Titel «Festivities» auf der Seine-Brücke am 26. Juli 2024 in Paris. Das tradititionell kulturadverse Megasportevent entpuppte sich als ungünstige Bühne für eine, die vertrauten Erwartungen von Sesselsportler:innen sabotierende Theaterinszenierung. Zwar ist das Spiel mit den Geschlechtern (und was dazugehört) im Leistungssport bestens bekannt, aber dort geht es nicht um Geschlechtsdiversität, sondern um die medizinische Optimierung der körperlichen Leistungsfähigkeit mittels Dopings und anderer Verfahren.
Der Ärger um den Laufstieg oder Tisch, den manche mit Leonardo da Vincis Gemälde «Das letzte Abendmahl» identifizierten, hätte Jolly als seinen Erfolg verbuchen können. Wer provoziert, akzeptiert nicht nur die Empörung, sondern zielt absichtlich darauf. Sie ist unverzichtbarer Teil einer Inszenierung, die versagt, wenn die Aufregung ausbleibt. Deshalb besteht die eigentliche Irritation nicht in den provozierten, in Kauf genommenen oder der Freiheit des Publikums überlassenen Assoziationen zu dem fraglichen Spot, sondern in den anbiedernden Dementis des Veranstalters und des Regisseurs, dass alles nicht so gemeint gewesen sei. Die Sprecherin der Organisationskomitees, Anne Descamp, erklärte: «Es war nie beabsichtigt, irgendeine religiöse Gruppe zu verletzen. (Die Eröffnungszeremonie) sollte die Toleranz der Gemeinschaft feiern», und Jolly beteuerte, dass er niemals an da Vincis Jesus-Darstellung gedacht habe: «Da ist Dionysos, der auf diesem Tisch erscheint, weil er in der griechischen Mythologie den Gott des Festes darstellt. Dahinter stand die Idee ein heidnisches Fest in Verbindung mit den Göttern des Olymps zu feiern. Sie werden bei mir niemals den Wunsch verspüren, jemanden zu verhöhnen oder zu verunglimpfen». Vordergründig sollten die Reaktionen der Veranstaltenden ihr Anliegen retten, jeder Person (unabhängig von ihrem Glauben und ihrer Weltanschauung) ihren Platz bei dem Spektakel zu bieten. Tatsächlich beugten sie sich aber der Zensur der Kritiker:innen, die genau die Ansicht verwarfen, dass jede Person auf der Feier (gleichberechtigt) ihren Platz erhalten sollte. Jolly ist eben kein neuer Fellini, Greenaway, Zadek oder Schliengensief, sondern ein Zampano zwischen konkurrierenden moralischen Stühlen, der sich nicht anders zu helfen wusste, als in ein karnevalistisches Potpourri stereotyper Klischees zu flüchten.
Es sollte weder bezweifelt werden, dass Jolly bei seiner Inszenierung keine christliche Symbolik karikieren wollte, noch dass sich einige Betrachter:innen durch ihre Assoziationen in ihrem Glauben angegriffen, beleidigt und diskriminiert fühlten. Das ist kein Widerspruch. Ein solcher läge erst dann vor, wenn für die Freiheit der Bilder eingetreten und gleichzeitig die Freiheit der Bildbetrachtung und -deutung reglementiert und eingeschränkt würde. Beim Protest gegen die (unterstellte) Parodie eines bekannten christlichen Motivs in einem queeren Happening kann zwischen einer (1.) trivial-moralischen und einer (2.) fundamental-ethischen Variante unterschieden werden.
(1.) Die trivial-moralische Konfliktvariante richtet sich gegen die Besetzung der Abendmahlsgemeinschaft. Konservative Stimmen (nicht nur aus den Kirchen) stören sich an dem Austausch der Jünger in da Vincis Darstellung des (auch nach evangelischem Verständnis) kirchlichen Sakraments der Eucharistie durch queere, Drag- und Transpersonen. Der Vorwurf der religiösen Verunglimpfung und Blasphemie (verbunden mit dem Vorwurf, in der Stadt von Charlie Hebdo die islamische Religion in gleicher Weise aufzuspiessen) kollidiert mit der Fülle biblischer Berichte über Jesu Sympathien für gesellschaftliche Minderheiten, sozial ausgegrenzte und moralisch geächtete Personen. Der Hinweis ist allerdings riskant, weil er in der Kirchen- und Theologiegeschichte bis heute eine fatale moralische Umkehrung provoziert. Jesus verkehrte mit ausgegrenzten, diskriminierten und verachteten Gesellschaftsmitgliedern nicht, weil sie so angesehen und behandelt wurden und er damit seine moralische Überlegenheit am Objekt aufzeigen konnte, sondern schlicht, weil er die geltenden gesellschaftlichen, sozialen und moralischen Kategorien um der Person willen konsequent ignorierte. Die biblischen Jesus-Geschichten unterscheiden nicht zwischen einer schlechteren und besseren Moral, sondern demonstrieren eine Mitmenschlichkeit jenseits moralischer Konventionen. Das queere, Drag- und Transpersonal am Abendmahlstisch stünde für die schlichte Anerkennung der Person und den mitmenschlichen Respekt. Die traditionelle Deutung als moralische Selbstüberwindung wäre tugendethischer Leistungssport und aus der Sicht Jesu für die Tonne.
