Metamorphosen des Weltchristentums. Ökumenische Theologie in globaler Perspektive  

Christine Lienemann-Perrin, Kohlhammer, Stuttgart 2023, 388 S. 

Was bedeutet es für Christinnen und Christen heute, die Bibel «mit allen Heiligen zusammen» (Eph. 3,18) zu lesen? Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch dieses umwerfende und herausfordernde Buch. Darin wird die enorme, aber unbekannte Vielfalt der kontextuellen Ausdrucksformen des heutigen Christentums entfaltet und reflektiert und die Frage nach deren Einheit gestellt. Die Autorin plädiert dafür, den Polyzentrismus im Christentum als Notwendigkeit anzuerkennen, damit die Bemühungen um die Einheit vorangebracht werden können. 

Buchvorstellung 

Der theologische Ansatz und rote Faden des Buches bezieht sich auf der Bibelstelle Eph. 3,17-19: «So werdet ihr befähigt, mit allen Heiligen zusammen die Breite und Länge und Höhe und Tiefe zu ermessen und die Liebe Christi zu erkennen, die alle Erkenntnis übersteigt, und so werdet ihr immer mehr erfüllt werden von der ganzen Fülle Gottes» (Zürcher Bibel). Das Christentum wird mit einem Bienenstock verglichen, der aus Tausenden von Waben mit unterschiedlichen Formen, Texturen und Grössen besteht, die zusammen ein Ganzes bilden. Jede Wabe ist eine Zelle für sich und zugleich Teil eines Gewirks, in welchem es nicht ohne die anderen Waben sein kann. Das wirft die Frage auf, inwiefern und wie sich das Christentum in seiner Vielfalt selbst treu bleiben kann, und wie dessen Einheit und dessen Vielfalt auf sichtbare Weise erkennbar waren und sind. Die vorliegende Untersuchung widmet sich nicht den soziologischen Aspekten (auch wenn diese benannt werden), sondern den theologischen Aspekten des Weltchristentums heute. Damit verschafft die Autorin der deutschsprachigen Leserschaft Zugang zu einem Forschungs- und Studienbereich, der in der angelsächsischen Welt bereits weit entwickelt ist, in der europäischen Fachliteratur jedoch noch fehlt. Die westeuropäische Leserschaft, die oft frustriert ist von der scheinbar langsamen Annäherung zwischen Protestanten und Katholiken, erfährt vieles über die ökumenischen Durchbrüche und Neuerungen, die es in Afrika, Asien und Lateinamerika gibt, aber von denen man hierzulande nichts weiss. 

Das Buch besteht aus 11 Kapiteln, von denen die meisten bisher unveröffentlichte Publikationen sind. Die anderen sind Nachdrucke von Artikeln, die zwischen 2012 und 2021 erschienen sind. 

Von den unzähligen Gesichtern, die das Christentum hat, und die die Autorin beschreibt, kann einem ganz schwindelig werden. Sie zeigt auch deutlich die Auswirkungen auf, die diese Realität auf die traditionelle europäische Theologie und deren Lehre hat, nicht nur auf die Missionstheologie oder die ökumenische Theologie, sondern auch auf die interkulturelle Theologie, die Religionswissenschaft und alle klassischen Lehrstühle für Theologie im Westen.  

Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Weltchristentum 

Im ersten Teil entfaltet die Autorin jene Elemente, die für eine allgemeine Einführung in das Weltchristentum nötig sind, und gibt Antworten auf Fragen, die auch ein auf der Erde ankommender Ausserirdischer hierzu stellen könnte. Ihre Antworten basieren zumeist auf Zahlenmaterial und Statistiken. Sie nimmt insbesondere Bezug auf die jüngsten monumentalen statistischen Zusammenstellungen, wie die berühmte World Christian Encyclopedia, deren dritte Ausgabe von 2020 beinahe fünf Kilo wiegt. Die Einführung endet mit einem erhellenden Kapitel über die Kritik am europäischen Christentum, die häufig mit der europäischen Christenheit verwechselt wird, sowie über die Schwierigkeiten bei der Übersetzung dieser Konzepte in verschiedene Sprachen. Die Autorin erinnert daran, dass das Christentum inzwischen eine nicht-westliche Religion geworden ist, wie sie es auch bereits in ihren Anfängen war. Die Herausforderung des heutigen Christentums sei daher, dass es mit einer «Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen» konfrontiert wird, d. h. Strukturen, die parallel existierten und deren Wurzeln und Merkmale auf verschiedene Epochen verweisen, welche auf unterschiedliche gesellschaftliche Formen des Christentums zurückgehen, welches es in verschiedenen Kontexten angenommen hat. Die Universalität der Kirche und ihre Kontextualität stehen daher in einem ständigen Spannungsverhältnis. 

Im zweiten Teil werden die historiographischen Ansätze zum Weltchristentum behandelt. Die Art und Weise, wie Konversion verstanden und gelebt wurde, macht es möglich zu begreifen, wie das Christentum in den ersten Jahrzehnten sowohl der Assimilierung durch das Judentum als auch der griechischen Welt widerstehen konnte. Ein besonderes Merkmal des Christentums ist die Taufe, die – statt der Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder einer benachbarten Kultur – die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft definiert. Die Bekehrungsgeschichte ist daher von grosser Bedeutung, um die Entwicklung des Christentums in den verschiedenen Kulturen zu verstehen.  

Es folgt eine Reihe spannender Kapitel über die Rolle der Frauen in der Missionsgeschichte und deren Einfluss auf das Missionsverständnis, sowie für die Entwicklung der Vielfalt des Weltchristentums. Hier begegnet man unter anderem der Gründerin des Weltgebetstags der Frauen, Helen Barrett Montgomery (1861-1934), der indischen Theologin (Hindu-Konvertitin) Pandita Ramabai (1858-1922) oder der feministischen US-amerikanischen Theologin Letty Mandeville Russell (1927-2007). 

Ökumene und globale Theologie 

Der dritte Teil beschreibt die Auswirkungen des Wachstums des Christentums auf die ökumenische Bewegung, die dazu führten, dass die klassischen konfessionellen Trennlinien verschwinden und durch Binome wie konfessionelles vs. nicht- oder post-denominationales Christentum, Kirche mit Mitgliedschaft vs. Kirche mit Teilhabe,  Grosskirche vs. autonome Gemeinde ersetzt wurden, bzw. durch das Auftreten neuer ökumenischer Akteure neben den bekannten grossen Organisationen, insbesondere in Afrika, wo eine «doppelte Treue» zu Christus und zu Afrika eingefordert wird. Man wird sich (wieder) bewusst, dass die reformierte Tradition insgesamt nur 3,5 % der Christenheit ausmacht (die europäischen Reformierten machen davon wiederum nur ca. 10 % aus!), sowie dass der ÖRK eigentlich nur 25 % der gesamten Christenheit vertritt. Man muss sich daher fragen, ob die Ökumene der historischen Kirchen nicht zu einer Falle und einem Gefängnis geworden ist und ob das Selbstverständnis dieser Kirchen (das oft in Selbstgenügsamkeit ausartet), deren Strukturen und Kommunikationsgewohnheiten sie daran hindern, mutig und in einer anderen Dimension «die Breite, Tiefe und Höhe der Liebe Christi» zu leben.  

Anschliessend werden  katholische, evangelikale, pfingstlerische und reformierte Entwürfe einer neuen «globalen Theologie» vorgestellt. Es sind allesamt Versuche, einen Rahmen zu beschreiben, der eine Kohärenz zwischen der grossen Vielfalt der christlichen Stimmen und der einen Wahrheit des Evangeliums ermöglicht. Es geht also darum, eine neue Positionierung der Theologie in der globalisierten Welt des Christentums zu entwerfen. Gemäss diesen Aufsätzen hat die westliche säkularisierte und relativistische Theologie nicht wirklich eine Zukunft. 

