Am Jahrestreffen der American Academy of Religion gibt es alles: Karl Barth-Studien, Tantra-Workshops, Referate und Arbeitsgruppen zu religiöser Sterbebegleitung, intersektionelle Mikrostudien zu grossen Fragen und Arbeitsgruppen, die sich mit den theologischen Herausforderungen künstlicher Intelligenz auseinandersetzen. Angesichts dieser Vielfalt und nach einigen Workshops, Vorträgen und Gesprächen bei Kaffee und an Bars komme ich darüber ins Grübeln, was Theologie eigentlich ist.
Es gibt nämlich ganz unterschiedliche Arten, wie hier in San Antonio (Texas, USA) Theologie betrieben wird. Natürlich schliessen viele Papers und Vorträge an vergangene Debatten, wichtige Denkerinnen oder intellektuelle Autoritäten an. Zum Teil tun sie dies wie akademische Fangruppen, die einen bestimmten Denker dadurch ehren, dass sie dessen Anschlussfähigkeit an gegenwärtige Fragestellungen aufzeigen wollen: Was hat uns Paul Tillich (1886-1965) zu Queer-Theology, Theologie und Autismus, Intersektionalität oder künstlicher Intelligenz zu sagen? Im besten Fall ist dann Tillich oder z.B. seine Korrelationsmethode eine Linse, um die eigene Perspektive auf eine Sachfrage scharfzustellen. Aber eigentlich geht es eher darum, mittels einer aktuellen Thematik für den grossen Denker zu werben, der von diesem bestimmten Thema allerdings verständlicherweise noch gar keine Ahnung haben konnte.
Was hat uns Paul Tillich zu Queer-Theology, Theologie und Autismus, Intersektionalität oder künstlicher Intelligenz zu sagen?
Ein erstes Element, um zu bestimmen, was Theologie ist, könnte also lauten: Theologie ist eine Erinnerungstechnik, die verstorbene Denker und deren Position vergegenwärtigt.
Ein anderer Typus geht gewissermassen den umgekehrten Weg: Ein aktuelles Problem - zum Beispiel das Artensterben - wird ausgeführt und mit den dazugehörigen Lösungsansätzen und Beurteilungen der jeweiligen Bezugswissenschaften konfrontiert.
Wir - die Theologie - sind das Original dieser Problemwahrnehmung und Lösung!
Diese philosophischen, psychologischen, ökonomischen oder naturwissenschaftlichen Einsichten werden dann in einem zweiten Schritt theologisch übersetzt - zum Beispiel mit dem biblischen Auftrag, allen Lebewesen und Dingen Namen zu geben. Dadurch soll erstens das aussertheologische Engagement gewürdigt, zweitens, innerhalb der religiösen Communitys Motivation sich an der Problemlösung zu beteiligen erzeugt, aber dann schliesslich auch drittens die Bibel und die christliche Tradition als Ursprung dieses ganzen Problembewusstseins apologetisch ins Spiel gebracht werden. Wir - die Theologie - sind das Original dieser Problemwahrnehmung und Lösung! Freilich gibt es diesen Ansatz auch als interreligiöses Unternehmen: Artenschutz, Ökologie, Nachhaltigkeit im Islam, Judentum und Christentum als Ausdruck einer Gottheit, die unser Leben liebt.
Ein zweites Element, um Theologie zu beschreiben, könnte lauten: Theologie ist eine Selbstvergewisserungstechnik. Indem sie sich selbst als ursprünglichen Entdeckungszusammenhang von Problemen und Lösungsstrategien thematisieren kann, sichert sie die Relevanz der Arbeit ihrer Anhängerinnen und deren Zuhörerschaft.
