«Anstatt zu fragen, ob Gott existiert, haben die Menschen in den letzten Jahrhunderten zu fragen begonnen, ob es eine gute Idee ist, weiter über ihn zu reden, und welchen menschlichen Zwecken dieses Reden dienen könne. Kurz, sie haben zu fragen begonnen, welchen Nutzen der Gottesbegriff für die Menschen haben könne.»
Richard Rorty
«Gott als moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese ist abgeschafft, überwunden; ebenso aber die philosophische und religiöse Arbeitshypothese (Feuerbach!). Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit, diese Arbeitshypothese fallen zu lassen bzw. sie so weitgehend wie irgend möglich auszuschalten. […] So führt uns unser Mündigwerden zu einer wahrhaftigen Erkenntnis unserer Lage vor Gott. […] Der Gott, der uns in der Welt leben lässt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wird dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott.»
Dietrich Bonhoeffer
«Die erste Demut ist es, weder ‹Gott› noch seinen ‹Willen› zu kennen …»
Jean-Luc Nancy
Der Blogbeitrag von Elio Jaillet «Théologique du genre de ‹Dieu›. Politique de la liturgie» [Theo-Logik von „Gottes“ Gender. Politik der Liturgie.] greift die Diskussion über eine gendergerechte Liturgie auf, in der politisch-ethische Forderungen und kirchlich-theologische Traditionen kontrovers aufeinandertreffen. Die folgenden Überlegungen schliessen daran an. Der Fokus soll weniger auf der inhaltlichen Debatte über das Geschlecht Gottes liegen als auf der dahinterstehenden Frage nach der Bedeutung der Eigenschaften Gottes für das Verständnis von und das Verhältnis zwischen Gott und Glaube. Welche Rolle spielt das Gottesbild für den Glauben und wie bestimmt das eine den anderen und umgekehrt? Worum geht es, wenn Gott bestimmte Qualitäten zu- und andere Attribute abgesprochen werden? Wichtige Anschlussfragen müssen im Folgenden ausgeklammert werden – etwa: Wie verhält sich der theologische Geschlechterdual in der kirchlichen Debatte um ein göttliches Geschlecht zur anthropologischen Entbinarisierung von Gender in den aktuellen politisch-rechtlichen Diskussionen? Warum wird das Geschlecht in der Gottesfrage in einer Zeit profiliert, in der Gender als anthropologisches Merkmal zunehmend fraglich wird? Wie positioniert sich die kirchliche Debatte über ein Geschlecht Gottes gegenüber der zunehmenden Kritik an problematischen Zuschreibungspolitiken?
Wenn nach christlich-kirchlichem Verständnis Gott gegenwärtig wirklich und wirklich gegenwärtig ist, dann muss darüber in der jeweiligen Gegenwart verständlich gesprochen werden können. Wäre die gegenwärtige Selbstmitteilung Gottes nicht artikulierbar, wäre sie weder wirklich noch gegenwärtig. Die These setzt sich allerdings der Zumutung aus, auf die Karl Barth hingewiesen hat: «Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.» Der göttliche Anspruch auf seine Verehrung wird durch die Anerkennung der Unauflösbarkeit dieser Spannung gewahrt. Die Grammatik der Forderung «Wir sollen […] Gott die Ehre geben» verweist auf eine Handlungsstruktur, in der Subjekte («wir») mit einem oder im Blick auf einen Gegenstand («Gott») etwas tun («die Ehre geben»). Dabei werden die Fragen nach den Subjekten, die Gott die Ehre geben, nach den Aktivitäten des Verehrens sowie danach, wer als was verehrt werden soll, bis heute nicht nur verschieden, sondern auch kontrovers beantwortet.
Barths dialektische Spannung hat eine inverse körperliche Pointe: So wenig Gott in der Welt aufgeht, so wenig kann er ausserhalb der Bedingungen der Geschöpflichkeit (= welthafter Personalität) erkannt, wahrgenommen, erlebt und erfahren werden. Notwendig dafür ist eine – im weitesten Sinn – Begegnung, die nicht durch ein kognitives Konzept oder eine theoretische Erkenntnis ersetzt werden kann.