(2.) Der fundamental-ethische Konfliktvariante hat eine lange und komplexe Vorgeschichte, deren eigentlicher Skandal in der Unfähigkeit der Konfliktparteien besteht, ernsthaft miteinander zu streiten. Jollys Beteuerung, dass er nicht von der Jesus-Szene da Vincis, sondern vom Dionysos in Jan Hermansz van Bijlerts Gemälde «Le Festin des Dieux» inspiriert worden sei, nahm zwar etwas Druck vom Empörungskessel, rettet den Regisseur bei genauerem Hinsehen aber nicht, sondern reitet ihn noch tiefer in den Konflikt. Durch die abendländische Kultur- und Literaturgeschichte zieht sich eine lange Konfrontationshistorie zwischen dem Dargestellten (Dionysos) und dem Assoziierten (Christus). Zu den verrücktesten Begegnungen beider Protagonisten kommt es in den letzten Texten Friedrich Nietzsches, allen voran in seiner autobiographisch-werkgenealogischen Schrift «Ecce Homo», die mit dem seltsamen Absatz schliesst «– Hat man mich verstanden? – Dionysos gegen den Gekreuzigten…» Auch die theologische Exegese beschäftigt die Frage nach dem Einfluss des Dionysos-Kults auf die Jerusalemer Juden und die unverkennbare Dionysos-Symbolik im Johannesevangelium, besonders plastisch in Jesu erstem Auftreten als Wundertäter auf der Hochzeit in Kana mit der Wein-Epiphanie (Joh 2,1–12), die als typisches Zeichen für Dionysos galt.
Bereits die Idee, das Anliegen der Toleranz ausgerechnet an einem Exponenten der eifersüchtigen Götterwelt des griechischen Pantheons festzumachen, zeugt von Unkenntnis oder kaum zu überbietendem Übermut. Das Experiment gründet in einem Bekenntnis, das weder Toleranz zulässt noch in Aussicht stellt. Gott und Gött:innen sind denkbar ungünstige Kandidat:innen für menschliche Harmoniesehnsüchte aller Art. Dionysos konnte die Menschen zwar besoffen machen, aber wurde gleichzeitig als rasender Gott gefürchtet. Jolly geht dem Grundirrtum der Wokeness auf den Leim, die notorisch Diversität mit Ambivalenz verwechselt. Nietzsche hat die Ambivalenz in der Gegenüberstellung von Dionysos und Christus verdoppelt: «Dionysos gegen den ‹Gekreuzigten›: da habt ihr den Gegensatz. Es ist nicht eine Differenz hinsichtlich des Martyriums, – nur hat dasselbe einen anderen Sinn. Das Leben selbst, seine ewige Fruchtbarkeit und Wiederkehr bringt die Qual, die Zerstörung, den Willen zur Vernichtung … / in anderen Fall gilt das Leiden, der ‹Gekreuzigte als der Unschuldige›, als Einwand gegen dieses Leben, als Formel seiner Verurtheilung. / Man erräth: das Problem ist das vom Sinn des Leidens: ob ein christlicher Sinn, ob ein tragischer Sinn … Im ersten Fall soll es der Weg sein zu einem selbigen Sein, im letzteren gilt das Sein als selig genug, um ein Ungeheures von Leid noch zu rechtfertigen […] ‹der Gott am Kreuz› ist ein Fluch auf Leben, ein Fingerzeig, sich von ihm zu lösen / der in Stücke geschnittene Dionysos ist eine Verheissung ins Leben: es wird ewig wieder geboren und aus der Zerstörung heimkommen».
Nietzsche hat dem dionysischen Programm der «Umwerthung aller Werthe» mit seinem «Zarathustra» ein Denkmal gesetzt. Im Kern geht es ihm um die Überwindung der «décadenten» Moral des Gekreuzigten. «Moral – die Idiosynkrasie von décadents, mit der Hinterabsicht, sich am Leben zu rächen – und mit Erfolg.» Das geht an die Adresse der Kritiker:innen des Happenings auf der Seine-Brücke in Paris. Die Macher:innen der Inszenierung werden dagegen mit der Beobachtung des Nietzsche-Lesers Karl Barth konfrontiert: «Abstrakte Individualität ist das Prinzip zielloser Revolution, sinnloser Auflösung, unfruchtbarer Zerstörung. […] Sie bedeutet in jedem Fall – auch in ihren milderen und gemässigten, auch in ihren ästhetischen und religiösen Formen – die Inthronisation des Gottes Dionysos, in dessen Reich die vermeintliche Sklavenbefreiung das Erste, die Aufrichtung des brutalen Rechtes des vermeintlich Stärkeren das Zweite, der Freudenrausch der vermeintlich Überlegegenen, Weisen und Reichen das Dritte, das grosse, endlich und zuletzt auch die vermeintlichen Herren der Erde selbst verzehrende Schadenfeuer das Vierte und Letzte ist.» Beide Perspektiven geben Anlass zur Diskussion – am besten jenseits des olympischen Trubels.
Text mit Fussnoten und Quellenangaben:
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Eine Antwort
Danke für diesen Beitrag, den ich äusserst erhellend und tiefer-/weiterführend finde. Etwa wenn anahand der sich der Zensur der Kritiker beugenden Reaktion der Veranstaltenden angedeutet wird, wie herausfordernd es sein kann, mit dem Mittel der Provokation die Botschaft in Szene zu setzen, jede:r habe einen reservierten Platz. Im wahrsten Sinne spannend fand ich den Ausflug in die Welt des Dionysos. Die anthropomorphen Vorstellungen der griechischen Gottheiten im Widerspruch zur ersehnten Toleranz. Wie kommen wir aus dieser Nummer – auch im Rahmen christlicher Gottesvorstellungen – jemals raus?