Ein dritter Typus arbeitet mit einem sehr weiten Religionsbegriff und versucht aufzuzeigen, dass aktuelle Probleme immer auch eine religiöse Dimension haben, die unbedingt beachtet werden sollte. Nicht selten sind dabei religiöse Weltbilder selbst als Problemverschärfer oder gar Ursache im Blick, die einer theologischen, aufklärerischen Therapie bedürfen: Xenophobie? Ja, das hat auch eine religiöse Wurzel. Solange wir die nicht verstehen und bearbeiten, wird es keinen Frieden geben! Dieser Theologietyp sucht nach Koalitionen oder mindestens Drittmitteln, um interdisziplinär mit sozial angeseheneren Wissenschaften zusammenzuarbeiten.
Xenophobie? Ja, das hat auch eine religiöse Wurzel. Solange wir die nicht verstehen und bearbeiten, wird es keinen Frieden geben!
Drittens ist Theologie eine Selbsterhaltungstechnik, die einen Übersetzungsprozess von Themen und Teilaspekten in religiöse, transzendente oder religionspsychologische Zusammenhänge in Gang bringt, um sich einen Platz am Tisch der aktuellen Debatten zu sichern.
Ein ziemlich breites Feld gegenwärtiger Theologie setzt sich mit Problemen auseinander, die durch das religiöse Leben und verschiedene, oft evangelikale oder biblizistisch geprägte Theologien erst entstanden sind. Sie versuchen nicht selten unter diesen Voraussetzungen Freiräume zu schaffen, um Gott trotz allem beweglich, empathisch, queer, veränderlich, sexismusfrei zu denken.
Wer selbst nicht in den Problemzusammenhang eines patriarchalen, strafenden, rigorosen Gottesbildes hineinsozialisiert worden ist, kann diese Bemühungen kaum nachvollziehen.
Wer selbst nicht in den Problemzusammenhang eines patriarchalen, strafenden, rigorosen Gottesbildes hineinsozialisiert worden ist, kann diese Bemühungen kaum nachvollziehen. Aber offensichtlich gibt es sehr viele Theologinnen und Theologen, die Theologie als Akt der Selbstbefreiung unter biblizistischen Voraussetzungen für sich und ihre Community benötigen.
Viertens ist Theologie eine Selbsttherapie-Form unter den Voraussetzungen einer Krankheit, die eine ähnliche Theologie erst heraufbeschworen hat.
But if it's wrong - and it's wrong because it hurts a lot of people's feelings, what does it matter?
Diese vier Typen - Erinnerungs-, Selbstvergewisserungs-, Selbsterhaltungs- und Selbsttherapietechnik - mögen intentional und thematisch weit auseinander liegen. Dennoch gibt es ein entscheidendes Element, das sie alle verbindet: Der Gestus und der Stil eigener Betroffenheit ist die Währung, mittels derer die theologischen Ausführungen Geltung beanspruchen können. Es ist nicht so sehr entscheidend, ob sich Paul Tillichs Korrealtionsmethode eignet, um Judith Butlers Gender Trouble für das Gottesbild fruchtbar zu machen, sondern v.a. dass ich selbst als Betroffener darin irgendeinen Sinn sehe. Es ist nicht so wichtig, ob es gute Gründe dafür gibt, biblizistische Weltbilder auf der Grundlage des Biblizismus zu bekämpfen. Entscheidend ist, dass ich unter dem Biblizismus gelitten habe und andere befreien will. Nicht ein bestimmter Religionsbegriff muss diskutiert werden, um zu prüfen, ob ein Problem wirklich eine relevante religiöse Dimension hat. Es genügt, dass der Redner das so empfindet und ausdrückt.
Der Gestus und den Stil eigener Betroffenheit ist die Währung, mittels derer die theologischen Ausführungen Geltung beanspruchen können.
