«Die Wahrnehmungen der Opfer und derjenigen, die – wie direkt oder indirekt auch immer – Täter sein mögen, neigen dazu, sehr unterschiedlich auszufallen. Die Betroffenen erfahren weder die Tatsachen noch ihre Bedeutung auf dieselbe Weise wie blosse Beobachter oder diejenigen, die das Leiden hätten abwenden oder lindern können. Diese Menschen sind zu weit voneinander entfernt, um die Dinge auf dieselbe Weise zu sehen.»
Judith N. Shklar
«Tradition ist oftmals nichts anderes als ein Zeugnis des Schweigens.»
Judith N. Shklar
«Daher werden wir gerne sagen und dabei die Worte des Gebets auf den Kopf stellen, die Jesus nach dem Evangelium des Hl. Lukas an Gott richtet: Herr, vergib‘ ihnen nicht, denn sie wissen, was sie tun.»
Vladimir Jankélévitch
«Zu meinen, demokratische Einstellungen und Institutionen würden eine angemessene Antwort auf den Sinn für Ungerechtigkeit geben, wäre kindisch, ja nicht einmal einleuchtend. Mag sein, dass wir über die bestmöglichen Verfahren der Konsensbildung verfügen, das Reich der Ungerechtigkeit werden wir so nicht erobern.» Trifft das Urteil von Judith N. Shklar über liberal-demokratische Institutionen auch auf die Kirche, allen voran für ihre reformatorischen Ausprägungen als «Kirche der Freiheit» zu? Wie für die politische Ideenlehre gilt auch für die Ekklesiologie: Theorie und Praxis gehen schwer zusammen, entweder weil die Theorie die Realitäten verkennt, oder weil die Theorie die Praxis dazu verleitet, die Realitäten aus den Augen zu verlieren. Die jüdisch-amerikanische Politologin und Philosophin diagnostiziert einen Denkfehler, der gleichermassen im Liberalismus und in der nachreformatorischen Theologie begegnet: Beide betrachten Unrecht und Ungerechtigkeit als Abweichungen von rechtmässigen und gerechten Ordnungen und Verhältnissen, das heisst aus der Perspektive der Macht und der Mächtigen. Shklar geht umgekehrt von der Lebenswirklichkeit der Schwachen aus, und zeigt, dass das, was aus der Perspektive der Mächtigen als Betriebsunfall erscheint, für die Ohnmächtigen ihre unentrinnbare Wirklichkeit darstellt. Deshalb müsse der politische Liberalismus von den beiden gesellschaftlichen Grundeinheiten der Schwachen und Mächtigen ausgehen. Es brauche einen «Liberalismus der Furcht», der darauf zielt, «die Freiheit von Machtmissbrauch und der Einschüchterung Wehrloser [zu schützen]; denn genau dazu verführt der Unterschied zwischen den beiden Grundeinheiten. […] Der Liberalismus der Furcht […] betrachtet den Missbrauch öffentlicher Macht in allen Regimes mit gleichem Unbehagen.»
Shklars gesamte Philosophie kreist um die Spannung zwischen der politischen Idee des Liberalismus und der Realität von Unrecht und Ungerechtigkeit und bietet einen konzeptionellen Rahmen auch für die theologisch und kirchenpolitisch drängenden Frage, wie die Kirche – mit ihrem Selbstverständnis von christlicher Freiheit, Nächstenliebe und Solidarität mit den Armen, Schwachen und Schutzbedürftigen – zum Tatort unerträglicher Gewalt werden konnte. Analog zur philosophischen Analyse von der Diskrepanz zwischen liberalem Freiheits- und Beteiligungsversprechen einerseits und realpolitischer Gewalt andererseits, muss sich die Kirche fragen, wie der Aufmerksamkeitsfokus ihrer Verkündigung und ihres Selbstverständnisses mit der inzwischen offengelegten Gewalt in ihren Institutionen zusammengeht. Im Gegensatz zu der häufig bemängelten negativen Anthropologie der sündhaften geschöpflichen Existenz, fehlt ihr offensichtlich ein kritisches Bewusstsein für das Unrecht und die Ungerechtigkeit in den eigenen Institutionen. Es entsteht der Eindruck, als seien die wachsamen kirchlichen Augen für das Unrecht und die Ungerechtigkeiten in der Welt kaum auf die eigenen Verfehlungen und das eigene Versagen gerichtet. Der Befund wird bestätigt durch manche offizielle Reaktion auf die erschienenen Studien über sexualisierte Gewalt in den Kirchen, die den Eindruck erwecken, es handele sich um ein grosses Unglück, ähnlich einer Naturkatastrophe, und nicht um hausgemachte Gewaltzustände.