Das Buch endet mit einem langen Kapitel mit Reflexionen über die vielfältigen Formen des Christentums. Der theologische rote Faden mit der Bibelstelle Epheser 3,17-19 als Basis ermöglicht es, den Schwerpunkt, statt auf konfessionelle Strukturen oder Traditionen, auf die Liebe Christi zu legen, die alle Heiligen (also die Getauften) als DAS Merkmal der Einheit erfahren. Die Autorin greift die Thematik der Begegnung von Evangelium und Kultur auf und entwickelt schliesslich einen polyzentrischen Entwurf des Christentums, der es ermöglicht, die Transformationsprozesse des Christentums besser zu erfassen. Sie tut dies anhand von vier gewichtigen Schlagworten: «Ent-Kulturation», «In-Kulturation», «Inter-Kulturation» und «Trans-Kulturation», welche jeweils mit Beispielen aus dem Globalen Süden erläutert werden. 

Kritische Reflexionen und Analysen zum Ganzen verleihen diesem aufschlussreichen Buch, welches optimistisch in die Zukunft des Christentums blickt, eine persönliche und abschliessende Note. Es endet mit einem Plädoyer insbesondere für die Praxis des Zu-hörens als Eckpfeiler des receptive ecumenism, die in unseren westlichen Kreisen, in denen schnell die Harmonie oder Antithese gesucht wird, oft fehlt. 

Fazit 

Dieses Buch öffnet die Augen und den Geist für die grossen tektonischen Bewegungen, die heute das Christentum formen, welches zu einer nicht-westlichen Religion geworden ist. Die Autorini greift Untersuchungen auf, wie beispielsweise jene von Professor Walter Hollenweger (1927-2016), die dieser in den 1970er- und 1980er-Jahren in den Pfingstkirchen durchgeführt hat. Sie systematisiert und aktualisiert diese.  
Die Entwicklung des Christentums, das ständig zwischen verschiedenen Lehr-, Spiritualitäts- und Kulturzentren interagiert, zu begreifen, ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Erneuerung und Zukunft der Kirchen, auch in Europa. Dies gilt insbesondere für die Protestanten, die häufig dazu neigen zu meinen, dass die moderne, säkulare europäische Kultur den Werten des Evangeliums nahe steht, und die den Beitrag anderer Ausdrucksformen des christlichen Glaubens, die in ihrem Umfeld vorhanden sind, nicht ernst nehmen. Das faszinierende Weltpanorama, das in diesem Buch entfaltet wird, lässt einen etwas atemlos zurück. Unsere monokulturelle Trägheit wird hinterfragt, ebenso wie unser wohlwollender, eurozentrischer und sogar neokolonialistisch herablassender Umgang mit dem Denken der Christinnen und Christen im Süden. 

Ich habe folgende Anregungen mitgenommen, die mir für ein Weiterdenken und eine Vertiefung unerlässlich scheinen:  

Taufe und ökumenische Gemeinschaft 

Die ekklesiologische Grundlage der Überlegungen zur christlichen Einheit auf Basis der Bibelstelle aus Epheser 3 kann Türen öffnen und Blockaden in unserer westlichen Politik und Ökumenepraxis lösen: Im Mittelpunkt vieler interkonfessioneller Lehrdialoge steht heute eine Theologie und Ekklesiologie, die auf der Taufe und damit auf einer persönlichen Glaubensbekundung und Selbstverpflichtung beruht. Dieser kleinste gemeinsame Nenner aller Christinnen und Christen hat ein Potenzial, das unsere Kirchen bislang nicht wirklich ausgeschöpft haben. Es reicht nicht aus, Erklärungen über die gegenseitige Taufanerkennung zu verfassen. Man muss nun einen Schritt weitergehen. Der Jahrestag des Konzils von Nizäa im Jahr 2025 könnte eine hervorragende Gelegenheit sein, den Dialog in dieser Frage auf andere Formen von Kirche auszuweiten. Institutioneller Protektionismus muss durch ökumenischen Inklusivismus ersetzt werden.   

