Zwei Schiffshavarien gingen in den letzten Tagen viral, das Hightech U-Boot «Titan» mit fünf Besatzungsmitgliedern und ein rostiger Seelenverkäufer mit 700 Flüchtlingen auf dem Mittelmeer. Fünf gegen 500 Tote oder fünf Milliardär:innen gegen 500 Migrant:innen. Ironischerweise hatten alle Passagiere viel Geld hingeblättert, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Daran arbeiten sich die aktuellen Diskussionen ab. Der Konflikt liegt auf der Hand: Die einen investierten in ein Risiko, um die Gefahren der Seefahrt aus der Nähe zu beobachten, die anderen, um realen Lebensgefahren an Land zu entkommen.
No risk, no fun versus no risk, no life. Wer sich mutwillig und ohne Grund in Gefahr begibt, riskiert darin umzukommen, mahnt die Alltagsmoral. Allerdings operiert die Faustregel mit der zweifelhaften Prämisse, dass die Konsequenzen einer Gefahrensituation von den Gründen abhängen, aus denen sie eingegangen wird. Übermut pokert nach dieser Logik höher, als Not oder Verzweiflung. Das ist die Moral aus der Märchenwelt, die einen gerechten Tun-Ergehen-Zusammenhang unterstellt, dem alle realen Erfahrungen spotten. Die aktuellen Beispiele stellen unsere moralischen Intuitionen auf den Kopf. Denn anstelle der erwarteten Hilfe von Menschen, die besser gestellt sind, für Menschen, die es schlechter haben, zeigte sich, dass weit weniger Wohlhabende alles daransetzten, die superreiche U-Bootbesatzung zu retten. Dagegen taten die Behörden der wohlhabend(er)en europäischen Staaten nichts, um den ungleich schlechter gestellten Bootsflüchtlingen zu helfen.
Die Realität rückt unsere vermeintlichen moralischen Intuitionen in ein schiefes Licht. Bestritten wird nicht, dass es diese gibt, sondern dass wir ihnen tatsächlich folgen. Wir können uns natürlich darüber empören, aber Empörung ist kein Schwimmring, der einen Menschen vor dem Ertrinken rettet. Realistischer erscheint deshalb ein anderer Zugang: Aus sicherheits- und risikotheoretischer Perspektive handelten beide Bootsbesatzungen leichtsinnig. Leichtsinn hat einen schlechten Ruf und zielt darauf, die Ansprüche auf die Hilfe Dritter moralisch abzusenken oder abzuwehren. Das moralische Urteil über den Leichtsinn adressiert einerseits eine Warnung an die Leichtsinnigen («rechne nicht mit unserer Hilfe») und entlastet andererseits alle anderen von moralischen Verpflichtungen («selbst schuld»). Jede und jeder sind nicht nur «Schmied ihres eigenen Glücks», sondern auch ihres eigenen Unglücks. Leichtsinn erklärt das Schicksal zu einem persönlich zurechenbaren und deshalb selbst zu verantwortenden Missgeschick.
Allerdings erfolgt die moralische Diskreditierung des Leichtsinns erst im Nachhinein, erstens, weil «wer nichts wagt, der nichts gewinnt» und zweitens, weil sich die Dicke und Tragfähigkeit des «dünnen Eises» häufig erst im hinterher zeigt. Hält das Eis, gilt die leichtsinnige Person in der Regel als mutig und vorbildhaft. Leichtsinn wird typischerweise von denjenigen angeprangert, die auf sicherem Boden ihre eigene Moral vor dem Absaufen schützen wollen. Freilich kann sich die erstrebenswerten Gegenhaltungen der Vorsicht und Besonnenheit – realistisch betrachtet – nur ein kleinerer Teil der Menschheit leisten. Der Standort in der Welt entscheidet darüber, ob Leichtsinn zur Überlebensfrage (Mut der Verzweiflung) oder zum fahrlässigen Übermut (der Esel auf dem Glatteis) wird, und taugt deshalb nicht als universales Kriterium.