Judith N. Shklars Kategorie der «passiven Ungerechtigkeit» erlaubt eine theoretische Perspektive auf diese Widersprüchlichkeiten. «Passiv ungerecht zu sein bedeutet nicht, es an Nächstenliebe fehlen zu lassen. Sie verlangt mehr von uns. Der Heilige gewährt Hilfe, die über die menschlichen Regeln und selbst den Ruf der Pflicht hinausgeht; er steht höher als alles, was gerecht oder richtig genannt werden kann. Der passiv ungerechte Mensch wird nicht beschuldigt, nicht über die Grenzen der Pflicht hinausgegangen zu sein, sondern nicht erkannt zu haben, dass seine Rolle als Bürger mehr einschliesst, als die gewöhnliche Gerechtigkeit verlangt. Der gewöhnlich ungerechte Mensch ist schuldig, weil er Gesetz und Sitte missachtet, indem er sie aktiv verletzt, und auch weil er unfair handelt. Der passiv ungerechte Mensch jedoch tut etwas anderes; ihm ist es schlicht gleichgültig, was um ihn herum geschieht, insbesondere wenn er zum Augenzeugen von Betrug und Gewalt wird. Er versagt in seiner Eigenschaft als Bürger. Sein Versagen gründet nicht in einem Mangel an allgemein menschlicher Güte. Wenn er eine rechtswidrige Handlung oder ein Verbrechen sieht, schaut er einfach weg. Handelt es sich um einen Beamten im öffentlichen Dienst, ist sein Vergehen besonders schwerwiegend. Er ist ein Tyrann, der die Ungerechtigkeit dadurch entschuldigt, dass er sie übersieht, oder ein gleichgültiger Beamter, der nichts tut, um soziale Katastrophen zu mildern oder zu verhindern. Er ist es, der immer zuerst sagt, ‹das Leben ist ungerecht›, und die Opfer vergisst. […] Betrug und Gewalt zu verhindern, wenn wir es können, ist eine Handlung, die uns als Bürgern ansteht, und keine Handlung aus Humanität.» Passiv ungerecht sind wir nicht nur in spektakulären Fällen, sondern auch, «wenn wir unsere Augen vor kleinen alltäglichen Ungerechtigkeiten verschliessen, selbst wenn wir uns von solch harmlosen Motiven leiten lassen, wie kein Aufhebens machen zu wollen, nicht aufdringlich zu sein oder nicht den gegenwärtigen Frieden zu stören».
Shklars Bemerkungen beziehen sich auf den liberalen Staat, können aber auch als Sub- oder Gegentext zu Karl Barths «Christengemeinde und Bürgergemeinde» gelesen werden. Dann machen sich auf ein symptomatisches Adressierungsproblem aufmerksam. Die Theologie beschäftigt sich traditionell mit der christlichen Verantwortung in der Bürger:innengemeinde, interessiert sich aber nicht für die bürgerliche Verantwortung in der Christ:innengemeinde. Der christlichen Aufmerksamkeit in der Bürger:innengemeinde entspricht keine bürgerliche Perspektive auf die Christ:innengemeinde. Der Dualismus von Staat und Kirche verdeckt, dass nicht nur der Staat christliche Tugenden braucht, sondern umgekehrt die institutionalisierte Kirche auch auf bürgerliche Tugenden angewiesen ist. Die Philosophin arbeitet die bürgerlichen Tugenden heraus, auf die kirchliche Institutionen nicht verzichten können. Das hat drei kirchlich-theologische Konsequenzen: (1.) Das christliche Nächstenliebeethos geht über die bürgerlichen Pflichten weit hinaus, aber beantwortet nicht die Frage nach den normativen Bedingungen rechtmässiger und gerechter Institutionen. Deshalb müssen auf institutioneller Ebene die bürgerlichen Tugenden Vorrang vor den göttlichen Geboten haben. (2.) Ein christlich-kommunitäres Ethos übersieht die Differenz zwischen einer Individual- oder Gemeinschaftsmoral und einer Institutionenethik, die auf unterschiedlichen Subjektkonstellationen beruht. Zwar haben Barth und die sich seit den 1970er Jahren etablierende evangelisch-theologische Sozialethik konsequent auf die Bedeutung von politischer Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Rechtmässigkeit hingewiesen. Allerdings überdeckt in der kirchlichen Praxis eine Moral der Glaubensgemeinschaft weiterhin eine Institutionenethik liberaler Subjekte. (3.) Alle Appelle an eine christliche Nächstenliebe-, Solidaritäts- und Option-für-die-Schwachen-Moral laufen ins Leere, weil sie das singuläre moralische Subjekt ansprechen, aber nicht die Funktions- und Rollenträger:innen in kirchlichen Institutionen. Das christliche Nächstenliebeethos hat nicht versagt, sondern bietet keinen relevanten normativen Massstab. Natürlich ersetzen die Hinweise im Anschluss an Judith N. Shklar keine sorgfältige Analyse und liefern keine Lösung des Problems. Aber um den skizzierten theoretische Deutungsrahmen kommt eine seriöse kirchlich-theologische Reflexion der institutionellen Zustände und Selbstmissverständnisse nicht herum.
