«Too big to fail»

10 Fragen – 10 Antworten der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz

Die gegenwärtige Bankenkrise besorgt viele Menschen und beschäftigt auch die Zivilgesellschaft. Die Kirchen orientieren sich dabei an dem Grundsatz des grossen Zürcher Wirtschaftsethikers Arthur Rich: “Es kann nicht wirklich menschengerecht sein, was nicht sachgemäss ist, und es kann nicht sachgemäss sein, was dem Menschengerechten widerspricht.” Der SEK, Vorläufer der heutigen EKS, hat unter diesem Eindruck 2010 eine umfangreiche Studie «Gerechtes Handeln» vorgelegt, die breit diskutiert worden ist1. Manches hat sich seither verändert: Das schweizerische Bankgeheimnis ist gefallen, die UBS konnte dank staatlicher Hilfe gerettet und die Staatspleite Griechenlands abgewendet werden, Regelungen zur Eigenkapital- und Liquiditätsquote für Banken wurden eingeführt. Nach dem Zusammenbruch der Credit Suisse ist offensichtlich, dass die bestehenden Regulierungen einen Bankencrash nicht verhindern können. Die «Too big to fail»-Regelungen, mittels derer die Stabilisierung, Sanierung oder Liquidation systemrelevanter Institute, die unsere Volkswirtschaft gefährden können, funktionieren im Krisenfall nicht. Empörung und Regelungen haben angesichts komplexer Zusammenhänge und Abhängigkeiten eine kurze Halbwertszeit.  

Wir brauchen grundsätzlichere Überlegungen, die mittel- und langfristiges Handeln zivilgesellschaftlicher und politischer Akteure orientieren können.  

Dafür bieten die theologischen Überlegungen und die ethisch reflektierten Lösungsansätze der Studie von 2010 weiterhin eine gute Basis. Politisch wurde das Reflexionsniveau der dort angebotenen Lösungsansätze nicht eingeholt. Die systematische Auseinandersetzung mit der Thematik jenseits empörter, moralisierender Drohgebärden ist auch in diesen Tagen von Nöten. Die nun vorliegenden 10 Fragen – 10 Antworten verstehen sich als aktuelle Adaption dieser Studie auf die aktuellen Fragen und sind in der Hoffnung verfasst, dass die viel umfassendere Studie dadurch die Beachtung finden möge, die sie nach wie vor verdient. 

Hella Hoppe/Otto Schäfer: Gerechtes Haushalten und faires Spiel. Studie zu den jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrisen aus evangelischer Sicht, hg.v. Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund SEK, Bern 2010. 

Frage 1: Wer ist schuld an der Bankenkrise?

Die Credit Suisse hatte alle Kapital- und Liquiditätsanforderungen eingehalten, die nach dem letzten Bankencrash 2008 aufgestellt worden waren. An ihren Notfallplänen hatte die Finma nichts auszusetzen und hat den Kollaps nicht antizipiert. Aber die CS war machtlos gegen den Strudel des Bank-Run, bei dem grosse Anteile der Kundengelder rasch abgezogen wurden. Ihr Ende besiegelte die medienwirksame Entscheidung der Saudi National Bank, kein weiteres Geld in die Credit Suisse zu investieren. Es gibt nicht einen bestimmten Schuldigen. Der Zusammenbruch der Credit Suisse ist multikausal. Aber schon seit Jahren hat das Management der Credit Suisse mit Skandalen und Fehlinvestitionen das Vertrauen der Anlegerinnen und Anleger verspielt. Banken und die Wirtschaft allgemein sind auf eine Ressource angewiesen, die sie selbst nicht hervorbringen können: das Vertrauen der Menschen, die Verträge schliessen, Handel treiben, ihr Geld anlegen und in Unternehmen investieren.  

Nachhaltiger wirtschaftlicher Erfolg hängt weniger ab von den Versprechen, die ein Unternehmen macht, als von dem Vertrauen der Akteurinnen und Akteure darauf, wie ein Unternehmen diese Versprechen einlöst.  

Je höher die Risken sind, die für einen Erfolg eingegangen werden, desto wichtiger ist das Vertrauen, nicht dass der Erfolg eintrifft, sondern dass die Risiken sorgfältig und verantwortungsbewusst kalkuliert werden. Erwartungssicherheit geht vor  Erfüllungssicherheit. 