So unklar wie das theologische Anliegen ist auch der Ort der aktuellen Debatte um das Geschlecht Gottes: Geht es (1.) um die institutionelle Definitionsmacht («der Gott, den die Kirchen verkünden, ist männlich, weiblich, non-binär, genderneutral, -fluid oder -divers») oder (2.) um eine theologische Kontroverse («aus exegetischer, kirchenhistorischer oder theologisch-systematischer Perspektive ist der biblische oder christliche Gott männlich, weiblich, non-binär, genderneutral, -fluid oder -divers») oder (3.) um einen Glaubenskonflikt («ich/wir glaube/n an einen männlichen, weiblichen, non-binären, genderneutralen, -fluiden oder -diversen Gott»)? Die Frageperspektiven stehen zwar nicht unverbunden nebeneinander, aber gehören zu verschiedenen Praktiken: (1.) Als Kontroverse über die konstitutiven Glaubensgehalte geht es um das kirchliche Bekenntnis, mit dem die Kirche steht und fällt (status confessionis). (2.) Als theologischer Streit zielen die Fragen auf wissenschaftliche Klärungen im Rahmen der Gotteslehre, die aus evangelisch-reformierter Sicht nur in wenigen Fällen konstitutive Bedeutung für die Kirche haben. (3.) Als Konflikt zwischen unterschiedlichen Glaubensvorstellungen von Gott steht die Einheit der sozialen Kirchengemeinschaft auf dem Spiel. Der Topos «Gott» bildet in (1.) den Bezugspunkt und die corporate identity der institutionalisierten Kirche in der Öffentlichkeit, in (2.) den Gegenstand akademischer Diskurse und in (3.) das Gegenüber des persönlichen und gemeinschaftlichen Glaubens. Der Bedeutung des Gottesbegriffs korrespondieren spezifische Funktionen: Das Gottesverständnis soll in (1.) die gesellschaftliche Relevanz und den öffentlichen Auftrag der institutionalisierten Kirche begründen, in (2.) ein theologisches Anliegen plausibel und diskursiv anschlussfähig machen und in (3.) den eigenen Glauben bestätigen und mit dem eigenen Glauben übereinstimmen können. Die Gottesfrage reagiert also auf Identitäts-, Rationalitäts- und Glaubenszumutungen, die grundsätzlich für sich selbst stehen, denn: (1.) Eine Kirche kann sich über ein Gottesverständnis definieren, ohne dass es wissenschaftlich-theologisch plausibel ist und von allen Gläubigen anerkannt wird. (2.) Ein Gottesverständnis kann theologisch-argumentativ verteidigt werden, ohne dass es von einer Kirche übernommen und im Glauben geteilt wird. (3.) Ein persönlicher Glaube kann mit einem Gottesverständnis verbunden sein, das weder mit der kirchlichen Verkündigung übereinstimmt noch durch eine theologische Lehre bestätigt wird.
Konflikte werden aus unterschiedlichen Perspektiven und auf verschiedenen Ebenen ausgetragen. Das vertraute Konfliktmanagement, nach dem strittige persönliche oder gemeinschaftliche Überzeugungen auf einer methodisch-theoretischen Metaebene rational-diskursiv bearbeitet werden, um die Ergebnisse anschliessend institutionell umzusetzen oder anzuwenden, gehört in vielen gesellschaftliche Sphären – allen voran Politik und Ethik – zum Standard. Die Strategie taugt aber nur begrenzt für religiöse Konflikte, weil bei ihnen typischerweise eine in anderen Gesellschaftsbereichen unbekannte Kategorie ins Spiel kommt: «Gott», «Gottheit», «höheres Wesen» etc. Damit wird ein subversives Diskursprinzip eingeführt, dem im Zweifelsfall Vorrang eingeräumt wird gegenüber anderen Grundsätzen (wechselseitiger Respekt der Streitparteien, Vorzugswürdigkeit des besseren Arguments, Reziprozität, unparteiliche Urteilsfindung, Deeskalation, Toleranz, Konsens etc.): «Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.» (Apg 5,29) Den Gehorsam gegenüber Gott, der von der clausula Petri gefordert wird, gehört zu den Grundlagen des kirchlichen Auftrags (martyria) und zum Fundament christlicher Nachfolge (Gewissensbindung, Widerstandsrecht), aber bildet kein (notwendiges) Kriterium wissenschaftlicher Theologie. Deshalb bleibt die Verortung der kirchlich-theologischen Kontroversen notorisch unscharf und die Reichweite rationaler Konfliktstrategien (Diskurs, Konsens, Demokratieprinzip) zwangsläufig beschränkt. Unter der Bedingung, dass «die Kirche die Zeit, de[r] Ort und die soziale Gemeinschaft der Verkündigung und Überlieferung des Glaubens von Christenmenschen» ist, sind die Übergänge zwischen theologischen Erkenntnissen, kirchlicher Autorisierung und Identität sowie authentischem Glauben notwendig prekär. Bestritten werden damit nicht die Möglichkeit und Dringlichkeit einer kritischen theologischen Prüfung des Glaubens, den die Kirche verkündigt, und den resp. zu dem sich die Gläubigen bekennen. Aber die akademische Theologie definiert genauso wenig die Verkündigung und das Bekenntnis der Kirche, wie umgekehrt die Kirche und der Glaube die Kriterien akademischer Theologie vorgeben.
Die Theologie – als im weitesten Sinn rationaler Diskurs über Gott – kann nicht nur nicht begründen, sondern es braucht auch keine Begründung dafür, was eine gläubige Person in ihrem Glauben empfängt, herausfordert und was ihr in ihrem Glauben widerfährt. Umgekehrt stellt der Glaube die üblichen Zeit- und Raumannahmen der Theologie auf den Kopf, insofern er als Bestätigung der Diesseitigkeit Gottes – gegenüber der Jenseitigkeit in der Behauptung seiner Abwesenheit oder Nichtexistenz – erfahren wird. Auf den ersten Blick scheint es sich lediglich um eine Vertauschung von Diesseits und Jenseits zu handeln, die aus der irrtümlichen Positionierung der Eschatologie am Endpunkt eines Zeitstrahls resultiert. Stattdessen gilt umgekehrt: Nicht Gott hat seine Schöpfung verlassen und sich in ein Jenseits zurückgezogen, sondern seine Geschöpfe haben es sich «jenseits von Eden» eingerichtet. Aber das eigentliche Missverständnis liegt tiefer. Es besteht in der Unterstellung eines Diesseits-Jenseits-Dualismus zweier räumlich getrennter Welten, bei dem die eine in und die andere jenseits der Zeit besteht, deren Grenzen aber unter bestimmten Bedingungen begrenzt durchlässig sind. Eine Art Pendlergott käme aus der Jenseits-Welt, um manchmal sichtbar (Gen 32,31), manchmal unsichtbar (Ex 33,20) in der Diesseits-Welt offenbar in Erscheinung zu treten, verbrächte dort später als Erdenbürger in Gestalt seines Sohnes einige Jahrzehnte (Joh 1,14) und hätte schliesslich seine Stippvisiten aus dem Jenseits ins Diesseits an seinen Geist delegiert (Joh 14,26). Die apokalyptische Hoffnung «Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheissung, in denen Gerechtigkeit wohnt.» (2Petr 3,13) wäre dann die endgültige Ersetzung der Diesseits- durch die Jenseits-Welt und die diesseitige Kirche ein Transzendenzkarussell, das ihre Theologien und Lehren einem symptomatischen Diesseits-Jenseits-Schwellen-Schwindel aussetzt.