Gewalt ist eine Praxis, die sich selbst zum Stillstand bringt, weil sie ihre eigenen Bedingungen negiert und zerstört. Sie greift ihre sozialen Fundamente an, die auf der Gegen- und Wechselseitigkeit von Wahrnehmen, Erleben und Handeln beruhen. Gewalt besteht nicht nur in der verbrecherischen Tat selbst, sondern in der Unterdrückung der Fähigkeit und Möglichkeit, zu antworten. Die Tat schafft eine Absolutheit durch die totale Auslieferung des Opfers an den Täter und demonstriert eine Herrschaft der Gewalt, die Praxis kollabieren lässt. Alles, was im gewaltkontaminierten Raum geschieht und sich ereignen kann, ist Gewalt. Deshalb stellt jeder Fall sexualisierter und anderer Gewalt durch kirchliche Mitarbeitende und in kirchlichen Organisationen die Kirche als Institution in Frage. In Gewaltkonstellationen gibt es keinen Standpunkt jenseits der Verstrickung in die Gewaltgeschichte, keine dritte Option neben Tätern und Opfern. Die Täter haben die kirchlichen Strukturen auf ihrer Seite, weil sie deren Verbrechen nicht verhindern, ermöglichen und verschleiern.
Wenn in Kirchen über den Umgang mit sexualisierter Gewalt diskutiert wird, stellt sich am Anfang die Frage, wer, in welcher Funktion und aus welcher Perspektive spricht. Äussert sich eine Person als Verantwortungsträger:in, die eine Leitungsfunktion innehat und der deshalb ein bestimmtes kirchliches Handeln zugerechnet werden kann, oder als Zuständige, an die sich gewaltbetroffene Personen wenden können, oder die für die «Aufarbeitung» von Vorfällen sexualisierter Gewalt zuständig ist, oder als Betroffene, die selbst Opfer sexualisierter Gewalt geworden ist, oder als Beobachterin, die einen kirchlichen Vorgang aus einem methodischen und institutionellen Abstand analysiert und beschreibt? In der Praxis können sich die Perspektiven, Funktionen und Aufgaben überschneiden und eine Person kann Trägerin mehrerer Rollen sein. Problematisch werden Mehrfachbesetzungen, wenn sie miteinander in Konflikt geraten und die Ebenen der Betroffenheit, Beteiligung und des Urteilens resp. Sanktionierens vermischt werden.
Kirchliche Gemeinschaftsverständnisse kennen keine der staatlichen Gewaltenteilung analoge Ordnungsstrukturen mit den entsprechenden Ebenen- und Kompetenzunterscheidungen. Das Verhältnis zwischen Person und Gemeinschaft bleibt auch in Kirchen mit einem liberalen Selbstverständnis häufig diffus und unreflektiert. Die theologische Überzeugung, dass die Zugehörigkeit zur Kirche die gläubige Person konstituiert, ist anfällig für den Irrtum, dass die Mitgliedschaft in der kirchlichen Gemeinschaft die rechtlich definierte Identität der Person überbieten würde. So kann der Eindruck entstehen, die Kirche bilde einen Sozial- und Rechtsraum eigener Art. Die Vermischung der eschatologischen Perspektive, nach der eine Person vollständig durch die Verheissung auf ihre ewige Zukunft bei Gott bestimmt ist, mit dem weltlichen Rechtsstatus der Person kann eine folgenreiche Relativierung der unbedingten Schutzwürdigkeit personaler Integrität zur Folge haben. Historisch gehören solche Jenseitsvertröstungen angesichts erlittenen Unrechts und erfahrener Ungerechtigkeit zum festen Arsenal kirchlicher und politischer Herrschaftsideologien. Dabei gerät der theologische Topos «Mensch» – als gefallenes Geschöpf in seinem Verhältnis zu Gott – in Opposition zur menschenrechtlichen Kategorie «Person». Wie Kirche mit Gewalt umgeht, hängt nicht nur davon ab, ob Gewalt wahrgenommen wird, sondern auch davon, wie Gewalt wahrgenommen, beurteilt und welche Bedeutung und Relevanz ihr zugemessenen wird. Je stärker kirchlich-theologische Selbstverständnisse mit dem Gedanken einer leidvollen Existenz oder mitleidenden Christusnachfolge (Martyrium) verbunden werden, desto eher kann Gewalt als Prüfung, Gottesnähe und Gottesgehorsam bagatellisiert oder verklärt werden. Wie den urchristlichen Gemeinden die ausbleibende Wiederkehr Christi zum Problem wurde, steckt der Kirche in ihrer Geschichte die andere Ambivalenz von geglaubter Heiligung und erfahrungsgesättigter Verfehlung in den Knochen.
