Ein Kennzeichen der Moderne ist die Selbstverantwortung des Individuums. Es sei nicht nur seines Glückes Schmied, sondern auch sein eigener Trost- und Hoffnungsspender. Das Gefühl der Überlastung scheint somit vorprogrammiert. Wolfgang Teicherts Essay beschreibt vergangene und gegenwärtig mögliche Wege und Formen der Entlastung von moralistischen und anderen Überforderungen. Dabei kommen die Gleichniserzählungen des Neuen Testaments genauso ins Spiel wie Meister Eckharts aufregende Bemerkungen zur "Gelassenheit", Luthers Entlastungsentdeckung namens Rechtfertigung sowie Bachs Kantate "Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit" als Entlastung von der Herrschaft der Zeit. (Aus dem Klapptext des Buches)
Gesellschaft im Dauerstress - so oder ähnlich konnten wir es die letzten Wochen in den Medien lesen und hören: Die Klimakrise, Corona und dann die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten – das alles scheint uns Menschen zu überfordern. Aber diese Überforderung wurde bereits vor den aktuellen Krisen der letzten Jahre von Sozialphilosoph:innen und Sozialpsycholog:innen bedacht und thematisiert. Die entwickelte Moderne mit ihren pluralistischen Freiheitsräumen in ganz materieller, aber auch lebensorientierender Hinsicht stellt uns Menschen ständig vor die Wahl - wie willst Du leben? Freiheit, die zum Leistungs-Zwang wird? In einer solchen Situation rufen wir Menschen verständlicher Weise nach Entlastung. Wer entlastet uns vom Dauerstress des Lebensalltags sowohl im persönlichen Nahbereich wie in der Weite der weltpolitischen Konflikte und Herausforderungen?
Dieser Frage nach den Quellen möglicher Entlastung geht Wolfgang Teichert in seinem kleinen Büchlein nach. Bei der Lektüre merkt man, dass Teichert etwas von der „Kommunikation“ kulturgeschichtlicher Inhalte versteht. Er war jahrelang Direktor der Evangelischen Akademie in Hamburg und Bad Segeberg und mit Erwachsenenbildung aufs Engste vertraut – und das in weitem Horizont: Teichert ist Theologe und zugleich Ehrenmitglied der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie.
Hat man Teicherts Buch gelesen, dann stellt sich der Eindruck ein, eine informative Reise durch die theologisch-kulturgeschichtliche Landschaft möglicher „Entlastungen“ gemacht zu haben. Meine Rezension stellt also einen kleinen Reisebericht durch diese Landschaft dar.
Teichert beginnt sein Buch mit einer Warnung: Nicht jede Form der Entlastung ist lebensdienlich. Dafür steht kulturgeschichtlich die Idee und Praxis des „Sündenbocks“. Im Anschluss an die Forschungen von René Girard wird uns im ersten Kapitel die „Dialektik des Sündenbocks“ vorgestellt. Der Sündenbock sollt die Gemeinschaft entlasten, indem er der Gewalt, die es eigentlich zu vermeiden gilt, ausgesetzt wird. Damit wird – so Teichert wie Girard – die Gewalt aber nicht wirklich verbannt, sondern sie bleibt als das schlechte Gewissen präsent. Und deshalb erzeugt die menschliche Geschichte immer wieder aufs Neue Sündenböcke. Der Sündenbock entlastet nicht, sondern verstärkt die Belastung. Und genau an dieser Stelle scheint in der biblischen Tradition eine neue Perspektive auf – nämlich im Gedanken des unschuldigen Gottesknechtes, den die ersten Christinnen und Christinnen dann im Geschick Jesu wiedererkennen. Damit könne der Kreislauf immer neuer Gewalt durchbrochen werden. Diese Sicht des Sündenbocks und des unschuldigen Opfers als des Endes aller Opfer war aber im Verlauf der Christentumsgeschichte eher marginal. Umso mehr besteht Grund, an diese Dialektik des Sündenbocks zu erinnern.