Frage 2: Warum rettet der Staat eine Bank?

Die Credit Suisse war eine international tätige Bank. Deshalb hätte ihr Konkurs auch andere Finanzplätze, besonders denjenigen der USA, in Mitleidenschaft gezogen. Der internationale Druck auf die Politik war hoch. Gleichzeitig verfolgte die schweizerische Politik auch eigene Interessen.  

Das Ansehen des Bankenplatzes Schweiz, das Vertrauen in den schweizerischen Finanzmarkt und viele Tausende Arbeitsplätze standen auf dem Spiel. Nicht der Ausgang eines Spiels, sondern das Spielfeld selbst war in Gefahr.  

Die Finanz- und Wirtschaftskrisen der jüngeren Vergangenheit waren systemische Vertrauenskrisen. Vertrauen bedeutet, sich auf eine Beziehung oder ein Geschäft einzulassen, ohne alle Umstände zu kennen bzw. kennen zu können. Soziales Zusammenleben und ökonomisches Handeln gelingen umso besser, je stabiler die gemeinsam geteilte Vertrauensbasis ist. Vertrauen kann nicht gemacht werden, sondern entsteht durch die wechselseitige Praxis, in der solche Vertrauenserfahrungen gemacht, bestätigt werden und sich bewähren. Enttäuschungen führen zum Vertrauensbruch und beschädigen die gesellschaftlichen Grundlagen für ein gelingendes Zusammenleben und erfolgreiches Zusammenhandeln. Der Staat wollte mit der Bankenrettung dem Vertrauensverlust in den Wirtschaftsstandort Schweiz entgegenwirken. 

Frage 3: Müssen Banken strenger reguliert werden?

Kontroll- und Regulierungsfragen sind typische Krisenthemen. Krisen machen Probleme greifbar, verzerren aber zugleich ihre Wahrnehmung. Als Evangelisch-reformierte Kirche kennen wir beides: Die apokalyptisch-weltflüchtigen Phantasien, die Krisen auslösen können und die Versuchung vorschnell moralisch vereinfachte Lösungen zu präsentieren.  

An sich sind Insolvenzen ein normaler Vorgang der marktwirtschaftlichen Selbstreinigung. Die Möglichkeit des Scheiterns macht wesentlich die Attraktivität des Erfolgs und Nichtscheiterns aus. Von diesem Spiel profitiert die Schweiz in besonderem Masse – obwohl in sehr ungleicher Weise – durch alle sozioökonomischen Schichten hindurch. Der Wohlstand eines Landes bemisst sich nicht zuletzt an seinen Möglichkeiten, erfolgreich Risiken eingehen zu können. Die aktuelle Diskussion über restriktivere rechtliche Regelungen darf nicht darauf hinauslaufen, die Marktmechanismen im Bankensektor ausser Kraft zu setzen. Weil Vertrauen nicht staatlich erzwingbar ist, können die unverzichtbaren Existenzbedingungen für eine Bank nicht gesetzlich garantiert werden. Das Recht kann lediglich grob fahrlässiges Verhalten und strafwürdige Vertrauensbrüche sanktionieren.   

Staatliche Regulierungen müssen die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass eine Bankeninsolvenz ohne inakzeptable volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Schäden möglich ist.  

Frage 4: Sind spekulative Risiken eine Frage der Moral? 

Grundsätzlich ist Risikospekulation nicht verwerflich. Das Spiel mit dem Risiko gehört zum Geschäft und bildet einen wichtigen Aspekt erfolgreichen Wirtschaftens. «Too big to fail» zeigt aber, dass Banken gar nicht für die Risiken, die sie eingehen, haften können. Im Fall sehr grosser Banken muss der Staat für den Schaden aufkommen. Das ethische Problem besteht nicht in den Risiken selbst. Weil jedes Handeln in die Zukunft geht, ist es notwendig riskant. Moralisch fragwürdig sind aber Risiken, die weder seriös überblickt und abgewogen noch deren Konsequenzen tatsächlich getragen werden können. Unkalkulierbare Risiken konfrontieren die Gesellschaft mit einer unakzeptablen Situation: Entweder ist die Gesellschaft insgesamt gefährdet oder sie wird genötigt, für die Schäden zu haften, die der rechtlichen Verpflichtung und der demokratischen Legitimation entbehren.  