Die Karriere des modernen demokratischen Rechtsstaats ist eng verbunden mit seinem – gegenüber anderen Staatsformen – einzigartigen Erfolg bei der Einhegung von Gewalt. Gewalt wird vom Rechtsstaat als ein Unrecht gegen die eigene Ordnung behandelt. Deshalb wird sie von staatlichen Instanzen verfolgt, gerichtet und verurteilt. «[E]ine Straftat, der eine Person zum Opfer fällt, [ist] primär nicht die Verletzung eines Menschen, sondern die eines Gesetzes. Darum tritt das Opfer vor Gericht nicht als derjenige auf, der die Klage führt, sondern der Staatsanwalt, und das Opfer ist Zeuge – in eigener Sache, wie es das möchte, unter anderen Zeugen, wie es das Gesetz vorsieht». Eine Gewalttat ist (immer auch) ein Verbrechen, weil und sofern es sich gegen das Prinzip des staatlichen Gewaltmonopols richtet. Die Sichtweise ist ernüchternd, weil sie – wie häufig kritisiert – die Opferperspektive nur rudimentär in den Blick nimmt und das Leid der Opfer nur insoweit zur Geltung bringt, wie es zugleich eine Verletzung staatlichen Rechts darstellt. Der Literatur- und Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma, der selbst Opfer einer Entführung war, konfrontiert die staatliche Rechtsperspektive mit den individuellen und heterogenen Interessen von Gewaltopfern. Auf der einen Seite gilt: So sehr staatlicher Schutz gewünscht wird, so sehr muss dieses Bedürfnis mit den Freiheitsrechten abgewogen werden. Die Sicherheitsdiktatur wäre eine schlechte Alternative zum liberalen Staat mit seinen schwachen Kontrollinteressen und einer damit akzeptierten relativen Unsicherheit. Auf der anderen Seite steht das berechtigte Interesse aller Bürger:innen, «dass für den Fall, dass sie sich als Opfer (Verletzte) wiederfinden, ein gewisses Mass an Fairness ihr Schicksal gestaltet. Diese Fairness kann aber nicht ausgleichen, was Schicksal ist. Das heisst: Dass ein Mensch Opfer eines Verbrechens geworden ist, kann durch keine Massnahme auf der Welt aus der Welt geschafft oder kompensiert werden.»
Die Reaktionen des Rechts bleiben häufig hinter den Forderungen und Erwartungen von Gewaltopfern zurück. Gleichzeitig ist die gerichtliche Verfolgung und Bestrafung unverzichtbar, denn: «Die Anerkennung der Strafbarkeit bedeutet die Anerkennung, dass Unrecht geschehen ist. Das Opfer hat nicht Pech gehabt, es ist überfallen worden, nicht von einem herunterfallenden Ast getroffen worden. Der Täter durfte nicht tun, was er getan hat. Das Opfer hat nicht nur Schaden erlitten, sondern ihm ist Unrecht geschehen. […] Das Interesse des Opfers an der Bestätigung, dass ihm Unrecht geschehen ist, und das Interesse der Öffentlichkeit, dass festgestellt wird, dass eine Norm verletzt wurde, und dass sie trotz dieser Verletzung gilt – was durch die Strafe (‹das durfte nicht getan werden!›) bestätigt wird – konvergieren. Hieraus ergibt sich der Zusammenklang von Opferinteressen und öffentlichen Interessen. […] Recht kann nicht heilen. Aber wo nicht Recht gesprochen wird, entstehen neue unheilbare Verletzungen.»
Die Kirche schuldet es den Opfern, dass die Fälle sexualisierter Gewalt in ihren Institutionen im Rahmen ordentlicher rechtlicher Verfahren aufgeklärt und sanktioniert werden. Darüber hinaus muss sie auch ein eigenes starkes Interesse daran haben, folgt sie dem in der Rechtfertigungslehre geschärften reformatorischen Grundsatz, dass niemand Richter:in in eigener Sache sein kann: Kirche kann und darf nicht eine Urteilskompetenz in Angelegenheiten für sich beanspruchen, in denen ihre Mitarbeitenden und sie selbst in irgendeiner Form verwickelt sind. Damit würde die Gewalt, die den Opfern angetan wurde, verdoppelt: als sexualisierte Gewalt des Täters und als Urteilsgewalt der Institution, für die der Täter gearbeitet und die er mit seiner Funktion repräsentiert hat.
