«Sucht das Wohl der Stadt» (Jeremia 29,7) gibt der Prophet dem gerade deportierten Volk mit auf den Weg und begründet die Forderung: «denn in ihrem Wohl wird euer Wohl liegen». Aus biblisch-christlicher Sicht sind staatliche Ordnungen für das menschliche Zusammenleben unverzichtbar. Kirche und Staat sind aus guten Gründen unabhängig voneinander und verfolgen nicht die gleichen Ziele. Aber sie existieren nicht nur in der gleichen Welt, sondern teilen auch eine wesentliche Aufgabe: Beide sind um der Menschen willen da und sorgen auf je eigene Weise für Frieden und Gerechtigkeit.
Johannes Calvin war einer der Ersten, der die Errungenschaften einer bürgerlichen Rechtsordnung auch für die Anliegen der Kirche gesehen und stark gemacht hat. Als Migrant aus Glaubensgründen hatte er am eigenen Leib die Gewalt eines autoritären Regimes erfahren. Die Entwicklung der Demokratie und die Durchsetzung der Glaubens- und Gewissensfreiheit gehen Hand in Hand. Die Demokratie ist deshalb keine christliche Staats- und Regierungsform. Aber sie ist diejenige, die dem christlichen Freiheitsverständnis am ehesten entspricht. Deshalb sorgt sich die Kirche um das Recht und ermuntert die Bürgerinnen und Bürger, engagiert für ihr Recht zu sorgen.
Die Demokratie ist eine politische Erfindung der griechischen Antike, die aber erst in der Neuzeit wiederentdeckt wurde. Ihre eigentliche Karriere begann nach dem Zweiten Weltkrieg. Heute gilt sie als die Staatsform, in der menschliche Freiheit und gesellschaftliche Entwicklung am besten ermöglicht und geschützt werden. Der grosse Vorteil der Demokratie besteht in ihrer Flexibilität. Sie ist streitlustig und dynamisch, fehler- und irrtumsfreundlich, reagiert beweglich auf Veränderungen, ist offen für Neues und aufgeschlossen gegenüber Experimenten und Ideen. Demokratie ist notorisch neugierig. Sie ist nicht nur die sportlichste, sondern auch abenteuerlichste politische Regierungsform.
Das alles macht Demokratie sehr anspruchsvoll. Sie mutet den Bürgerinnen und Bürgern die Freiheit der und des anderen zu, fordert Beteiligung ein und setzt auf Transparenz. Demokratie verlangt von allen, Farbe zu bekennen, offen für die eigenen Interessen einzustehen und in den öffentlichen Wettbewerb um Ideen und Lösungen einzutreten. Demokratie ist zwar der Ermöglichungsraum für Eigeninteressen, aber ihr Funktionie- ren wird nur garantiert durch die Solidarität und Verantwortung aller. Deshalb ist die Demokratie auch die ethisch anspruchsvollste Organisation menschlichen Zusammenlebens.
Demokratie heisst wörtlich übersetzt Herrschaft des Volkes. Politische Macht soll nicht in den Händen eines oder weniger Herrschenden liegen, sondern auf die Schultern aller verteilt werden. Anstelle gewaltsamer Durchsetzung, Vererbung oder irgendwelcher Privilegien verleiht das Volk in demokratischen Verfahren politische Macht für begrenzte Zeit. So ist und bleibt das Volk der eigentliche Souverän. Demokratie beruht im Kern auf zwei Grundregeln: 1. Jeder Mensch hat eine Stimme. 2. Jede Stimme zählt gleich viel. Im Idealfall garantieren diese beiden Regeln die Gleichheit aller.
Der Ausdruck «Demokratie» steht meistens als Abkürzung für den demokratischen Rechtsstaat. Demokratie bezeichnet das Verfahren, nach dem das Recht des Staates zustande kommt und kontrolliert wird. Deshalb kommt zu den eben genannten beiden Grundregeln noch ein fundamentales Demokratieprinzip hinzu. Nur die Gesetzgeber dürfen zum Gesetzesgehorsam verpflichtet werden. Diese Forderung bildet ein ethisches Prüfkriterium und funktioniert nach der bekannten «Goldenen Regel». Sie lautet in die Sprache des Rechts übersetzt: Mache keine Gesetze, denen du nicht selbst unterworfen sein willst.