Ungerecht ist das prekäre Ungleichgewicht: Die Anleger:innen profitieren von Risiken, für die sie im Schadensfall nicht aufkommen.  

Umgekehrt müssen Menschen für Risiken geradestehen, aus denen sie nie einen Vorteil zu erwarten hatten. Von den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen eines solchen Schadens sind in einem globalen Markt völlig Unbeteiligte ohne ihr Zutun oder ihre Mitbestimmung betroffen. Existenzielle Konsequenzen hat das besonders für Personen und Gruppen in prekären sozio-ökonomischen Lebenslagen, die über keine Möglichkeiten verfügen, die gesamtgesellschaftlichen und makroökonomischen Folgen zu verkraften oder auszugleichen. Die politische Frage lautet, ob der Staat für Banken und Wirtschaftsunternehmen haften sollte, wie für grosse systemrelevante Technologien, etwa Atomkraftwerke. Nicht durch Notrecht, sondern gesetzlich dazu verpflichtet. Dann aber müssten die systemrelevanten Banken einer ähnlich rigiden staatlichen und internationalen Kontrolle unterstellt werden, wie Atomkraftwerke. 

Frage 5: Wofür tragen Banken Verantwortung? 

Die Wertschöpfung der Finanzbranche in 2020 belief sich auf rund 68 Milliarden Franken und die Zahl der Beschäftigten in Vollzeitäquivalenten auf rund 208'800. Gemeinsam mit den Versicherungen erwirtschafteten sie im gleichen Jahr ca. 10 % des Bruttoinlandprodukts. Aufgrund ihrer wirtschaftlichen Bedeutung tragen Banken eine grosse gesellschaftliche Verantwortung. Sie besteht erstens gegenüber Kundinnen und Kunden, Anlegerinnen und Anlegern. Banken kommen ihren Sorgfaltspflichten nach, indem sie transparent über die Finanzprodukte informieren und nach bestem Wissen im Interesse der Kundschaft beraten.  Der Verwaltungsrat verantwortet die Unternehmensstrategien vor den Aktionärinnen und Aktionären. Zweitens tragen sie Verantwortung für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, denen sie faire Arbeitsbedingungen gewähren. Beide Bereiche sind gesetzlich geregelt, in internen Verhaltenskodizes festgeschrieben und werden als eigene Unternehmenskultur praktiziert. Drittens besteht eine nicht nur ökonomische, sondern auch politische Verantwortung gegenüber den nationalen und internationalen Finanzmärkten. Grundsätzlich sind alle Akteurinnen und Akteure in ihrem Entscheiden und Handeln verantwortlich gegenüber den Institutionen, Gruppen und Personen, die von diesem Handeln betroffen sind oder betroffen werden können.  

Durch ihre Unternehmenskultur gestalten Banken den gesellschaftlichen Zusammenhalt mit.  

Sie sind auf Voraussetzungen angewiesen, die weder der Markt noch ihre Geschäftstätigkeit selbst erzeugen können. Wesentliche Faktoren sind der soziale Frieden und Zusammenhalt, die Umgangs- und Informationskultur und der politische Partizipationswille. Sie sollten nicht durch selbstimmunisierende Hierarchien, unkontrollierbare Informationsgefälle oder exzessive Spitzenlöhne und Bonuszahlungen gefährdet werden. 

Frage 6: Wann verdient jemand zu viel? 

Einkommensunterschiede sind prinzipiell ungerecht, wenn Menschen für die gleiche Leistung unterschiedlich entlöhnt werden. Aus einer globalen Perspektive müssen menschenrechtliche und humanitäre Mindeststandards angestrebt werden. Die Forderungen nach Lohngerechtigkeit und Chancengleichheit stellen sich dagegen konkret innerhalb einer Volkswirtschaft. Einkommen und Eigentum sind historisch und sachlich untrennbar mit den persönlichen Freiheitsrechten verbunden. Weil die Freiheitsrechte bedingungslos jeder Person zukommen, sind der Erwerb und die Verwendung von Eigentum und Einkommen nicht willkürlich, sondern unterliegen allgemeinen Regeln. Wenn Banken – wie 2008 die UBS und 2023 die Credit Suisse – die Sicherheiten für ihre Kundinnen und Kunden, Anlegerinnen und Anleger nicht selbst, sondern über Staatsgarantien – also durch Steuergelder der Bürgerinnen und Bürger – garantieren, darf die Lohnpolitik der Banken nicht von den berechtigten Interessen derjenigen abgekoppelt werden, die im Ernstfall die Sicherheitsleistungen erbringen müssen.  