Die zweite Station der Reise ist der Schabbat als Entlastungstag. Galt ein Ruhetag im kulturellen Umfeld Israels eher als ein Buss-Tag, so wird er in der alttestamentlichen Überlieferung zu einem festlichen Ruhe-Tag und die christliche Tradition sieht in dem dem Schabbat folgenden Sonntag als Tag der Auferstehung Christi einen Tag des Gewinns neuen Lebens. Und zugleich wissen wir, wie gefährdet dieser Tag heute ist.
An der nächsten Station der Lesereise wird der alteuropäische Mythos von Atlas, der die gesamte Welt trägt, der Legende von Christophorus entgegengestellt, der eben gerade nicht die ganze Welt trägt. Er trägt vielmehr ein kleines Kind, das seinerseits die Schuld der Welt auf sich genommen hat.
Und dann wird es richtig spannend. Der nächste Halt findet bei der spätmittelalterlichen Mystik statt. Teichert zeigt, dass dort der Begriff der Gelassenheit zentral ist. Und diese Gelassenheit hat viel mit Loslassen zu tun: das Loslassen der Welt, meiner selbst und – in kühner Theologie – das Loslassen Gottes. Nur wer loslässt, gewinnt – so liesse sich diese Dialektik, die der Mystik eingeschrieben ist, beschreiben.
Als Nächstes werden wir dann ins Reich der Musik geführt – und zwar zu Johann Sebastian Bach. Die Musik schafft ihre eigene Zeit und entlastet von den Zwängen unserer Alltagszeit. Das hat wohl schon jede/r von uns nachempfunden, wenn wir sinnierend eine Melodie vor uns hingesungen oder gepfiffen haben. Bach gestaltet nun in seiner Musik die Zeit als „Gottes Zeit“, die uns aus den Rhythmen unserer Zeit heraus lockt.
Geradezu konträr geht es dann in der nächsten Station weiter, die uns zum Takt hinführt. Aber ist der Takt – ich denke an den Taktstock des Dirigenten / der Dirigentin – etwas, was uns den Takt vorgibt? Nein, sagt Wolfgang Teichert, der Takt ist das, was unserem Leben Gleichgewicht und Würde gibt. Eine Würde, die über unser irdisches Leben hinausstahlt.
Und so werden wir auf die nächste Station unsrer Reise geleitet. Wir werden auf einen Friedhof geführt, wo wir sehen: Das Leben hat nicht mit uns begonnen und geht nicht in unserer Endlichkeit auf. Erst mit diesem Wissen können wir unser endliches, individuelles Leben als kostbares Leben wahrnehmen. Ein Leben, das auf Vergebung hofft, und damit von bedrängender Vergangenheit entlastet.
Die Reise, auf die uns Wolfgang Teichert mitgenommen hat, endet im Kirchenraum. Wir betreten den Raum über eine Schwelle. Diese Stelle der Schwelle wurde in den mittelalterlichen Kirchen besonders sorgfältig gestaltet. Wenn es gut geht, betreten wir eine andere Welt. „Unterbrechung“ des Alltags hat dies der Theologe des 19. Jahrhunderts Friedrich Schleiermacher das genannt. Wer so seinen Alltag unterbricht kann sich aufs Neue diesem Alltag zuwenden. Welches Souvenir nehme ich von dieser Lese-Reise, zu der das Büchlein von Wolfgang Teichert einlädt, mit? Das Buch ist ungemein flüssig geschrieben. Es lässt sich auch noch bei etwas Müdigkeit am Abend lesen. Die Lektüre eröffnet ein kleines Panoptikum abendländischer kultureller Reflexion zum Thema „Entlastung“. Der Essay-Stil lässt allerdings manches etwas holzschnittartig erscheinen. So ist mir die Darstellung der nichtbiblischen Mythen der Antike doch zu dunkel geraten vor dem strahlenden Licht der biblischen Überlieferung. Da gäbe es sicher noch manche reizvolle Nischen zu entdecken. Ich möchte die Lektüre des Buches besonders denen empfehlen, die regelmässig predigen. Das Buch bietet eine Fülle gedanklicher Anregungen, Erzählungen und Symbole, die für so manche Predigt recht dienlich sein können.
Wolfgang Teichert, Kleine Theologie der Entlastung, Bayern, 2023
Albrecht Grözinger ist evangelischer Pfarrer und Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Basel.
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