von Elio Jaillet
Der christlichen Perspektive geht es nicht um eine absolute Wahrheit, die an und für sich gilt. Sie blickt auf Wahrheit im Spannungsfeld von Leben und Tod (5. Mose 30,15). Wahrheit als Übereinstimmung zwischen dem, was wir sagen, und dem, was ist oder Wahrheit als Legitimität oder als letzte Antwort auf die Frage, die wir selbst sind, setzt eine andere Perspektive voraus: Was behauptet, versprochen oder verheissen wird, soll auch einer Prüfung untergezogen werden. Ewiges Leben ist eine Verheissung (1 Joh 2,25). Wird sie sich erfüllen?
Am Anfang steht ein Gotteswort: "Das verspreche ich dir: Du sollst zum Stammvater vieler Völker werden" (Gen 17,4). Da steht eine Verheissung, aus der ein einzigartiges Volk hervorgeht: die Kinder Abrahams. Eine Verheissung, die aber der ganzen Menschheit gilt. "Du sollst ein Segen sein für die anderen" (Gen 12,2). Die Geschichte wird zur Prüfung dieser Verheißung: und die Wahrheit ist die Tatsache der Bewährung dieser Verheissung. Es geht also nicht um die Erfüllung – auch wenn diese im Zusammenhang mit der Bewährung steht – sondern um das beharrliche festhalten an der Verheissung. Die Wahrheit einer Aussage über Gott besteht in der Beständigkeit der von ihm gegebenen Verheissung.
Dass diese Verheissung bestehen bleibt, liegt daran, dass ihre Erfüllung in Jesus Christus geglaubt wird (Röm 5,1). Oder besser gesagt: Sie besteht, weil Jesus Christus im Glauben, der ihn mit seinem Vater verbindet, die Erfüllung dieser Verheissung erfahren hat, und weil andere glauben dass so die Verheissung des Gottes Israels Bestand hat. So ist der Satz zu verstehen: "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater ausser durch mich. (Johannes 14,6)
Weil diese Zusage jedem Menschen gerichtet ist – ja jedem Geschöpf – ist seine Beständigkeit mitteilbar. Sie bleibt nicht an einem begrenzten Ort, bei einer bestimmten Person oder Gruppe, sondern erstreckt sich auf den ganzen Kosmos. Sie hört nicht auf, sich der Welt auszusetzen, auch dort nicht, wo die Welt an ihre Grenzen stösst. Die Verheissung ist nicht exklusiv. Im Gegenteil: Sie zeigt sich. Sie setzt sich der praktischen Prüfung aus. Sie nimmt das Risiko der Ablehnung auf sich. Das ist ihre Unsicherheit. Es ist aber auch die einzige Bedingung, unter der sie angenommen werden kann.
Die Erkenntnistheorie, die die Bedeutung dieser Wahrheit zum Ausdruck bringen will, wird mit einer unvermeidlichen Differenz konfrontiert. Es gibt zunächst eine realistische Bedeutung der Wahrheit der Verheissung Gottes: Der christliche Glaube vertraut auf das Wort, das von Gott kommt, auf die Tatsache, dass das Subjekt, das dieses Wort ausspricht, nicht identisch ist mit demjenigen, der dieses Wort empfängt, der in Wirklichkeit ein anderer ist. Damit verbindet sich eine nicht-realistische Bedeutung: Die Wahrheit der Verheissung Gottes setzt nicht voraus, dass das Gegebene vorhanden ist, um wahr zu sein. Sie liegt in ihrer Zukunft. Sie identifiziert sich nicht mit dem, was ist, sondern öffnet sich für das, was sein kann, was zum Sein aufruft. Letztlich liegt die Wahrheit von Gottes Versprechen in ihrer Ironie. Die Wahrheit der Verheißung Gottes durchdringt durch ihre Wirkung im Diskurs die Sprache. Sie initiiert den Prozess der unendlichen Sinndeutung, das Spiel der textuellen Differenz.
Zu dieser dreifachen Unterscheidung vgl. Vincent Delecroix, Ce n'est point ici le pays de la vérité. Introduction à la philosophie de la religion, Paris, Éditions du Félin, 2015, S. 883-967.
