Ein Blog zur EKS-Tagung mit der Frauen- und Genderkonferenz am 27. Mai 2024
Im Vorfeld der EKS-Synode packte die gemeinsame Tagung der EKS und der Frauen- und Genderkonferenz ein heisses Eisen an: Die Missbrauchsstudie der EKD hat nicht nur in Deutschland einiges ins Rollen gebracht. Es drängt sich die Frage auf, was die Ergebnisse für die Schweiz bedeuten. Trotz des belastenden Themas war es eine Tagung mit erstaunlicher Klarheit und positiver Stimmung. Der Wille anzupacken ist da, nur wie? Eine eigene nationale Studie soll für die Reformierten Licht ins Dunkel bringen (Dunkelfeldstudie) und das Ausmass von Missbrauch erheben.
Ratsmitglied Ruth Pfister betonte in ihrem Grusswort an die Frauen- und Genderkonferenz, die dieses Mal in Kooperation mit dem Kompetenzzentrum für Theologie und Ethik stattfand, wie wichtig diese Gelegenheit für Diskussionen und Austausch sei. Seit dem Erscheinen der katholischen Pilotstudie im September 2023 sind ihr viele Fälle zugetragen worden, sie ist mit Fachleuten ins Gespräch gekommen. Sie gibt zu, dass um den Umgang mit Missbrauch ein Ringen entstanden ist. Doch wenn dieser Diskurs offenen und konstruktiv geführt wird, spalte er nicht, sondern bringt voran. «Nur so können wir etwas in der Prävention tun.»
Denn es kann nicht nur darum gehen, Fälle zu erfassen und angemessen, d.h. unter Beteiligung der Betroffenen, aufzuarbeiten (von einer Entschuldigung, Verurteilung und allenfalls Reparation noch ganz zu schweigen). Vielmehr will es sich die EKS zur Aufgabe machen, missbrauchsbegünstigende Strukturen zu verstehen und zu beseitigen.
Doch first things first: Was steht drin in der Studie der EKD (Veröffentlichung Januar 2024)? Sabine Scheuter, Präsidentin des Ausschusses der Frauen- und Genderkonferenz, hat sich durch grosse Teile des 800 Seiten gewichtigen Dokuments durchgearbeitet. In der Zürcher Landeskirche ist sie Ansprechperson für Betroffene von Grenzverletzungen und sexualisierter Gewalt. Die bis vor kurzem gängigen Abwehrfiguren - bei den Reformierten ist es anders als bei den Katholiken, die Fälle liegen in der Vergangenheit, in anderen gesellschaftlichen Bereichen gibt es auch Missbrauch - entlarvte die EKD-Studie als falsch. Und selbst wenn: «Die Tatsache, dass sexualisierte Gewalt auch in Sportvereinen und am allermeisten innerhalb von Familien vorkommt, kann nicht ein Argument dafür sein, dass wir nicht alles dafür tun sollen, um a) uns selbstkritisch unserer eigenen Vergangenheit zuzuwenden, und b) unsere Kirchen heute zu einem möglichst sicheren Ort zu machen», so die Referentin.
Und dieser Weg wird steinig. Der Umgang mit den Betroffenen steht in Scheuters Augen noch ganz am Anfang. Sie drückte sich deutlich aus: «Betroffene wurden nie explizit eingeladen, sich zu melden! Es ist auch nicht wirklich klar, was sie bei einer Meldung zu erwarten haben.» Laut der EKD-Studie wünschen sich diese offene Ohren und ernstgenommen zu werden. Sie wollen ihre Geschichte erzählen und Anerkennung (wobei offenbleibt, wie diese aussehen kann). Noch schwieriger wird es bei den Begriffen Entschuldigung und Erinnerung. Sie darf nicht billig sein, juristisch korrekt. Nicht zuletzt möchten die Betroffenen, dass es Konsequenzen für Beschuldigte und Systeme gibt und Information zum Verfahren.
Die Wahrnehmung der Kirche als sicher und progressiv verhindert oft das Erkennen von Missbrauch. Und oft versteckt er sich hinter Konzepten wie göttlicher Liebe und christlicher Opfer-Symbolik. Privates und Berufliches zu trennen ist in den Kirchen schwierig, ein Vertrauensverhältnis zwischen Pfarrperson und Gemeindemitgliedern ist ja auch erwünscht, dennoch: «Die Klarheit für Verantwortungen für die Beziehungen im Kontext „Kirche“ muss gestärkt werden.» Scheuter machte mit ihrer Bestandsaufnahme aber auch Mut: denn vieles in der Ausbildung, Prävention und bei den Meldestellen läuft schon sehr gut und etabliert sich. Angesichts des Bergs an Arbeit, der noch auf die Kirchen wartet, und der Erkenntnis, dass man nicht weitermachen darf, wie zuvor, mahnte die Referentin dennoch zur Besonnenheit: «Studieren, prüfen, diskutieren. Ernst nehmen und weise vorgehen.»
