Organspende – Geben, was niemand fordern darf 

Prof. Dr. Frank Mathwig, Ethiker und Theologe, hat im Auftrag der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz an einer Vernehmlassungsantwort zu der Teilrevision der Transplantationsverordnung mitgewirkt. Im Interview beleuchtet er die Stellungnahme der Kirche, die Herausforderungen bei der Abwägung von ethischen Prinzipien und die Rolle der Kirche in der öffentlichen Debatte.  

Organtransplantation ist ein Thema, das ethische, medizinische und theologische Fragen aufwirft. Am 1. Mai 2024 hat der Bundesrat die Vernehmlassung zu einer Teilrevision der Transplantationsverordnung eröffnet. Diese Anpassungen sind erforderlich, um die Einführung der erweiterten Widerspruchsregelung im Bereich der Spende von Organen, Geweben und Zellen umzusetzen.  

Bereits am 15. Mai 2022 hatte das Schweizer Stimmvolk der Einführung dieser Regelung zugestimmt. Sie sieht vor, dass jede Person automatisch als Organspenderin gilt, sofern sie resp. ihre Vertrauensperson oder Angehörigen nicht ausdrücklich widerspricht. Die nun vorgeschlagenen Verordnungsanpassungen konkretisieren die Umsetzung dieser Regelung und sollen sicherstellen, dass sie in der Praxis reibungslos eingeführt werden kann. 

Wie geht die Reformierte Kirche mit den schwierigen Fragen rund um Organtransplantation um? Welche ethischen Überlegungen stehen im Vordergrund, und wie wird die menschliche Würde gewahrt?  

  1. Herr Prof. Dr. Mathwig, weshalb ist das Thema Organtransplantation überhaupt ein Thema, zu dem die Kirche Stellung nehmen soll? 

In einem enorm leistungsfähigen Gesundheitswesen nimmt die Transplantationsmedizin eine Sonderstellung ein: Bei der postmortalen Organspende wird das Leben einer lebensbedrohlich erkrankten Person gerettet durch die Verpflanzung der Organe einer «verstorbenen» Person. Die spendende Person stirbt nicht wegen oder an der Organspende, sondern ihr (Hirn-)Tod bildet die Voraussetzung für eine Spende, die der empfangenden Person ein Leben mit neuer Lebensqualität und -perspektive ermöglicht. Es gibt nur drei Konstellationen, in denen Leben und Tod so unmittelbar zusammenrücken: der tragische Tod der Mutter oder ihres Kindes während der Schwangerschaft oder bei der Geburt; das Opfer, bei der eine Person ihr Leben für das Leben einer anderen Person hingibt, und die Spende, bei der eine Person im Falle ihres (Hirn-)Todes ihre Organe hergibt, damit eine andere Person leben kann. Trotz der gewaltigen Unterschiede handelt es sich um schicksalhafte und existenzielle Grenzsituationen, die alle Möglichkeiten rationaler Überlegung, Einordnung und Verarbeitung überschreiten. Und es sind Ereignisse, in denen die Abgrenzung und Unterscheidung zwischen den Personen und ihren Schicksalen verschwimmt. Es braucht keine besondere religiöse oder metaphysische Begabung, um eine Mitmenschlichkeit zu erahnen, die sich rein kognitiven und wissenschaftlichen Beschreibungen entzieht. Dort drängt sich auf, was auch noch und wesentlich zum Leben gehört, und das ist etwas, was den Kern der Verkündigung und des Auftrags der Kirche betrifft.  

  1. Inwieweit sollte die Kirche Einfluss auf die öffentliche Meinung und die Gesetzgebung zu solchen sensiblen Themen nehmen? 

Der Einfluss der Kirche auf die öffentliche Meinungsbildung sollte genau für die Sensibilität des Themas sensibilisieren. So schwammig das klingt, so klar ist das Anliegen: die konsequente Absage an die doppelte Moralisierung des Lebens. Die eine Moralisierung des Lebens besteht darin, den biologischen Körper moralisch zu überhöhen und für sakrosankt zu erklären. Die andere Moralisierung des Lebens besteht darin, den biologischen Körper zum Gegenstand einer moralischen Pflicht oder eines moralischen Tauschhandels zu machen.  