"Amen" ist die Signatur der Wahrheit, ihre Wirklichkeit, ihre Bestätigung. In ontologischer Sprache: Das, was das Amen sagt, ist das Wahr-Sein der Wahrheit. Eine theologische Aussage ist wahr, wenn sie am Amen der Verheissung Gottes teilhat, wenn sie bereit ist, im Band zu stehen, der in Jesus Christus gebunden ist, im Angesicht des Todes und im Angesicht des Lebens. Eine theologische Aussage ist wahr, wenn sie nicht darauf verzichtet, sich in diesem Amen der Welt, Gott und den anderen Menschen auszusetzen. Amen.
von Stephan Jütte
Als Jesus von Pilatus verhört wird, legt er ein Geständnis ab: «Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.» Pilatus scheint darüber nicht sonderlich beeindruckt. Vielleicht zuckt er mit den Schultern. Jedenfalls meint er nur trocken: Was ist (schon) Wahrheit? Von Jesus erwartet er darauf keine Antwort. Er hat ein handfestes politisches Problem zu lösen und tritt heraus vor das Volk.
Ich kann Pilatus gut verstehen. Vielleicht hatte er sich Sorgen gemacht, dass dieser «König der Juden» einen politischen Umsturz plant, Anführer jüdischer Separatisten ist, seine Herrschaft bedroht. Aber – Gott sei Dank! – es geht ihm nur um Wahrheit. Pilatus ist erfahren genug. Wahrheit ist nicht gefährlich. Der Kampf um Macht, Geltung und Interessen wird dadurch entschieden, wer Wirklichkeit schaffen kann. Aus der Wahrheit zu sein und die Wahrheit zu verkünden, ist dieser Wirklichkeit fern. Man muss die Wahrheit nicht einsperren. Sie ist ungefährlich.
Wer darüber nachdenkt, wie und inwiefern theologische Aussagen, Zusagen, Verheissungen und Gebote «wahr» sind, findet in diesem kurzen Dialog Anlass zur Bescheidenheit. Ganz sicher sind theologische Sätze keine Konserven, in denen sich Wahrheit transportieren lässt, theologische Systeme keine Schaukästen, in denen Wahrheit demonstriert werden kann. Bestenfalls – mehr konnte auch Jesus nicht – verweisen unsere Aussagen auf eine Wahrheit, die sie zu bezeugen versuchen.
Die Glaubwürdigkeit dieser Zeugnisse kann sich keiner äusseren Wirklichkeit versichern. Die Wahrheit ist weltfremd und wirklichkeitsfern. Sie verhält sich zur Wirklichkeit nicht wie etwas, das sich an ihr zu bewähren oder das in ihr zu funktionieren hat. Wahrheit ist gegenüber der Wirklichkeit souverän. Von der Wahrheit aus lässt sich Wirklichkeit in den Blick nehmen, messen, untersuchen und deuten. Wenn Gottes Volk zahlreich wie die Sterne am Himmel sein soll, dann muss Gottes Volk anders gedacht werden, damit die Wirklichkeit der Wahrheit dieser Verheissung entspricht. Wenn der Tod seinen Stachel verloren hat, dann ist das sichtbare, wirkliche Sterben, der wirkliche Tod, nicht Gottes Wahrheit über das Ende dieses Lebens, sondern Gott selbst die Zukunft, die wir in Wirklichkeit nicht erkennen.
Manche möchten ergänzen: Noch nicht. Das ist aber ein Trick. Die Unvereinbarkeit von Wirklichkeit und Wahrheit wird dann in eine versöhnende, vereinende Zukunft projiziert. Aber die Zukunft gehört der Wahrheit. Nicht der Wirklichkeit. Nur in Wahrheit, nicht in Wirklichkeit wird «Russland glücklich sein» (Nawalny), nur in Wahrheit, nicht in Wirklichkeit wird Gott die Tränen abwischen. In Wirklichkeit ist Russland unglücklich und die Tränen fliessen weiter.
Worin, könnte man fragen, unterscheidet sich dann Wahrheit von Wahnsinn? Ist sie nicht jene Verzerrung von Wirklichkeit, die wir zu Recht verrückt nennen? Doch. Der Glaube an die Wahrheit Gottes ist eine Verrücktheit. Der «Gerechte, der aus Glauben leben wird» (Paulus) und der Selige, «der nicht sieht und doch glaubt» (Johannes), sind Verrückte: Wirklichkeitsfern und Gott ganz nah. Ganz anders die Theologie. Ihre Aussagen mögen wirklichkeitsnah, nachvollziehbar und bestenfalls aufrichtig sein. Aber niemals wahr. Das zu wissen und zu behaupten ist die vielleicht wichtigste Aufgabe der Theologie im Gegenüber zu all jenen, die wirklich meinen, die Wahrheit zu sagen.