Und dazu muss man wissen, mit wem man es zu tun hat. Pointiert nahm dafür Marie-Claude Ischer, die ehemalige Präsidentin der EERV und der Untersuchungskommission Causa Locher, die Mechanismen menschlicher Allmacht in der Kirche auseinander. Hinter dem etwas sperrigen Titel zeigte sie, welchen Schaden übergriffige Menschen anrichten können. Dies gilt auf spiritueller, sozialer und körperlicher Ebene. Stück für Stück nehmen diese Täterinnen und Täter Einfluss auf andere, manipulieren, verschieben Grenzen, scharen als charismatischer Persönlichkeiten Bewunderinnen und Bewunderer um sich, lassen keine Meinungsvielfalt mehr zu, machen sich zum Mass der Dinge. Das ist nicht nur ein Beziehungs- sondern auch ein systemisches Problem. «Wir müssen über unser synodales System nachdenken. Viele haben mehrere Hüte auf und konzentrieren so viele Funktionen auf sich», so Ischer. Kirchen haben es hier besonders schwer, diesem destruktiven Verhalten entgegenzutreten. Denn man strebt nach einer Kultur der Toleranz und «des Schweigens über das Böse». «Häufig fühlen sich diese Kirchen hilflos, verunsichert, wissen nicht, was sie tun sollen, oder glauben zu tun, obwohl sie nicht viel tun.» Es helfe, eine Gruppe von Menschen zu versammeln, die der Gewalt in der Kirche keinen Raum geben und handeln wollen. Opfer und Zeugen müssen begleitet werden. Ausserdem ist eine Hilfe durch Dritte ratsam. Zudem sprach sich Ischer für Präventionsmassnahmen und Gebet aus.
Nach dieser Innenschau regte das Referat der SP-Nationalrätin und feministischen Autorin Anna Rosenwasser die rund 80 Tagungsteilnehmenden an, den Blick zu weiten: Grenzverletzungen sind ein gesamtgesellschaftliches Problem. Rosenwasser zitierte aktuelle Umfragen: Nur zehn Prozent der Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, melden diese bei der Polizei. Die meisten meiden die Anzeige aus Scham, fürchten, dass sie chancenlos wären oder ihnen nicht geglaubt werde. Ausserdem beweist die Forschung, dass Betroffene hier auch retraumatisiert werden. Immer noch wird nach der Kleidung der Betroffenen gefragt und ob sie es nicht auch gewollt oder mindestens provoziert hätten. Das «victim blaming» ist nach wie vor präsent. «Momentan liegt zu viel Verantwortung auf den Schultern der Betroffenen», konstatierte die Politikerin. «Der Diskurs, was sexualisierter Gewalt ist, fehlt in unserer Gesellschaft komplett.» Zudem: Sexualität ist immer noch stigmatisiert, in der Sphäre des Privaten, im sündhaften Bereich. Rosenwasser ist der Meinung, dass hier auch die Kirche eine Mitschuld trägt. Es braucht also Aufklärung und offene sichere Räume, um sich über Sexualität vorurteilsfrei und ohne Rollenklischees auszutauschen und über Vorfälle, die die Grenze überschritten haben. Die Kirche muss Opfern zur Seite stehen, ihr Personal sensibilisieren und Weiterbildungen anbieten. Gerade weil Menschen ihr viel Vertrauen entgegenbringen. «Die Kirche muss sich bewegen, sie betrifft das in besonderer Pflicht, auch historisch gesehen.» Die Aufarbeitung und Prävention braucht einen langen Atem, rief Rosenwasser den Teilnehmenden in Erinnerung. Doch dieser «Kampf aus Liebe» lohnt sich.
Und eine «Waffe» in diesem Kampf gegen Grenzverletzungen könnte die angestrebte Dunkelfeldstudie der EKS werden (2025-2027), die Studienleiter Anastas Odermatt von der Uni Luzern an der Tagung kurz vorstellte. Sie vereint zwei zentrale Anliegen: Eine Bestandsaufnahme, die das Ausmass, die Form, Bedingungen und Konsequenzen von Missbrauch in der ev.-ref. Kirche aufzeigen soll. Und ein Forum schaffen, in dem Betroffene gehört und ernstgenommen werden. So will die EKS missbrauchsbegünstigende Strukturen in der Kirche besser verstehen und Präventionsmassnahmen ableiten. Die Studie soll nicht nur von Forschenden und Fachpersonen, sondern auch von einem Beteiligtenrat begleitet werden. Die Synode der EKS befindet am 10. Juni über diese Studie - Ausgang offen.
Für die Betroffenen liegt es klar auf der Hand, dass die Kirche jetzt handeln muss. An der Tagung gehörte deshalb zwei Selbsthilfegruppen das letzte Wort: SAPEC, die in der Westschweiz stark vertreten ist, und die etwas jüngere Interessengemeinschaft MikU. Beide kämpfen für die Anerkennung der Opfer und die Aufklärung der tatförderlichen Strukturen, das Recht auf Wiedergutmachung, Konsequenzen für Täterinnen und Täter sowie griffige Schutzmassnahmen und Prävention. Sie sind im Dialog mit kirchlichen Behörden, Justiz und Anlaufstellen. Sich verstecken oder das Thema kleinreden, geht aus ihrer Sicht nach den zahlreichen Aufdeckungen in Kirchen und Gesellschaft nicht mehr. SAPEC-Vertreterin Gabriella Loser Friedli brachte es auf den Punkt: «Alles, was Kirchen wissen müssen, liegt nun auf dem Tisch, jetzt müssen sie handeln.»
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