Gegen diese Zwei-Welten-Turbulenzen steht der Ausruf Jesu am Kreuz, ganz im Diesseits, vom Paradies herkommend, nicht neu, sondern im Glauben erkennbar: «Es ist vollbracht» (Joh 19,30). Das theologische Jenseits zeigt sich dann als religiöse Nachahmung der göttlichen Vorgabe des Diesseits. Im Bund mit seiner Schöpfung und den folgenden Bestätigungen des Bundes mit seinem Volk und seiner Kirche verortet sich Gott in seiner diesseitigen Schöpfung. Gottes Diesseitstreue offenbart sich nicht aus einem Jenseits in ein Diesseits. Er ist nicht nur ganz der, der er ist, sondern auch ganz da, wo er ist. «Gott wohnt in der Zeit, er bewegt sich nicht im Raum, weil er der Raum ist, indem wir uns bewegen.» Die Andersheit, die die Reformatoren und die reformierte Offenbarungstheologie stets betont haben, verweist nicht auf eine göttliche Pendeldiplomatie, sondern auf die sich (in der Zeit) entfaltende Fülle (im Raum) der Schöpfung (ansonsten wäre die Schöpfung nur ein Versuchsballon oder die Generalprobe vor der eigentlichen Premiere). Die präsentische Sicht begegnet sowohl bei Jesaja – «Seht, ich schaffe Neues, schon spriesst es, erkennt ihr es nicht? Ja, durch die Wüste lege ich einen Weg und Flüsse durch die Einöde.» (Jes 43,19) – als auch bei Paulus – «Wenn also jemand in Christus ist, dann ist das neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.» (2Kor 5,17). Im ersten Fall geht es darum, das Neue entstehen zu «sehen», im zweiten Fall darum, das Neue, das «ist», zu erkennen. Gott begegnet seiner Schöpfung nicht in irgendeiner der Zeit entzogenen Zwischensphäre, sondern in seiner korrumpierten Schöpfung «vom Paradiese her».
Die in der Christentumsgeschichte vollzogene Verschiebung der Gegenwart in die Zukunft und Umstellung vom Indikativ auf das Futur folgte aus der Verabschiedung von der urchristlichen Naherwartung (Parusie). Die Begründung beruht aber auf einem doppelten Missverständnis über Erwartungen. Einerseits wird niemals in der Vergangenheit oder in der Zukunft erwartet, sondern immer im Hier und Jetzt. Andererseits ist die «Erwartungssicherheit [… die] Vorbedingung jeder Sicherheit und ungleich viel wichtiger als die Erfüllungssicherheit. Wer weiss, was er erwarten kann, kann ein hohes Mass an Unsicherheit darüber ertragen, ob die Erwartungen sich auch realisieren werden.» Die Relativierung der Erwartung von der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft Christi betrifft ausschliesslich die Erfüllungssicherheit und nicht die Erwartungssicherheit, die vollständig von der Treue Gottes und seinen Verheissungen abhängt. Das Bedingungsverhältnis von Erwartung und Erfüllung lässt sich nicht umkehren. Glaube und Kirche gründen in der Erwartungssicherheit und können nicht auf Erfüllungssicherheit setzen, weil die Erfüllung bei Gott liegt und das Ende des Glaubens und der Kirche bedeutet. Die Differenz entlastet davon, Welt und Kirche gesund zu beten und erlaubt den realistischen Blick, dass Gott «Millionen von Menschen trotz ihrer Gebete und Hoffnungen nicht behütet hat, weil an ihnen die Zeichen [auf das kommende Reich Gottes] nicht aufgerichtet wurden». Glauben bedeutet, gegen die Sicherheit der Erfüllung und sogar im Angesicht der leibhaftigen und handfesten Erfahrungen des genauen Gegenteils, an der in den Gebeten und Hoffnungen ausgedrückten Erwartung festzuhalten.
Glaube, Kirche und Theologie sind durch die christliche «Erwartung» verbunden, thematisieren die «Sicherheit» in unterschiedlicher Weise: (1.) Der christliche Glaube ist der Grund nicht nur der Erwartung, sondern auch der Sicherheit, (2.) die Kirche hat als Institution Aufgaben zu erfüllen, die aus der Erwartung leben aber nicht mit ihr zusammengehen, und (3.) die Theologie reagiert auf diskursive Rationalitäts- und Plausibilitätserwartungen, die unabhängig von den Erwartungen bestehen, die ihren Gegenstand betreffen. Für alle drei Perspektiven gilt, dass die gemeinsame Erwartung nicht durch Spekulationen über ihre Erfüllung abgesichert werden kann. Die Erwartungssicherheit des christlichen Glaubens beruht ausschliesslich auf den Glaubensgaben der Gewissheit und Hoffnung, die durch nichts ersetzt, verstärkt oder bestätigt werden können, als durch den Glauben selbst.