  1. Bevor wir auf die Vernehmlassungsantwort zu sprechen kommen, würde es uns interessieren, wie die Evangelisch-reformierte Kirche grundsätzlich zum Thema Organtransplantation steht.  

Die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz hat sich in den politischen Debatten zur Organspende immer klar positioniert. Der Tenor aller Äusserungen lautet: Ja, zur Organspende – nein zu einem Spendenautomatismus, der die Würde, die in der unbedingt schützenswerten körperlichen Integrität der Person zum Ausdruck kommt und mit dem Tod nicht endet, einem technischen Zweck-Mittel-Denken unterordnet. Natürlich findet sich in der Bibel keine akademische Bioethik. Aber sie bietet spannende Perspektiven auf ein zugleich erfahrungsgesättigtes und differenziert reflektiertes Menschenbild. Die biblischen und christlichen Traditionen setzen der menschlichen Hingabe an die Mitmenschen keine Grenzen, sofern sie nicht in eigennützigen Motiven gründet und auf fremdem Zwang beruht. Sowohl die Gabe des eigenen Körpers als auch sein Schutz erfolgen im Gehorsam gegenüber Gott, der als Schöpfer, Bewahrer und Vollender allen Lebens bekannt wird. Sowohl die Selbsthingabe des eigenen Körpers als auch die Verweigerung der Organspende können in gleicher Weise den Respekt gegenüber dem Geschenk des eigenen Lebens ausdrücken. 

  1. Sie haben an der Vernehmlassungsantwort mitgewirkt und sich dabei intensiv mit der jetzt vorliegenden Teilrevision beschäftigt. Können Sie die zentralen Inhalte und Positionen der Vernehmlassungsantwort kurz zusammenfassen? 

Rechtliche Verordnungen sind in der Regel sehr technisch-trockene Texte, die die praktische Umsetzung eines Gesetzes regulieren. Die Vernehmlassungsantwort des Rates EKS fokussiert auf drei Aspekte: 1. Das Verfahren zur Feststellung eines möglichen Widerspruchs im medizinischen Transplantationsprozess, der durch einen hohen Zeitdruck gekennzeichnet ist. Der Rat verweist auf problematische Inkohärenzen zwischen der Verordnung und den geltenden medizin-ethischen Richtlinien. 2. Überarbeitungsbedürftig aus Sicht des Rates sind darüber hinaus die Bestimmungen zu den medizinischen Vorbereitungsmassnahmen für die Organentnahme. Sie sind nicht Teil der medizinischen Behandlung oder Betreuung der sterbenden Person und deshalb nur erlaubt, wenn geklärt ist, dass kein Widerspruch der Person, einer Vertrauensperson und der Angehörigen vorliegt. 3. Intransparent, unverhältnismässig und unklar bei den Zuständigkeiten ist die Regelung zur gesellschaftlichen Etablierung, Kommunikation, Feststellung und Organisation der Widerspruchslösung. Exemplarisch dafür setzt der Verordnungsentwurf Swisstransplant neu zwei Hüte auf. Zu ihren bisherigen Aufgaben soll die Organisation gewissermassen contre cœur neu auch dafür zuständig sein, dass jede Person über ihre Widerspruchsmöglichkeit informiert und in die Lage versetzt wird, davon auch tatsächlich Gebrauch zu machen. Swisstransplant ist heute zuständig für die Organverteilung, tritt als Advokatin für schwerstkranke Personen auf, die dringend eine Organspende benötigen, und engagiert sich für eine Erhöhung der Spendenbereitschaft in der Gesellschaft. Diese unverzichtbare Arbeit sollte nicht durch zusätzliche Aufgaben belastet oder gefährdet werden, die eindeutig zum staatlichen Pflichtenheft gehören.  