Die kirchliche Zurückhaltung gegenüber dem Recht beruht nicht zuletzt auf einem Missverständnis. Es besteht in der mangelnden Unterscheidung zwischen der Vertrauenswürdigkeit der kirchlichen Institutionen und der Glaubwürdigkeit der Kirche aus Gottes Wort. Der dramatische Vertrauensverlust der institutionellen Kirche stellt den Glauben, den die Kirche verkündigt, grundsätzlich nicht in Frage. Diesen Glauben ernst zu nehmen, schliesst mit ein, die Praxis der Kirche an ihren eigenen Worten zu messen. Unterschieden werden muss zwischen dem, was nicht aufgegeben, und dem, was um keinen Preis verteidigt und gerechtfertigt werden darf. Als Glaubensgemeinschaft steht die Kirche unter der göttlichen Verheissung, als soziale Institution teilt sie die Mängel, Kritikwürdigkeit und Revisionsbedürftigkeit aller menschengemachten Ordnungen und Strukturen. Für den Umgang kirchlicher Institutionen mit sexualisierter Gewalt gilt deshalb: «Ein Ziel von Aufarbeitung, die Anerkennung von Leid und von Unrecht, ist auf unterschiedliche Aspekte des Geschehens ausgerichtet: […] Die Anerkennung des Unrechts bedeutet die Feststellung, dass Rechte verletzt wurden, sowie die Klarstellung von Schuld bzw. Verantwortung. Die Anerkennung des Leids bezieht sich auf die Auswirkungen der Gewalt. An dieser Stelle zeigt sich, dass allein das Leid anzuerkennen nicht ausreicht und dass Unrecht immer Thema sein muss. Menschen leiden – jenseits von (sexuellen) Gewalterlebnissen – unter unterschiedlichen Widerfahrnissen. Nicht für alle kann Schuld bzw. Verantwortung im Handeln anderer Menschen verortet werden, manchmal hat man einfach Pech gehabt. Dies trifft jedoch nie für Gewalt zu. Die Unterscheidung zwischen Unglück und Unrecht ist zentral – sowohl für die Aufarbeitung im Individuellen als auch im Gesellschaftlichen.»[14]
Gewalt ist ein anthropologisches Phänomen und die Möglichkeiten, sich zu wehren und zu schützen, sind sehr ungleich verteilt. Je weniger sich eine Person selbst verteidigen kann, desto stärker ist sie auf den solidarischen Schutz anderer angewiesen. Die Kirche versteht und profiliert sich in besonderer Weise als ein solcher Schutzraum. Deshalb fällt die in ihrem Raum erlittene und zugefügte Gewalt in doppelter Weise auf ihr Selbstbild und die von ihr evozierten Aussenerwartungen zurück: Sie ist (1.) der Ort von Gewalt und scheitert (2.) an ihrem eigenen Anspruch und Versprechen, das Gewalt nach Gottes Willen nicht sein soll. Das kirchliche Versagen besteht (in der Regel) nicht in einem strafrechtlich relevanten Verbrechen, sondern in dem fundamentalen Vertrauensbruch der Institution gegenüber den Gewaltopfern. Die Entgegnung, dass es sich lediglich um Ausnahme- oder Einzelfälle handele, greift nicht, weil der Vertrauensbruch nicht die Gewalttaten selbst betrifft, sondern das kirchliche Versprechen, einen Schutzraum der Menschlichkeit zu bieten, in dem Stärke, Dominanz, Durchsetzungs- und Verteidigungsmacht keinen Platz haben.
Besonders schwer wiegt, dass die meisten Fälle sexualisierter Gewalt Verhältnisse zwischen schutzverantwortlichen und -befohlenen Personen betreffen. Die Täter bauen eine Vertrauensposition auf oder benutzen sie, um sich die ihnen anvertrauten Personen gefügig zu machen. Alle Zweifel und Schutzreflexe, jedes Misstrauen und jeder Widerstand der Opfer werden durch die Inszenierung einer intimen Nähe und exklusiven Vertrauensbasis ausgehebelt. Bestätigt wird das Ohnmachtsgefühl angesichts der strategischen Lähmung jeglichen Widerstands durch die fehlende Aufmerksamkeit oder die Relativierungs- und Vertuschungsversuche seitens der Institution. Aus sozialpsychologischer Perspektive immunisieren sich die Täter durch die Beschämung der Opfer. Auf die Missachtung ihrer Person und die Verweigerung ihrer Anerkennung reagieren die Opfer häufig mit Scham- und Schuldgefühlen, die sie gegenüber sich selbst und ihrer sozialen Umwelt schutz- und wehrlos machen. «Wer sich schämt, muss befürchten, dass die eigene Anerkennung für andere Personen an Wert verliert – und dass diese damit auch jede Scheu vor der eigenen Person ablegen.» Vor dem Hintergrund von Axel Honneths Theorie der Anerkennung können drei Sphären der Missachtung unterschieden werden, denen die Opfer sexualisierter Gewalt durch die Täter und die Institution ausgesetzt sind:
Sphäre der Anerkennung | Missachtung, die in dieser Sphäre erlebt werden kann | Positive Selbstbeziehung, die entwickelt bzw. zerstört werden kann |
Anerkennung auf der Ebene emotionaler persönlicher Beziehungen | Gewalt, die physische und psychische Integrität bedroht | Selbstvertrauen |
Anerkennung auf der Ebene des Rechts | (Struktureller) Ausschluss von Rechten, unzureichender Zugang zu Rechten | Selbstachtung |