Grundsätzlich braucht Glaube keine Theologie und Theologie keinen Glauben. Glaubenskommunikation und theologische Reflexion sind verschiedene Praktiken, wie das Essen eines Gerichts und das Studieren eines Kochrezepts. Es macht einen kategorischen Unterschied, ob eine Person an einen männlichen Gott oder an eine weibliche Göttin glaubt (faith), oder ob diese Person glaubt (believe), dass der Name JHWH und der trinitarische Gott auf eine männliche oder eine weibliche Instanz verweisen. Zwischen dem «Glauben an …» und dem «Glauben, dass …» besteht kein Kausalverhältnis. Beide Sprachspiele verwenden das gleiche Wort, aber folgen einer anderen Grammatik. Der «Glaube an …» bildet den Grund für Äusserungen über den «Glauben, dass …», aber das, was geglaubt wird, liefert keine Begründung dafür, dass und an wen geglaubt wird.
Die Sprachform des «Glaubens an …» ist das Bekenntnis («Gott die Ehre geben»), die des «Glaubens, dass …» der rational-argumentative Diskurs. Die Vermischung beider Praktiken ist der Grund für die Heftigkeit vieler innerkirchlicher und -theologischer Konflikte. Äusserungen darüber, was eine Person glaubt, zielen auf etwas anderes als Äusserungen darüber, wem eine Person glaubt, und noch einmal auf etwas anderes als Äusserungen darüber, an wen eine Person glaubt. Die drei Glaubensbezüge stehen für zwei mögliche Verhältnisse: Wem eine Person glaubt (trust), kann sie entweder mit ihrem «Glauben an …» (faith) oder mit ihrem «Glauben, dass …» (believe) begründen. Die erste Variante begegnet in der reformatorischen Formel «fides et fiducia» – der Einheit von Glauben und Vertrauen –, die zweite Variante beruht auf gemeinsam geteilten Überzeugungen, Haltungen oder Meinungen (Solidarität, Stellvertretung, Repräsentativität). Das Vertrauen bildet eine Art Scharnier zwischen den alternativen Glaubensweisen. Obwohl Vertrauen per se riskant ist – what you see is what you get, what you don’t see gets you –, kann zwischen einem begründeten und einem grundlosen Vertrauen unterschieden werden. Bei einem begründeten Vertrauen liegen die Gründe auf der Seite der Person, Instanz oder Institution, der vertraut wird («… weil sich die Kirche für Minderheiten engagiert», «… weil sich Partei X für den Klimaschutz/Partei Y für eine rigide Migrationspolitik einsetzt»). Bei einem grundlosen Vertrauen liegen die Motive für das Vertrauen dagegen vollständig auf der Seite der Person, die vertraut (Joh 20,29: «Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!»). Beim grundlosen Vertrauen bleiben alle «Ich vertraue, weil …»-Erklärungen in der vertrauenden Person gefangen («Hier steh ich nun, ich kann nicht anders. Gott helfe mir, Amen!»).
Die Charakterisierung vom grundlosen Vertrauen des christlichen Glaubens als Form subjektiver Selbstbezüglichkeit ist grammatisch korrekt, aber sachlich unvollständig. Deutlich wird das in einem kleinen Exkurs von Ludwig Wittgenstein: «Angenommen, jemand wäre gläubig und sagte: ‹Ich glaube an ein Jüngstes Gericht›, und ich sagte: ‹Nun, ich bin da nicht so ganz sicher. Vielleicht›. Man würde doch sagen, dass ein Abgrund uns beide trennt. […] Wenn du mich fragst, ob ich an das Jüngste Gericht glaube oder nicht, in dem Sinne, in dem religiöse Menschen daran glauben, dann würde ich nicht sagen: ‹Nein, ich glaube nicht, dass es so etwas geben wird.› […] Und dann erkläre ich ‹Ich glaube nicht an ...›, aber darum glaubt der Religiöse niemals, was ich beschreibe. […] Ich kann es nicht sagen. Ich kann dieser Person nicht widersprechen. In gewissem Sinne verstehe ich alles, was er sagt ‒ die Wörter ‹Gott›, ‹getrennt› usw. Ich verstehe, ich könnte sagen: ‹Daran glaube ich nicht›, und das wäre, wenn es heisst, dass ich diese Gedanken oder irgend etwas, was mit ihnen zusammenhängt, nicht habe. Aber es heisst nicht, dass ich der Sache widersprechen könnte. […] Diese Kontroversen sehen ganz anders als normale Kontroversen. Die Gründe sehen ganz anders aus als normale Gründe. [… Ein Mensch, der in einem religiösen Sinn glaubt, hat] vielmehr das, was man einen unerschütterlichen Glauben nennt. Und der wird sich nicht beim Argumentieren oder beim Appell an die gewöhnliche Art von Gründen für den Glauben an die Richtigkeit von Annahmen zeigen, sondern vielmehr dadurch, dass er sein ganzes Leben regelt.» Der Glaube der gläubigen Person besteht nicht darin, was die ungläubige Person aus ihrer Perspektive bestreiten kann. Die gegensätzlichen Äusserungen über Glauben und Nichtglauben verwenden die gleichen Begriffe, sind aber nicht symmetrisch. Die Asymmetrie besteht für Wittgenstein in dem «unerschütterlichen Glauben», den die gläubige Person im Gegensatz zur ungläubigen Person hat (ein unerschütterlicher Glaube von der Nichtexistenz Gottes wäre äusserst merkwürdig).