Es braucht eine Diskussion über die relative Begrenzung der höchsten Vergütungen und die Grenzen der Lohnschere in staatlich gesicherten Unternehmen.  

In einer Studie zur Finanzkrise von 2008 hat der damalige Schweizerische Evangelische Kirchenbund ein Verhältnis von 1:40 zwischen Maximal- und Minimallohn vorgeschlagen.

Frage 7: Verpflichtet Reichtum und wenn ja, wozu? 

Noblesse oblige, oder: Wer reich ist, trägt auch Verantwortung, deshalb ist Reichtum steuer- und sozialpflichtig.

Die Gemeinschaft soll in einem gewissen Mass vom Wohlstand einzelner mitprofitieren können.

Der Staat fungiert als Umverteilungsgenerator und kompensiert damit die Ungleichheiten, die die kapitalistische Wirtschaft systemimmanent hervorbringt. Trotz aller Anstrengungen werden die allermeisten Tellerwäscherinnen niemals Millionärinnen. Die Wohlstandschancen sind national und erst recht global nicht nur völlig unterschiedlich, sondern häufig auch sehr ungerecht verteilt.  

Staatliche Umverteilung und Versicherungen dienen dazu, den sozialen Frieden unter den kapitalistischen Bedingungen zu gewährleisten. Das Staatsziel der sozialen Gerechtigkeit wirft die Frage auf, unter welchen Voraussetzungen jemand in welchem Umfang über das eigene Vermögen und seine Verwendung uneingeschränkt verfügen können soll. Besonders über Erbschaften werden in der Schweiz soziale Klassen geschaffen, deren Zugehörigkeit von der realen Lebensleistung eines Menschen entkoppelt ist. Darüber hinaus stellt sich die politische Frage, ob und welche Solidaritätsleistungen vom Staat als Rechtspflichten eingefordert werden sollen und welche Solidaritätsaufgaben als moralische Tugendpflichten auf das freiwillige Engagement der Bürgerinnen und Bürger angewiesen sind. 

Frage 8: Wie hält es die Bibel mit dem Reichtum? 

Biblische Weisheitsliteratur und biblische Geschichten zeugen davon, dass Reichtum vergänglich ist. Niemand soll sich etwas auf seinen Reichtum einbilden, sondern nach Gerechtigkeit streben. Allerdings stehen weder Armut noch Reichtum der Gerechtigkeit näher. Schalom ist der biblische Massstab für ein im umfassenden Sinn gutes Leben, das nicht vorwiegend vom ökonomischen Status abhängt. Entscheidend ist, dass Armut und Reichtum nicht gleichgültig nebeneinander, sondern in gegenseitiger Verantwortung füreinander bestehen.  

Die Bibel interessiert sich ausschliesslich dafür, was Armut und Reichtum aus einer Person machen und ob und wie beide die persönlichen und gemeinschaftlichen Lebenschancen beeinträchtigen.  

Es hängt also von den menschlichen Einstellungen und Haltungen ab und nicht von Armut und Reichtum an sich. Kritisch wendet sich der biblische Blick gegen eine einfache Verdienstlogik, die Armut und Reichtum zum Massstab für individuelle Leistung und persönlichen Verdienst erklärt. Nach biblischem Verständnis besteht der Skandal besteht nicht im Überfluss oder Reichtum, sondern im Mangel und in der Armut. Reichtum wird zum Problem, wenn er blind macht für die Armen oder zum Götzen wird. (Mt 6,21: «Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.») Armut wird zum Skandal, wenn sie bestehen bleibt, obwohl Menschen über Möglichkeiten verfügen, sie zu beseitigen. 

Frage 9: Was sagt die Bibel zu Geldanlagen? 