Anerkennung durch soziale Wertschätzung und gesellschaftliche Solidarität | Bedrohung der Würde, Entwürdigung | Selbstschätzung |
Die Bedrohung der personalen Integrität des Opfers, ihre Demütigung und die Verweigerung der ihr zustehenden Rechte finden nicht ausschliesslich zwischen Täter und Opfer, sondern zwischen zahlreichen Personen in einem sozialen Raum statt. Zum Opfer von Gewalt kann eine Person nur in einem sozialen Begegnungsraum werden, der diese Gewalt möglich macht bzw. nicht verhindert. Darin besteht die soziale und strukturelle Dimension von Gewalt unabhängig von dem konkreten Verbrechen. Im kirchlichen Kontext werden Personen zu Opfern, weil sie mit den Tätern, deren Gewalt sie ausgeliefert sind, ein Vertrauenssystem teilen, von dem die Mitglieder Schutz, wechselseitige Anerkennung und einen verantwortungsvollen Umgang erwarten. Hinter dem eklatanten Missverhältnis zwischen Vertrauen und Verantwortung steht eine eminente theologisch-ethische Einseitigkeit: Kirche verfügt zwar über ein elaboriertes Pflichtenheft für den Umgang mit (fremden) Opfern, aber über kein vergleichbares normatives Verteidigungsdispositiv, um Personen davor zu schützen, Opfer zu werden. Eine solche – auch einem falschen Verständnis von sacrifice geschuldete – Pathophilie wird verstärkt durch einen traditionellen Paternalismus, der mit der Bedürftigkeit von Personen mehr anzufangen weiss als mit dem Widerstand und Kampf gegen ihre Viktimisierung. Die ambivalente theologische Sakralisierung der sich (auf)opfernden Person hat eine prekäre soziale Schlagseite, weil sie theologische Deutungen dort einspielt, wo ausschliesslich Rechtsdurchsetzung zählt.
Das Thema «Aufarbeitung sexualisierter Gewalt» fordert die Kirchen über Konfessions- und Landesgrenzen hinweg enorm heraus. Es geht nicht um die Bewältigung eines Unglücks, bei dem es im Prinzip darum geht, zu einem status quo ante zurückzukehren. Es geht auch nicht um eine historische Schuld, die von den nachfolgenden Generationen geerbt wurde und stellvertretend verantwortet werden muss. Sexualisierte Gewalt ist (1.) eine Realität, die (2.) Vorgänge in kirchlichen Institutionen (3.) hier und heute betreffen und bei der (4.) unklar ist, ob, inwieweit und in welcher Weise das Selbstverständnis und die Policy der Institutionen dazu beitragen. In diesem Zusammenhang soll «Aufarbeitung» aufdecken, «in welcher Kultur sexueller Kindesmissbrauch in einer Institution stattgefunden hat, welche Strukturen unter Umständen mit dazu beigetragen haben, dass Täter und Täterinnen Kindern und Jugendlichen Gewalt angetan haben, wer davon gewusst hat, aber sie nicht oder spät unterbunden hat. Sie soll sichtbar machen, ob es unter den Verantwortlichen in den Institutionen zu dem Zeitpunkt des Missbrauchs eine Haltung gab, die Gewalt begünstigt und Kinder oder Jugendliche abgewertet hat, und sie will klären, ob und wenn ja warum sexueller Kindesmissbrauch in einer Einrichtung vertuscht, verdrängt, verschwiegen wurde. Auf der Basis dieser Erkenntnisse zielt Aufarbeitung auf Anerkennung des Leids und auf die Rechte und Unterstützung erwachsener Betroffener. Sie will einen Beitrag dazu leisten, Kinder und Jugendliche besser zu Schützen und ihre Rechte zu etablieren, und sie zielt darauf, die Gesellschaft für die Dimensionen sexuellen Kindesmissbrauchs zu sensibilisieren. Durch öffentliche Berichterstattung und Empfehlungen kommt Aufarbeitung zu einem Ergebnis, an das für Prävention angeknüpft werden kann.» Aufarbeitung soll:
Institutionen greifen für ihre Aufgaben auf etablierte Verfahrensroutinen zurück, die Verantwortung und Aufmerksamkeit selektiv verteilen. Funktionale Zugänge sind durch ein systembedingtes Ausblenden der Person gekennzeichnet. Viele Reaktionen von kirchlichen Verantwortungsträger:innen und Mitarbeitenden auf die offengelegten Fälle sexualisierter Gewalt bestätigen diesen Befund: Der Schutz der Institution inklusive ihrer Repräsentant:innen wird höher gewichtet als der allgemeine Schutz der Person. Eine ernsthafte kirchliche «Aufarbeitung» muss deshalb bei der institutionenkritischen Einsicht einsetzen, dass der Fokus auf die einzelne Person und ihr Erleiden nicht dem vertrauten institutionellen Vorgehen entspricht. Deshalb muss Kirche das Wort den betroffenen Personen mit ihren Bedürfnissen, Interessen und Zielen zu überlassen. Opfer sexualisierter Gewalt werden und bleiben auch deshalb Opfer, weil sie nicht frei Sprechen können und dürfen und weil sie keinen Ort haben, an dem sie gehört werden. «Aufarbeitung» aus Sicht der Kirche kann nicht bedeuten, die vertrauten Vorgehensweisen zwar neu zu justieren, aber im Kern unverändert beizubehalten.