An dieser Stelle kommt die Unterscheidung zwischen einem begründeten und einem grundlosen Vertrauen ins Spiel, die eine analoge Struktur aufweist: Die Vertrauens- und die Gottesfrage stimmen darin überein, dass sich die jeweiligen kontroversen Positionen nicht über ihre Gründe verständigen können, weil die streitenden Parteien gar keine eigentlichen Gegenpositionen vertreten (das «nicht» in der Äusserung «Ich glaube nicht daran, dass …» ist eine Täuschung durch Grammatik). Der Glaube einer gläubigen Person, dass es Gott gibt, hat nichts zu tun mit der Bestreitung dieser Proposition durch eine ungläubige Person. Und die Gründe dafür, einer Person, Instanz oder Institution zu vertrauen, sind vollständig irrelevant für das Gottvertrauen einer gläubigen Person. Der Glaube, der vollständig durch das Geglaubte bestimmt ist, lässt sich nicht umkehren, weil die Behauptung sinnlos wäre, dass der Unglaube vollständig durch die Nicht-Existenz des Bestrittenen bestimmt werde. Genauso wenig kann ein begründetes Vertrauen auf Gründe verzichten und umgekehrt ein grundloses Vertrauen durch ergänzende Gründe plausibilisiert oder verstärkt werden. Die ungläubige Person glaubt nicht das Gegenteil von dem, was die gläubige Person glaubt und die Person, die ihr Vertrauen begründet kalkuliert, hat keine Gründe, es der Person gleichzutun, die grundlos einer Person, Instanz oder Institution vertraut. In beiden Fällen gehört das, was Wittgenstein einen «unerschütterlichen Glauben» nennt, nicht auf die Ebene der (Diskussion über) Gründe. Im Kontext des religiösen Glaubens betreffen Begründungen nicht die Gläubigkeit der Person, sondern die Plausibilität dessen, was resp. woran die Person glaubt. Der religiöse Glaube kann Gründe haben, aber nicht auf Gründen beruhen, weil er nicht das Ergebnis einer eigenen Wahl darstellt.
Jean-Luc Nancy beginnt seinen kurzen Essay Mein Gott! mit der Frage: «Wie kann man von Gott sprechen (parler), ohne sich an Gott zu wenden (s’adresser)?» Die theologische Gretchenfrage hatte Barth – oben – mit der Verehrung Gottes beantwortet. Auffällig ist, dass der Theologe trotzdem ein riesiges Werk geschaffen hat, während sich der Philosoph mit wenigen Abschnitten begnügt. In dem Ungleichgewicht spiegeln sich nicht nur die verschiedenen Berufe wider, sondern auch unterschiedliche Anliegen. Während Barth das nicht-von-Gott-sprechen-Können durch das von-Gott-sprechen-Sollen überbietet, denkt Nancy konsequent seine Ausgangsfrage weiter, die «in der Konsequenz zu der Frage [führt]: Kann man, sobald man sich an Gott wendet, noch von ihm sprechen?» Die Zuspitzung kollidiert auf den ersten Blick mit der biblischen Aufforderung: «Seid stets bereit, Rede und Antwort zu stehen, wenn jemand von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist.» (1 Petr 3,15) Wie soll Kirche dem Auftrag, «Rede und Antwort zu stehen» nachkommen, wenn sie ausgerechnet von dem nichts sagen kann, der ihr Grund, ihr Sein und ihre Hoffnung ist? Natürlich gilt auch hier die clausula Petri, dass die Kirche im Zweifelsfall Gott mehr gehorchen muss als der Skepsis eines Philosophen. Gleichzeitig kommt Kirche nicht um dessen Fragen herum, sofern sie den biblischen Auftrag, «Rede und Antwort zu stehen», beim Wort nimmt.
Die Herausforderung hatte bereits die gesamte Kirchen- und Theologiegeschichte in Atem gehalten, als Friedrich Daniel Schleiermacher die brillante Idee einwarf, Aussagen über die Eigenschaften Gottes von Gott selbst zu trennen: «Alle Eigenschaften, welche wir Gott beilegen, sollen nicht etwas Besonderes in Gott selbst bezeichnen, sondern nur etwas Besonderes in der Art, das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl auf ihn zu beziehen.» Dieser «Reflex der göttlichen Ursächlichkeit im Spiegel des frommen Bewusstseins» riskiert allerdings, das Kind mit dem Bade auszuschütten, weil die biblisch bezeugte Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte seiner Schöpfung in einem Offenbarungsbewusstsein mentaler Eindrücke steckenbleibt. Dagegen hatte Barth darauf beharrt: «Gott ist, der er ist in der Tat seiner Offenbarung.» Das ist noch keine Antwort auf die Frage nach den Eigenschaften Gottes, sondern lediglich ein Hinweis auf die Grammatik möglicher Antworten. Die biblischen Aussagen über Gottes Eigenschaften sind – mit Christian Link – «[v]on Hause aus im Hymnus und in den Gebeten Israels, also in der Doxologie, verankert». Deshalb «nehmen auch wir sie zunächst als Grund der Hoffnung in Anspruch, die wir auf die gemeinsame Geschichte der Juden und Christen setzen: So darf und so muss man von Gott reden, wenn sein Geist diese Geschichte bewegt, wenn wir darauf hoffen, dass er es ist, der ‹den Erdkreis mit Gerechtigkeit richten wird und die Völker mit Recht› (Ps 9,9; 96,13).»