Weltoffene Kirche

Diese Fragestellung verweist uns auch auf die Existenz von Hunderten von Gemeinschaften in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, die aus Migrationskirchen stammen oder interkulturell geprägt sind. Man kann schwerlich begreifen, warum eine Kirche bereit ist, öffentliche Gelder an Buddhisten und Hindus weiterzugeben, aber dabei Zehntausende in der Schweiz lebende christliche Ausländerinnen und Ausländer (oft mit protestantischen Wurzeln) ignoriert, die weder Zwinglis «Liturgie» noch ein Synodereglement verstehen.  

Unsere europäische christliche Monokultur, die zwischen den Anathemata des 16. Jahrhunderts, der historisch-kritischen Methode und der notwendigen maximalen Kohärenz zwischen Glaube und Vernunft steckengeblieben ist, überzeugt die überwiegende Mehrheit der Christinnen und Christen nicht. Für diese ist die Bibel nicht in erster Linie eine Sammlung gelehrter Bücher, sondern eine Botschaft der Freude, der Befreiung und der Hingabe in ihrem Alltag. 

Ent-Kulturation des Christentums 

Wir haben den christlichen Glauben in die europäische Kultur inkulturiert. Die Autorin nennt das Beispiel Japans, wo die Christinnen und Christen die Ideologie des Kaisers unterstützten – es wäre gut, wenn wir uns ein klein wenig in Ent-Kulturation üben und von den grossen kulturellen und moralischen, angeblich christlichen, Leitbildern unserer Gesellschaft lösen würden, hinter denen viele Massaker, Dramen und Niedertracht verborgen sind.  

Wir beginnen gerade erst, insbesondere in den grossen Städten wie Genf, Bern oder Zürich mit einigen lokalen Gemeinschaften aus der Migration oder der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen AGCK interkulturelle Praktiken einzuüben. In Bossey jedoch, in den ÖRK-Gremien und im Global Christian Forum wird bereits seit zwanzig Jahren ein transkultureller Ansatz praktiziert, bei dem sich die verschiedenen Traditionen und Positionen auf Augenhöhe begegnen, einander zuhören und lernen, sich gegenseitig wert zu schätzen und zu bereichern.

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Dieses Buch ist eine unverzichtbare Lektüre für alle europäischen Theologiestudierenden sowie für alle, die ein Amt in der Kirche anstreben, in welcher Funktion auch immer, sowie für ihre Ausbilderinnen und Ausbilder. Es ist ein Grundlagenwerk für die Ausbildung europäischer Theologinnen und Theologen, die in einem multireligiösen und multikulturellen Kontext leben. Eine beeindruckende Bibliografie ergänzt fast jedes Kapitel und ermöglicht ein weiteres Vertiefen in die Thematik. 

Zur Autorin

Christiane Lienemann-Perrin (*1946) ist emeritierte Professorin der Theologischen Fakultät der Universität Basel. Sie promovierte (1976) und habilitierte  (1990) an der Universität Heidelberg. Von 1992 bis 2010 war sie Professorin für Ökumene, Mission und interkulturelle Gegenwartsfragen in Basel und Lehrbeauftragte für Ökumenische Theologie an der Universität Bern. Sie hat in Zaire, Südafrika, Simbabwe, Indien, Japan, Taiwan, Kamerun, Brasilien und den USA gelehrt und geforscht. Letztlich hat Sie an das der Brochüre “Christlicher Glaube und Pluralität in reformierter Perspektive” (Ref. BeJuSo) mitgewirkt.  

Christine Lienemann-Perrin, Metamorphosen des Weltchristentums. Ökumenische Theologie in globaler Perspektive, Kohlhammer, Stuttgart 2023, 388 S. 

Serge Fornerod ist Pfarrer und langjähriger Mitarbeiter der EKS im Bereich Aussenbeziehungen und Werke. Er war auch Leiter des Ost-Europa Programm bei HEKS.

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