Bereits in der Bibel begegnet Arbeit als aus der Not geborene und unter Mühsal vollzogene Weltaneignung und -veränderung. Zu den klassischen Begriffen der «Produktions-», Lohn-» und «Erwerbsarbeit» treten in der Spätmoderne immer neue Genitivtätigkeiten hinzu: «Beziehungs-», «Körper-», «Selbst-» oder «Trauerarbeit». Der fordere Begriffsteil nennt den Gegenstand, an dem das Subjekt tätig ist bzw. den es bearbeitet. Es geht (in einer sehr verkürzten Kombination von Foucaultschen, Hegelschen und Habermasschen Kategorien) um Formen teleologischer, zielgerichteter (Selbst)Disziplinierung, die durch zwei Merkmale gekennzeichnet sind: (1.) Sie sind auf die eigene Person und nicht auf Sozialität (kommunikatives Handeln) gerichtet. Und (2.) Als Arbeit machen sie das Bearbeitete zum Objekt ihrer Tätigkeit. Das «Aufarbeiten» kommt dem «Abarbeiten» (nicht nur phonetisch) nahe. Wie alle Arbeit, zielt auch «Aufarbeitung» auf ein Ergebnis, mit dessen Erreichen sie beendet ist und ad acta gelegt werden kann (weil die nächste Arbeit schon wartet). Arbeit ist wesentlich eine technische Tätigkeit, ein Vorgang, der sich in einer Gebrauchsanweisung abbilden lässt und durch ihre Befolgung erfolgreich bewältigt werden kann. Wer von Arbeit spricht, hat einen bestimmten Blick auf eine Tätigkeit und rückt diese (und ihre Motive) in einen entsprechenden Erwartungshorizont.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach dem Gegenstand von «Aufarbeitung». Besiter:innen überquellender Schreibtische können ein Lied davon singen, was aufarbeiten bedeutet: die liegengebliebene Arbeit in Angriff zu nehmen, um sie endlich abhaken zu können. Die andere alltagsprachlich verbreitete Bedeutung betrifft eher mentale und soziale Altlasten: die Beziehungskrise oder der Streit beim letzten Familienfest, die endlich angepackt werden sollten. In beiden Fällen soll etwas in Ordnung gebracht werden, was in der Vergangenheit aus dem Ruder gelaufen ist. Und in beiden Fällen geht es um die Korrektur einer Abweichung gegenüber einer vorgegebenen Ordnung. Aufarbeitung zielt auf Wiederherstellung und Bestätigung der Ordnung und ihrer Geltung. Können diese Zugänge und Zielsetzungen auch für den Umgang mit Opfern sexualisierter Gewalt gelten? Welche Ordnung soll wiederhergestellt und welche Altlasten abgetragen werden? Um welche und wessen Geschichte(n) geht es und wer sind ihre Subjekte?
Auf die letzte Frage gibt Jan Philipp Reemtsma eine eindrucksvolle Antwort, in der wohl auch seine eigenen Erfahrungen als Entführungsopfer einfliessen: «Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden, ist ein biographischer Einschnitt, der in der Regel nicht überschätzt werden kann. Er und sie sind nicht mehr die, die sie vorher waren. […] Die Wahrnehmung ändert sich, Empfindlichkeiten ändern sich, Prioritäten ändern sich, Toleranzen ändern sich und so fort. Es bleibt nicht aus: Er oder sie spricht ‹als Opfer›. Und darum gibt es ein vitales Interesse, auch so wahrgenommen zu werden. Und zwar nicht – das ist wichtig – unter dem Aspekt der Beschädigung. Jemand, der Opfer eines Verbrechens geworden ist, hat zwar wahrscheinlich allerhand eingebüsst – Weltvertrauen z. B. – aber er hat auch etwas erhalten, was andere nicht haben: Informationen über die Welt. Er oder sie hat sie nicht haben wollen, schon gar nicht auf diesem Wege, aber nun hat er/sie sie. Und er/sie ist insofern informierter, vielleicht sogar klüger als andere. Aber eben auch misstrauischer, weniger leidlich, misanthropischer vielleicht; das hängt vom Einzelfall ab. Will man einer solchen Person gerecht werden, muss man das berücksichtigen, und zwar ohne sie zu pathologisieren. […] Jede Hilfe muss im Grunde [einen] Doppelcharakter haben: durch Anerkennung dieses speziellen Status [als Opfer] zu helfen, ihn zu überwinden. Aber Anerkennung bedeutet eben auch, jemanden zu ermutigen, die Rolle des Opfers aktiv wahrzunehmen, und man kann nur hoffen, dass gerade dieses Moment der Aktivität dabei helfen kann, den Status des Opfers zu überwinden. Denn Opfer sein, heisst passiv sein. Hilfe annehmen, heisst auch: passiv sein. Hilfe für Opfer, die nicht auch darauf zielt, den Aktivitätsspielraum in eigener Sache zu erweitern, ist problematisch, meist kontraproduktiv.»