Die Eigenschaften Gottes gehören nicht zum Sprachspiel «wahrer» oder wahrheitsfähiger theologischer Aussagen über Gott, sondern zum Sprachspiel doxologischer Rede – genauer: zu den Erwartungen, mit denen Menschen zu Gott beten, ihn loben, bitten, anklagen, mit ihm hadern und ihm – wie auch immer – «die Ehre geben». In die gleiche Richtung geht die Quintessenz von Nancy: «Deshalb schlage ich ‹mein Gott!› als passendere Formulierung für den Namen ‹Gott› vor». Wie Link plädiert auch der Philosoph für einen Verzicht auf Aussagen über Gott, weil es «Gott» als grammatischen Gegenstand (Referenz), dem Eigenschaften zugeschrieben (prädiziert) werden können, nicht gäbe. Der Gottesbegriff gehöre exklusiv zum Sprechakt der Anrufung, bei dem ein Subjekt («mein») «Gott» anspricht. Das Possessivpronomen «mein» bezeichnet keinen Besitz («mein Velo»), weil Gott kein Gegenstand in der Welt ist, sondern eine Zugehörigkeit («mein Geburtstag»), bei der sich das Pronomen und der Begriff wechselseitig bedingen (den Geburtstag von mir kann es nur als meinen Geburtstag geben). Nancy erläutert seinen Vorschlag an der schwindelerregenden Bitte von Meister Eckhart in seiner Predigt 52 «Über die Armut an Geist»: «Darum also bitte ich Gott, dass er mich ablöse von Gott».
Nancys Deutung ist in verschiedener Hinsicht schwierig. Seine Kritik am Gottesbegriff findet sich aber bereits in Dietrich Bonhoeffers Habilitationsschrift Akt und Sein von 1931 und lautet:«Die Seinsart der Offenbarung ist nur im Bezug der Person bestimmbar. ‹Es gibt› nur Seiendes, Gegebenes. Es ist ein Widerspruch in sich, jenseits des Seienden ein ‹es gibt› auffinden zu wollen. Im sozialen Bezug der Person kommt der statische Seinsbegriff des ‹es gibt› in Bewegung. Einen Gott, den ‹es gibt›, gibt es nicht; Gott ‹ist› im Personbezug, und das Sein ist sein Personsein.» Die Existenz Gottes ist für Bonhoeffer keine epistemologische oder ontologische Frage, sondern eine christologisch-ekklesiologische: «Darum ist der evangelische Kirchengedanke personhaft gedacht, d.h. Gott offenbart sich in der Kirche als Person. Die Gemeinde ist die letzte Offenbarung Gottes als ‹Christus als Gemeinde existierend›, verordnet für die Endzeit der Welt bis zur Wiederkunft Christi.» Das «Sein der Offenbarung» in der Gemeinde Christi bestimmt Bonhoeffer in dreifacher Weise: Als (1.) kontinuierliches Geschehen, das (2.) die Existenz der Menschen betrifft, kann es (3.) «weder als Seiendes, Gegenständliches noch als Nichtseiendes, Nichtgegenständliches aufgefasst werden». Während Nancy Gott und Schöpfer wechselseitig ineinander aufgehen lässt, identifiziert Bonhoeffer die Offenbarung Gottes in Christus mit der christlichen Gemeinde (die modale, nicht temporale «letzte Offenbarung Gottes»).
Daraus folgt: Die Anrufung «Mein Gott!» und Gottes Anrede «Mein Geschöpf!» bilden die beiden Seiten einer Medaille und können nicht auf zwei (dialogische) Subjekte verteilt werden, «damit Gott alles in allem sei» (1Kor 15,28). Darin besteht die Pointe des Bekenntnisses von Paulus: «Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.» (Gal 2,20) Gott lässt seine Geschöpfe durch sich in ihnen glauben. Die paulinische Erkenntnis schliesst die oben erwähnte Disharmonie zwischen der Grammatik und der Sache des grundlosen Vertrauens als subjektive Selbstbezüglichkeit. Christus ist das Subjekt des Glaubens der Person, die an ihn glaubt und ihm vertraut. Das ist keine theologische und/oder anthropologische Bestimmung von einem Sein und dessen Eigenschaften, sondern der Modus geschöpflicher Existenz in der Aktualität der Anrufung oder – wie Nancy paraphrasiert – des «Durchbruch[s] meiner Loslösung» und der «Öffnung».