Die Menschen der Bibel kannten weder Marktwirtschaft und Sozialstaat noch globale Finanzmärkte und Investmentbanking. Reichtum war in der Regel eine Frage geerbter oder erkämpfter politischer und ökonomischer Macht. Entsprechend wurde Erfolg viel weniger ökonomisch gemessen. Armut und Reichtum waren kein Verteilungsproblem, sondern eine Frage wechselseitiger Aufmerksamkeit der Gemeinschaft. Prominent behandelt Paulus das Thema der Kollekte in den Gemeinden (vgl. Röm 15,25–28; 1Kor 16,1–4; 2Kor 8,1–5; Apg 11,29f.). Er fragt nicht, wem was zusteht, sondern umgekehrt was die Gemeinschaft fördert oder gefährdet.  Bezeichnenderweise behauptet der Apostel keine ethischen Pflichten. Die Kollekte für die armen Gemeinden ist im wahrsten Sinn des Wortes Liebestätigkeit (charis) und Gottesdienst.  

Eine gute Geldanlage ist eine, die die Lebensmöglichkeiten der Gemeinschaftsmitglieder fördert.  

Geteilt wird aus Verbundenheit mit der Gemeinschaft (griech. koinonia, ein Merkmal der Kirche) und nicht aus Prinzip. Der moderne Ausdruck dafür lautet Solidarität. Die Bibel bietet kein Anlageportfolio für Bankkund:innen, aber eine Perspektive und ein Metakriterium, um über Geldanlagen nachzudenken und die damit verfolgten Ziele und Absichten zu beurteilen.  

Frage 10: Was folgt aus der Bankenkrise? 

Die Bankenkrise reiht sich nahtlos ein in eine krisenhafte Gegenwart. Die Krisentrigger «Klima», «Pandemie», «Krieg», «Inflation» und «Banken» verweisen auf disparate Phänomene, gehören in unterschiedliche Gesellschaftsbereiche, aber werden von vielen Menschen in einer vergleichbar existenziellen Weise wahrgenommen. Krisen sind keine Tatsachen in der Welt, sondern Deutungen von der Welt. Die Aufmerksamkeit ist global sehr unterschiedlich verteilt. Vom Klimawandel und der Pandemie sind besonders die Menschen betroffen, für die Bankeninsolvenzen und der Ukrainekrieg weit weg sind. Umgekehrt erleben die Menschen in Europa den Krieg in der Nachbarschaft und die Bankenkrise viel unmittelbarer als Erderwärmung und die Bedrohung durch das Virus. Krisen sind aus biblischer und theologischer Sicht zugleich Folgen menschlicher Freiheit und Merkmale geschöpflicher Hybris. Je nachdem werden sie als Bewährungssituationen oder Grenzüberschreitungen in einer unerlösten Welt wahrgenommen. Eine richtige oder falsche Deutung gibt es nicht, weil auch unserem Verstehen der Makel des Vorläufigen anhaftet und unsere Deutungen genauso «Stückwerk» bleiben, wie unsere Lösungen und Prognosen (1Kor 13,9; vgl. Hi 38–42; Ps 104). Gleichwohl sind die Wahrnehmungen von Krisen und der Umgang damit nicht beliebig. Krisen führen uns die Ambivalenz und Mehrdeutigkeit von Welt vor Augen, die sich gegen eindeutige Antworten sträubt. Deshalb wäre es irrational, nach der einen vernünftigen Lösung zu suchen. Die Forderung nach Ambiguitätstoleranz richtet sich gegen eine naive moralische Vereindeutigung systemischer Probleme. Es gibt nicht das identifizierbare konkrete Handlungssubjekt, dem die Verantwortung zugeschrieben und die Schuld angelastet werden könnte.  

Die Personalisierung von Verantwortung hat lediglich symbolische Bedeutung. Sie spielt mit der Illusion, dass die Identifikation der Täter:innen die Tat aus der Welt schaffen würde.  Diesen Irrtum teilt die Klima- mit der Bankenkrise.  

Ein konstruktiver Umgang mit Krisen besteht dagegen darin, sie als Spiegel zu begreifen. Die Krise fordert uns auf, uns nicht wie Beobachter:innen und Opfer unerwünschter Ereignisse und Verhältnisse, sondern als Beteiligte und Akteur:innen zu verhalten.  

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2 Antworten

    1. Lieber Herr Worbs
      Die Kommentare erscheinen unter dem Blog, sobald wir sie freigeben. (Um Spam zu vermeiden.) Unter diesem sind Sie tatsächlich der einzige bisher. Aber manchmal lohnt sich ein Blick in die Kommentarspalte auf Facebook oder Instagram, dort ist je nach Thema ein etwas regerer Austausch.

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