«Aufarbeitung» von sexualisierter Gewalt ist keine terminierte Tätigkeit, die mit einem Abschlussbericht, der Etablierung von Massnahmen und der Entschädigung der Opfer endet. Es geht um einen komplexen Prozess auf verschiedenen Ebenen und um Belange und Interessen von unterschiedlichen Subjekten mit konfligierenden Perspektiven. Den Lead hatte die Institution beim Zustandekommen der sexualisierten Gewalt, sie kann ihn nicht auch bei der «Aufarbeitung» beanspruchen. Hier gilt für einmal nicht, dass wer sich die Suppe eingebrockt hat, sie auch selbst auslöffeln können muss. Denn es geht um Vorfälle, die die Institution nicht verursacht hat, aber für die sie Verantwortung trägt, deren Folgen nicht sie, sondern die Gewaltopfer zu tragen haben. Die Institution war bei den Verbrechen nicht auf der Seite der Opfer und kann es deshalb auch bei der «Aufarbeitung» nicht sein. Nicht die institutionelle Ordnung hat versagt (wie bei einem Betriebsunfall), sondern die Ordnung selbst hält nicht, was sie versprochen hat und was von ihr erwartet wurde.
Das betrifft auch die in der jüngeren Vergangenheit etablierten Präventions-, Schutz- und Meldekonzepte, die in der Fachliteratur ambivalent beurteilt werden. Wie in der Medizin eine sinnvolle und wirksame Therapie eine sorgfältige Anamnese und fachkundige Diagnose voraussetzt, ist auch ein effektiver institutioneller Schutz vor sexualisierter Gewalt auf eine seriöse und objektive Analyse, Beschreibung und Bewertung der relevanten Ursachen, Strukturen, Prozesse und Faktoren angewiesen. Präventions- und Schutzkonzepte sind das Ergebnis von und nicht die Alternative zu konsequenter «Aufarbeitung». Präventions- und Schutzmassnahmen sind in besonderer Weise auf eine sorgfältige und umfassende «Aufarbeitung» angewiesen, um nicht wirkungslos und in der Luft zu hängen oder blosse Symbolpolitik zu betreiben. «Im Rahmen der Aufarbeitung wurden die organisationalen und institutionellen Strukturen herausgearbeitet, die den Missbrauch ermöglicht und eine Aufdeckung verhindert haben. Für die identifizierten Schwachstellen müssen Massnahmen definiert und umgesetzt werden, die zu einem Organisations- und Kulturwandel führen und potenzielle Risiken für Mädchen und Jungen minimieren. Nur so können Schutzkonzepte nachhaltig wirken. Wenn der «Organisations- und Kulturwandel» wesentlicher Bestandteil von Schutzkonzepten ist, können kirchliche Institutionen auf die Forderung nach «Aufarbeitung» nicht auf bestehende Präventions- und Schutzkonzepte verweisen, ohne die sexualisierte Gewalt in ihren Räumen als blosse Abweichungen einer ansonsten funktionierenden Organisation zu bagatellisieren.
Das, was unter dem Begriff «Aufarbeitung» firmiert ist – analog zur «Trauerarbeit» – das Vorrecht der von sexualisierter Gewalt betroffenen Personen. «Aufarbeitung» ist die ureigenste Angelegenheit der Opfer, die grundsätzlich durch nichts vertreten und an niemanden abgetreten werden kann, weil sie das Leben der betroffenen Personen betrifft, genauer: ihr Leben ist. Sie haben kein Leben neben oder ausserhalb der Verbrechen, deren Opfer sie geworden sind und für immer bleiben werden. Diesen existenziellen Zusammenhang müssen sich kirchliche Institutionen vor Augen führen und im Blick behalten, bevor sie anfangen, über «Aufarbeitung» nachzudenken. Alles, was Institutionen zur Aufarbeitung, Prävention und zum Schutz leisten können und müssen, bleibt unlösbar mit dem Leben der Gewaltopfer verbunden. Wenn dabei von «Arbeit» gesprochen werden kann, dann am ehesten im Sinn der Trauerarbeit bei Louis Marin, an die Jacques Derrida in dessen Totenrede erinnert. Es wäre eine «Arbeit ohne Kraft […], eine Arbeit, die daran arbeiten soll, auf die Kraft zu verzichten, auf ihre eigene Kraft, eine Arbeit, die am Scheitern arbeiten soll und folglich daran, die Kraft abzuschreiben (faire son deuil de la force), eine Kraft, die an ihrer eigenen Unproduktivität arbeitet, die absolut daran arbeitet, von dem abzulösen und sich abzulösen, was die ‹Kraft› an Absolutem haben könnte». Das wären zugleich die Eckpunkte für eine mögliche «Theologie der Aufarbeitung».
Original mit Fussnoten und Quellen:
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