Die Frage nach den Eigenschaften Gottes hat zwar durch die vorangegangenen Überlegungen einen Dämpfer erhalten, ist aber weder beantwortet noch erledigt. Es gibt mindestens einen theologischen Zusammenhang, in dem die göttlichen Attribute unabweisbar auf dem Spiel stehen: die Theodizee. Umso mehr erstaunt es, dass ungeachtet der Gewalt und Schrecken, die die Aktualität bestimmen, die Frage danach nicht auftaucht, wie Gott diese Übel und Not (tatenlos) zulassen kann. Selbst die Kirchen gehen mehr oder weniger direkt zur Frage nach den Täter:innen und Opfern von Krieg und Zerstörung über. Die lange Konjunktur der philosophischen und theologischen Versuche, die Allmacht, Güte und Gerechtigkeit Gottes angesichts der menschlichen Erfahrungen von Gewalt und Ungerechtigkeit zu verteidigen, ist offensichtlich vorbei. Die klassische Formulierung des Theodizee-Problems stammt von Epikur: «Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, dann ist er missgünstig, was ebenfalls Gott fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl missgünstig wie auch schwach und dann auch nicht Gott. Wenn er aber will und kann, was allein sich für Gott ziemt, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?» Der grossangelegte Versuch von Gottfried-Wilhelm Leibniz, die Fragen unter dem Eindruck des Europa erschütternden Erdbebens von Lissabon (1755) zu beantworten, wurde von Immanuel Kant elegant widerlegt, von Voltaires «Candide» heftig verspottet und von Arthur Schopenhauer als «bitterer Hohn über die namenlosen Leiden der Menschheit» zurückgewiesen.
Die epistemologische Erledigung der Theodizee-Frage gelang, weil durch die enormen Erfolge der modernen Wissenschaften und Techniken die Anklagebank neu besetzt werden konnte. Die Verschiebung von schicksalhaften Gefährdungen in kalkulierbare Risiken führte dazu, dass dasjenige, was zuvor Gott zugerechnet wurde, neu der Verantwortung von Menschen angelastet werden konnte. Die Erfindung der Verantwortung entlastete die Theologie von der Verteidigung ihrer Gottesbilder. Gleichzeitig erledigte sich zunehmend der Gedanke, «dass Gott der Schuldige sein konnte», weil die Rechnungen der Welt ohne ihn gemacht wurden. Erfahrungen des Guten gelten nicht länger als Indiz für einen liebenden Gott und Erfahrungen des Bösen veranlassen nicht mehr dazu, an diesem Gott zu zweifeln. Die Schubumkehrung von der Theodizee-Frage der Opfer auf die Verantwortung der Täter:innen hatte fundamentale Konsequenzen. Heute gelten Unglücke und Katastrophen entweder als Naturkausalität (Naturkatastrophen, Krankheitsursachen) oder als prinzipiell zurechenbare Handlungsfolgen (selbstverschuldete Unfälle, Reaktorhavarien, Gewaltverbrechen). Damit sind die Opfer nicht verschwunden. Aber sie sind nicht länger vom Schicksal gebeutelte, ohnmächtige Subjekte, sondern werden zu Opfern von identifizierbaren Personen, Gruppen, Institutionen und Strukturen. Damit einher geht eine Möglichkeitsschrumpfung der Welt, weil sich die zuvor überbordende Fülle von Möglichkeitsursachen und Erklärungszumutungen auf das einzige Alternativschema «Naturkausalität» oder «Handlungsabsicht» bzw. «-folge» reduziert. Das dadurch nicht erfasste Restfatum wird als persönliches Glück und Pech privatisiert.
Seitdem Menschen die ursprüngliche Täter:innenrolle Gottes besetzt haben, ist die Opferrolle prekär geworden. Die «modernen» Opfer können nicht mehr, wie Hiob, um ihre Gerechtigkeit vor Gott streiten, mit Opferritualen die Götter besänftigen oder ihre Ohnmacht in Klagepsalmen ausdrücken. Anstelle des Streits mit einem als ungerecht erlebten Gott sind der Protest gegen die Verhältnisse und der Rechtsstreit vor Gericht getreten. Anstelle der Opferrituale dreht sich eine endlose Gewaltspirale, in der Rollen der Täter:innen und Opfer periodisch wechseln. Und Klagepsalmen werden allenfalls noch im Spital angestimmt, wenn die medizinischen Therapien versagen und die Suizidhilfe als Ausweg verworfen wird. Das Entwürdigende von menschlichen Herrschaftsverhältnissen, etwa der Kolonialismus, besteht nicht darin, dass die beklagenswerte Lage der Unterdrückten und Kolonialisierten komplett ignoriert würde, sondern darin, dass ihnen ihr Recht verweigert wird, für sich selbst zu kämpfen und zu Subjekten ihrer Klage zu werden. Die Opferrolle der Unterdrückten wird verdoppelt durch ihre Ohnmacht gegenüber denjenigen, die mit ihrem Mitleidsverhalten deren beklagenswerten Status noch bestätigen.
Weil Gott aus dem Spiel genommen wird, fällt alles Gute und Böse unmittelbar auf die Menschen als Verursacher:innen zurück. Die moralischen Zuschreibungen erfolgen direkt und werden nicht mehr über die Bande einer Gottheit gespielt. Zweifellos sind der Massenprotest und der Rechtsstreit vor Gericht ungleich effizienter als das Hadern mit und die Klage vor Gott. Wenn das eigene Schicksal selbst in die Hand genommen wird, lassen sich die Aussichten prognostizieren. Dagegen ist die Anrufung Gottes aus konsequentialistischer Sicht völlig unkalkulierbar. Der Verzicht auf Gott reduziert die Komplexität der Welt, weil dann die Guten so unangreifbar für gut erklärt werden können, wie die Bösen für unbestreitbar böse. Die Welt ohne Gott wird normativ übersichtlich und korrekt, weil eine binäre Moral die eigenen Intuitionen und Vorurteile viel effizienter bestätigt als eine göttliche Instanz, deren Massstäbe niemand kennt und bei der niemals feststeht, auf wessen Seite sie sich schlägt und schlimmer noch, ob sie sich überhaupt positioniert.