von Frank Mathwig
Wahrhaftigkeit ist lebenspraktisch unverzichtbar, etwa bei der Frage einer ortsfremden Person nach dem Weg zum Bahnhof. Als wahr gilt eine Antwort genau dann, wenn sie die Person tatsächlich zum gewünschten Ziel führt. Entsprechend hat Thomas von Aquin von der Wahrheit als «adaequatio intellectus et rei» gesprochen: Wahrheit besteht in der Übereinstimmung von Erkenntnis (Routenbeschreibung) und Sache (Weg zum Bahnhof). Daran erinnert der englische Ausdruck «verdict» (Gerichtsurteil), ein Kompositum aus den lateinischen Wörtern verus = wahr, wirklich, echt und dictum = Wort, Spruch, Äusserung. Wenn die ortsfremde Person trotz Befolgung der Hinweise den Bahnhof nicht findet, hat sich die gefragte Person bei ihrer Wegbeschreibung entweder geirrt oder gelogen. Im ersten Fall entpuppt sich die Überzeugung (vom richtigen Weg) als falsches Wissen, im zweiten Fall die Auskunft (über den Weg) als unwahre Aussage.
Wahrheit steht einerseits der erkenntnistheoretischen Selbsttäuschung (Irrtum) und andererseits der moralischen Fremdtäuschung (Lüge) gegenüber. Während die Lüge das Wissen der Wahrheit voraussetzt, ist sie dem Irrtum unbekannt. Die Entlarvung einer Lüge schafft – im Gegensatz zur Aufdeckung eines Irrtums – keine neuen Tatsachen. Dort, wo die Wahrheit wehtut, oder Leib und Leben bedroht, wird sie bereits in der Bibel zur Abwägungsfrage. So überleben Abraham und Sara ihren Aufenthalt in Ägypten (Gen 12), die männlichen Neugeborenen den Tötungsbefehl des Pharaos (Ex 1) und vermutlich auch Petrus die Gefangennahme Jesu (Mk 14) durch eine Notlüge. Unhaltbar wurde die Lüge als Schutzschild der Ohnmächtigen vor der Gewalt der Herrschenden erst für die Kantische Prinzipienlehre, die ein «vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen» kategorisch zurückweist. Aber was aus der universalistischen Perspektive des Rechts unmöglich ist, kann aus der Perspektive der Gerechtigkeit situativ gefordert sein.
Die ursprünglich philosophische Kompetenz der Wahrheitserkenntnis folgt dem Motto von Ingeborg Bachmanns Dankesrede «Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar» über die Aufgabe des Schriftstellers. Sie könne nicht darin bestehen, «den Schmerz zu leugnen, seine Spuren zu verwischen, über ihn hinwegzutäuschen. Er muss ihn, im Gegenteil, wahrhaben und noch einmal, damit wir sehen können, wahrmachen. Denn wir wollen alle sehend werden.» (dies., Werke, Bd. 4, München 1978, 275) Darin scheint das vorneuzeitliche Verständnis von Wahrheit auf als das Verbunden- und Hingeordnet-Sein auf ein höchstes Seiendes, das nicht gewusst, sondern nur als sich selbst Offenbarendes entdeckt werden kann. Wahrheit ist Schau des Unveränderlichen und Ewigen. Gegenüber der Verbundenheit der Person mit etwas ausserhalb ihrer selbst setzen moderne Wahrheitskonzepte auf das Wissen als intellektuelle Tätigkeit der Person selbst.
Das entstehende Christentum – besonders in Gestalt des paulinischen und johanneischen Wahrheitsverständnisses – präsentiert im Kern eine Postfaktizität eigener Art. Die christologisch-eschatologischen Aussagen über Christus als die Wahrheit der Weg und das Leben (Joh 14,6), der die Menschen freimacht (Joh 8,32), läuten schon damals eine posttruth era ein. Auch sie konfrontieren mit einer Wahrheit, die vertraute Erwartungen nicht bestätigt, sondern irritiert. Gegenüber der aktuellen Inflation alternativer Fakten geht es aber nicht um Informationen über die Welt, sondern um ihre Öffnung und Erweiterung im Modus der Zusage und Verheissung: «Euch ist heute der Heiland geboren» (Lk 2,11) und «Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen» (Offb 21,4). Die Wirklichkeit wird nicht anders wahrgenommen und gedeutet, sie gibt sich als eine andere zu erkennen. Christliche Wahrheit verfügt über kein besonderes Tatsachenwissen, sondern besteht in der von Gott im Glauben gestifteten Beziehung. Tatsachenbehauptungen können objektiv von aussen auf Wahrheit und Falschheit hin geprüft werden. Beziehungen werden dagegen erlebt, und was diese Verbindung aus den Beteiligten macht, bleibt Aussenstehenden verborgen. Treue, Vertrauen und Hoffnung sind nicht das Resultat von Denkoperation, sondern einer Lebensform, die paradoxerweise genau so authentisch ist, wie sie aussenbestimmt wird. Und worauf sich Christ:innen dabei verlassen ist genau das, wozu sie «Amen» sagen.
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