  1. Welche ethischen Prinzipien spielen bei der Bewertung von Organtransplantationen aus protestantischer Perspektive eine wichtige Rolle? 

Bei der Organspende handelt es sich um supererogatorische Pflichten, das sind moralische Ansprüche, die nicht allgemein verpflichtend gemacht werden können, sondern die eine Person nur sich selbst gegenüber einfordern kann. Dagegen besteht eine starke Verpflichtung gegenüber der Autonomie der Person und dem Respekt gegenüber ihrer Entscheidungsfreiheit. Schliesslich kommt dem Gerechtigkeitsprinzip bei der Organverteilung eine herausragende Bedeutung zu. Der Handel mit und Kauf von Organen ist genauso ein Verbrechen, wie das Umgehen und die Manipulation von Wartelisten und Verteilungsverfahren. Die allgemeinen Prinzipien und Pflichten konvergieren mit einem protestantischen Menschenbild, das die Würde und Unvertretbarkeit der Person ins Zentrum rückt. 

  1. Wie beurteilen Sie die sogenannte „Widerspruchslösung“, bei der jeder Mensch automatisch als Organspender gilt, solange er dem nicht widerspricht? Wäre sie ein gutes Konzept für die Schweiz? 

Das fundamentale Problem der Widerspruchslösung besteht darin, dass sie mit der Konstruktion des Persönlichkeitsschutzes liberaler Rechtsstaaten kollidiert. Der in der Verfassungspräambel formulierte Zusammenhang zwischen der «Stärke des Volkes» und dem «Wohl der Schwachen» kommt darin zum Ausdruck, dass jede Person ihre Grund- und Persönlichkeitsrechte geschützt weiss – und zwar unabhängig davon, ob sie dafür eintritt und eintreten kann oder nicht. Mit der Widerspruchslösung ist der Schutz der körperlichen Integrität, der mit dem Tod der Person nicht endet, nicht mehr «von selbst» garantiert, sondern muss von der Person durch ihren Widerspruch aktiv geltend gemacht werden. Genau genommen ist liberalen Bürger:innen eine solche Zumutung im Blick auf den Schutz ihrer grundlegenden Rechte fremd. Im Kern widerspricht sie komplett ihrer Vertrauenslogik. 

  1. Wie können Kirche und Theologie dazu beitragen, dass Menschen eine informierte und reflektierte Entscheidung zum Thema Organspende treffen? 

In der spätliberalen Gesellschaft hängt den Kirchen der Ruf traditioneller Moralagenturen an. Unabhängig davon, ob die Einschätzung (zumindest in der Pauschalität) zutrifft, verfügen Kirchen und ihre Theologien über eine mindestens ebenso etablierte und elaborierte Moralkritik. Eine wichtige Aufgabe der Kirchen in der öffentlichen Diskussion besteht aus meiner Sicht in der ethischen Dekonstruktion sowohl einer moralischen Denunzierung wie einer moralischen Sakralisierung der Organspende. Daran schliesst als zweites wichtiges kirchliches Thema das Nachdenken über die Gabe an, in Form einer differenzierten Reflexion darüber, was Menschen voneinander fordern, was Menschen sich von anderen wünschen und was Menschen sich ausschliesslich von anderen geben lassen können. Ein individualistisches Vertragsdenken hat diese, für das Verständnis von Sozialität unverzichtbaren Unterscheidungen schon lange nicht mehr auf dem Schirm. 

  1. Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Diskussion über Organtransplantation, sowohl innerhalb der Kirche als auch in der breiteren Gesellschaft? 

Ich wünsche mir die Aufmerksamkeit für die sterbenskranken Personen, die dringend ein Organ benötigen, und mich über meine Frage stolpern lassen, ob meine Organe gemeint sein könnten. Und ich wünsche mir den Respekt gegenüber der Deutungsfreiheit jeder Person im Blick darauf, was der menschen- und verfassungsrechtlich garantierte Schutz der körperlichen Integrität für sie bedeutet.  

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Frank Mathwig

Prof. Dr. theol.
Beauftragter für Theologie und Ethik

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