Auch die Unterscheidung zwischen einem Tod aus Übermut und einem Tod aus Kalkül führt nicht weiter. Erstens nützt sie den Ertrunkenen nicht und zweitens liefern die Motive und Gründe, aus denen eine Person in Seenot geraten ist, keine Begründung dafür, ob sie eine Rettung verdient hätte oder nicht. Die Gründe, warum wir gegenüber gefährdeten Leben eine Verpflichtung haben, bestehen völlig unabhängig von den Gründen und Ursachen, die eine Person in Lebensgefahr gebracht haben. Wir wünschen uns vielleicht, dass ein solcher entlastender Zusammenhang hergestellt werden könnte, aber wir wünschen uns keine Gesellschaft, in der diese Entlastung tatsächlich funktionieren würde, weil wir nicht wissen können, ob wir bei einer eigenen zukünftigen Lebenshavarie einmal auf ihre Hilfe angewiesen sein werden.
Die Pflicht, einer Person in Lebensgefahr beizustehen und zu retten, folgt nicht aus irgendeinem Merkmal der gefährdeten Person, sondern vollständig aus der lebensgefährlichen Situation, in die jemand gerät.
Die aktuelle Diskussion über die beiden Schiffsunglücke lenkt von einer simplen Tatsache ab: Jede und jeder von uns, die oder der auf einem der beiden Boote gewesen wäre, hätte gerettet werden wollen. Dazu braucht es keine artifiziellen oder akademischen Argumente. Das Menschenrecht auf Leben gilt für jede Person und wir sollten jeder Person in Lebensgefahr prima facie unterstellen, dass sie leben und gerettet werden will. So kämpft die Notfallmedizin mit gleichem Einsatz um das Leben der Person, die wegen überhöhter Geschwindigkeit verunfallt ist, wie um das Leben der Passantin, die unschuldig in den Unfall verwickelt wurde. Wenn das Leben einer Person in Gefahr ist, werden alle Unterscheidungen im Blick auf die Person (Opfer – Täter:in; übermütig – verzweifelt) hinfällig. Die Pflicht, einer Person in Lebensgefahr beizustehen und zu retten, folgt nicht aus irgendeinem Merkmal der gefährdeten Person, sondern vollständig aus der lebensgefährlichen Situation, in die jemand gerät. Es geht um eine Gefährdung des kollektiven Lebens, das das Leben jeder Person einschliesst, und nicht um das individuelle Leben dieser oder jener Person. Diese Pflicht besteht neben und unabhängig von den persönlichen Beziehungen, die Menschen dazu veranlassen, sich für ihre Nächsten in besonderer Weise einzusetzen.
Wenn wir diese universale Pflicht zur Lebensrettung anerkennen, bildeten die aufwändigen Rettungsversuche für die U-Boot-Besatzung den Normalfall im Blick auf eine bestehende Verpflichtung. Das Verhalten gegenüber den Bootflüchtlingen stellt dagegen eine massive Pflichtverletzung dar. So unbestreitbar diese Beobachtung zutrifft, so unklar ist, warum die Aufmerksamkeit für unsere Pflichten so ungleich verteilt ist. Eine psychologische Erklärung lautet, dass wir uns selbst zwar als Touristen in dem U-Boot, aber nicht als Passagiere auf dem Flüchtlingsschiff vorstellen können. Das wäre allerdings ein alarmierendes Armutszeugnis, denn die menschliche Zukunftsfähigkeit hängt wesentlich davon ab, Herausforderungen zu antizipieren, die wir nicht kennen und die unseren vergangenen und gegenwärtigen Leben vollständig fremd sind.
Ein weiterer Beitrag von Frank zum Thema: https://united4rescue.org/site/assets/files/2801/u4r-frank-mathwig-kirchenschiffe.pdf
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