Ich habe zum Beispiel einen Vortrag über Muscular Christianty verfolgt. Die ganze Bewegung wurde als pervertierte Form des Christentums dargestellt, wörtlich sogar als Häresie. Nach dem freundlichen Applaus meldete sich ein ca. siebzigjähriger Theologieprofessor neben mir und fragte nach, ob man diese Bewegung, die uns heute sicherlich fremd erscheine, nicht auch anders, nämlich durch die Perspektive einer historischen Kontextualisierung in den Blick bekommen könnte. Zum Beispiel als Reaktion einer Vaterlosen Generation, die innerhalb der Religion Halt suche. Die Referentin war sichtlich entsetzt und belustigt und meinte nur ganz lapidar: But if it's wrong - and it's wrong because it hurts a lot of people's feelings, what does it matter? Die vorsichtige Nachfrage einer Kunsthistorikerin, die daran erinnerte, dass manches, was wir auf den Jesus-Darstellungen heute als männlich oder weiblich deuten, in der Entstehungszeit der Darstellungen anders konnotiert war, konterte sie mit der entschiedenen Versicherung, dass sie in dieser Jesus-Darstellung eindeutig die Gesichtszüge Rockefellers erkenne.
Ich behaupte nicht, dass dieser Vortrag und die Referentin geeignet sind, um sich über gegenwärtige Theologie ins Bild zu setzen. Sie sind vielleicht ein besonders schlechtes und warnendes Beispiel für eine Richtung, die Theologie nehmen könnte, aber nicht nehmen muss. Theologie kann nämlich mehr und auch das habe ich in San Antonio erlebt!
Auch diejenigen, die in der Binarität von Recht/Unrecht nicht mehr gehalten werden, können in der Idee der Feindesliebe geborgen werden.
Ein Professor für Rechtswissenschaften hat einen beeindruckenden Vortrag über die politische Differenz von Feind und Verbrecher, Souveränität und Recht gehalten. Insgesamt lief der Vortrag auf die These hinaus, dass die Gesellschaft immer wieder bürgerkriegsartiger Zustände bedarf, um die Souveränität abzusichern und Feinde zu markieren, die ausgeschlossen werden müssen. Ich war sprachlos, entsetzt und konnte die aktuellen Bezüge, die der Professor zum Krieg im Gazastreifen und der Ukraine hergestellt hat, gut nachvollziehen. Ich neigte spontan dazu, ihm zuzustimmen. Eine Theologin hat darauf eine sehr kluge Response gegeben. Sie hat entwickelt, was es bedeuten kann, die Feinde zu lieben: Auch diejenigen, die in der Binarität von Recht/Unrecht nicht mehr gehalten werden, können in der Idee der Feindesliebe geborgen werden. Sie stellte folgende Gegenthese auf: Ohne Feindesliebe gibt es keine Gerechtigkeit und ohne Gerechtigkeit kein Recht. Deshalb ist der Feind nicht der Grenzfall des Rechts, der staatlich, polizeilich oder militärisch eingedämmt werden kann, sondern der Lackmustest für den Rechtsstaat.
Ihre theologische Übersetzung hatte eine therapeutische Wirkung, indem sie die Perspektive verändert, Alternativlosigkeit gesprengt und die Logik des Rechts ihrer Eigengesetzlichkeit entzogen hat. Durch ihre theologische Denkarbeit ist ein Freiraum entstanden, das Problem anders zu sehen und anders über Recht und Gerechtigkeit zu denken. Sie hat das engagiert vorgetragen, als eine, die sich seit Jahren für Minderheiten und Bürgerrechte einsetzt. Aber ihr Engagement ist nicht in Betroffenheit aufgegangen und ihre Theologie erschien nicht nur wie eine Übersetzung der eigenen Befindlichkeit, sondern als Quelle einer wertvollen Intuition.
Darum kann Theologie - und das ist der gelingende Fall - fünftens auch eine Technik sein, die eigene Denkverengung aufzubrechen, moralische Intuitionen erzählbar zu machen und den Diskursraum so zu erweitern, dass Verständigung und Heilung angesichts der Idee von Gottes Reich möglich werden.
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