Zum biblischen Gott gehört, dass er sich selbst dekonstruiert, sobald er auf den Begriff gebracht wird. Die Lücke der göttlichen Präsenz im Entzug wurde traditionell dadurch überbrückt, dass Gott genuine oder in einmaliger Weise perfekte Qualitäten zugeschrieben wurden: Allmacht, Allgegenwart, Liebe, Güte, Gerechtigkeit, Versöhnung, Rechtsautorität. Weil es sich um menschliche Attribute handelt, treffen sie vermutlich nicht zu. Aber das ist unerheblich, weil die Absolutheit der Eigenschaften keine graduellen oder linearen Steigerungen der Merkmale darstellen, die auf ermässigtem Niveau auch Personen attestiert werden. Es geht nicht nur um die, Gott zugesprochenen Attribute, sondern auch um deren exklusive Qualität, die schlechthin unerreichbar und unüberbietbar ist. Es gibt keinen Übergang vom guten Gott zu den guten Menschen. Gott ist auch das Ende aller Komparative. Normative Gottesvorstellungen markieren traditionell die grösste vorstellbare Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf. Aus normativer Perspektive bilden sie inverse Spiegelbilder zu einer zu einem Zeitpunkt wahrgenommenen defekten und defizitären Wirklichkeit. Sie leben von den menschlichen Hoffnungen und Sehnsüchten nach Frieden, Gerechtigkeit, Versöhnung und Ganzheit. Normative Gottesbilder trauen Gott all das zu, woran diejenigen, die sie erschaffen, scheitern. In der Eindrücklichkeit des menschlichen Scheiterns zeigt sich die Stärke des Gottesbildes.
Normative Gottesbilder haben den eminenten ethischen Effekt, dass sie alle Absolutheitsansprüche kontingenter moralischer Massstäbe des Guten und Bösen konsequent zurückweisen. Vor Gott kann alles geschöpflich Gute nur relativ gut sein und das geschöpflich Böse nur relativ böse. Endgültige Urteile sind allein Gott vorbehalten. Deshalb beten Christinnen und Christen weltweit für ein Ende von Gewalt, für Frieden, für den Schutz von Gewaltopfern und für die Befreiung der Geiseln, Versklavten und Unterdrückten. Deshalb bitten sie um Segen für die Herrschenden, Soldatinnen und Soldaten, um ein friedliches und gerechtes Ende von Konflikten. Und deshalb beten sie nicht für militärische Siege und für die Vernichtung von Gegner:innen und Feinden. Die christliche Botschaft rechnet mit der Versöhnung im Leben. Leichen können sich nicht versöhnen und nicht in Frieden leben.
Während die Lücke der göttlichen Präsenz im Entzug jeder Versöhnung Gottes mit der menschlichen Moral widersteht, bemühen sich funktionale Gottesbilder (Bonhoeffer: «Lückenbüsser») umgekehrt um eine Überwindung der konstitutiven Inkommensurabilität. Aus funktionaler Perspektive werden in Gott und seinen Eigenschaften die menschlichen Moralvorstellungen gespiegelt. Die Gottesvorstellung wird normativ positiviert und – zumindest in Kirche und Theologie – zur Legitimationsinstanz der eigenen moralischen Weltbilder. Allerdings wiegt die berechtigte Kritik an der Instrumentalisierung weniger schwer als der Konstruktionsfehler solcher moralischen Spiegelgötter: Der «Begriff Gottes, einmal funktional definiert, verlangt geradezu danach, durch Äquivalente ersetzt zu werden, denn er hat das Eigentümliche an sich, seine Funktion nur so lange erfüllen zu können, wie er durch sie nicht definiert wird». Die Betonung der Präsenz Gottes im Entzug – «Ich werde sein, der ich sein werde.» (Ex 3,14) – richtet sich präzise gegen seine Funktionalisierung. Die Moralkritik steht im Zentrum des biblischen Bilderverbots.
Was folgt daraus für die Ausgangsfrage nach der Gendereigenschaft Gottes? Der salomonische exegetische Befund, «Auch wenn es den Redaktoren der biblischen Texte und einigen Theologen missfällt: Jhwh hatte eine Paredra, die Göttin Aschera, auch «Himmelskönigin» genannt.» wird den Konflikt voraussichtlich nicht lösen. Denn es geht nicht um den biblischen Gott und seine Eigenschaften, sondern um die (kirchliche und theologische) Politik mit Gottesbildern. Auf die politische Ebene gehört die berechtigte Kritik an einer patriarchalen Vereinnahmung nicht der Bibel (die die patriarchale Kultur ihrer Entstehungszeit widerspiegelt), sondern der biblischen Botschaft, die gerade dort hervortritt, wo Menschen Gott anrufen und ihm in allen erdenklichen Formen «die Ehre geben».
Der Gott ohne Eigenschaften ist der Gott der ungeahnten Möglichkeiten. «Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, […] dann muss es auch etwas geben, dass man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So liesse sich der Möglichkeitssinn geradezu als Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.» Der Lebensgrundsatz von Ulrich, dem Protagonisten in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, hat auch eine theologische Pointe: «Das Mögliche umfasst jedoch nicht nur die Träume nervenschwacher Personen, sondern auch die noch nicht erwachten Absichten Gottes.»
Text im Original mit Fussnoten und Quellenangaben:
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