Das Vertrauen im demokratischen Rechtsstaat ruht auf zwei Fundamenten: 1. Es gibt ein Recht, das mich und meine rechtmässigen Interessen schützt. 2. Ich selbst bin als Mitglied des Souveräns an der Gesetzgebung beteiligt und kann in dieser Funktion meine Anliegen einbringen.
Der demokratische Souverän in der Schweiz hält alle politische Macht in seinen Händen. Er duldet keine politische Instanz über sich. Die Bürgerinnen und Bürger sind nur sich selbst gegenseitig verpflichtet. Sie allein können politischer Macht delegieren und die Stellvertretung legitimieren. Sie bestimmen darüber, wer sie auf Zeit politisch vertreten darf. Das Vertrauen in den demokratischen Rechtsstaat ist somit zweigeteilt. Es beruht einerseits auf das Vertrauen in die Gemeinschaft und ihre rechtlichen Ordnungen und andererseits auf das Selbstvertrauen in die eigene Rolle als Mitglied des Souveräns.
Gesellschaftliche Minderheiten sind für die Demokratie eine besondere Herausforderung Minderheiten haben in einem Abstimmungsverfahren, bei dem stets die Mehrheit gewinnt, kaum eine Chance, ihre Anliegen erfolgreich einzubringen und durchzusetzen. Aus dieser Sicht hätten sie wenig Grund, der Demokratie zu vertrauen. Deshalb sind Politik und Gesetzgeber gefordert, die Sache der Minderheiten besonders aufmerksam und sorgfältig zu unterstützen und so zu verstärken, dass auch sie darauf vertrauen können, zu ihrem Recht zu kommen.
Das aktuell am intensivsten wahrgenommene Risiko der Demokratie besteht in ihrem fehlenden Selbstschutz. Demokratie, als Alternative zu autoritären Formen der Politik etabliert, kann sich auf demokratischem Weg selbst demontieren und in autoritäre Strukturen (zurück-)fallen. So paradox es klingt, die Demokratie ist fähig, sich den politischen Boden unter den eigenen demokratischen Füssen wegzuziehen.
Ein weiteres Risiko besteht in der anfälligen Selbstkontrolle direkter Demokratien. Ihr Souverän ist sozusagen Spieler und Schiedsrichter in einer Person. Diese Doppelrolle setzt die Fähigkeit und den beständigen Willen zu selbstkritischer Reflexion des eigenen Handelns voraus. Diese demokratische Selbstverpflichtung wird in einer medial und populistisch inszenierten Politik gefährdet.
Die sinkende Legitimität demokratischer Entscheidungen bildet das dritte Risiko. Die Anzahl der Menschen, die über kein politisches Mitsprache- und Stimmbürgerrecht verfügen, steigt ständig, sodass immer weniger Stimmberechtigte über immer mehr Nichtbeteiligte entscheiden. Wenn immer mehr Menschen Gesetzen unterworfen werden, die sie nicht gemacht und denen sie nicht zugestimmt haben, sinkt die demokratische Legitimität.
Menschenrechte sind dem Staat gegenüber nicht nur äusserlich, sondern der Idee nach schon vor dem Staat da. Wie ihr Name sagt, kommen sie den Menschen zu, allein weil sie Menschen sind. Menschenrechte sind nicht Rechte von Staaten, sondern Rechte der Bürgerinnen und Bürgern gegenüber dem Staat. In den Menschenrechten kommt der gleiche Respekt gegenüber allen Menschen und die unbedingte Schutzwürdigkeit allen menschlichen Lebens zum Ausdruck. Menschenrechte bilden keine Optionen zwischen denen gewählt werden kann. Ihre Unteilbarkeit besagt, dass das Recht auf Menschenrechte stets und in jedem Fall alle Menschenrechte umfasst.
Die Idee der Menschenrechte ist sehr alt. Trotzdem haben ihnen erst die grausamen Erfahrungen zweier Weltkriege zum Durchbruch verholfen. Grundlage aller Menschenrechte bildet die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948. Die beiden 1966 beschlossenen internationalen Pakte über bürgerliche und politische sowie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte wurden sukzessive durch weitere Konventionen ergänzt (Genfer Flüchtlingskonvention, UN-Kinderrechtskonvention, Antifolterkonvention etc.). Die Menschenrechtspakte und -konventionen sind für die Unterzeichnerstaaten verbindlich.
Menschenrechte sind Rechte für die Menschen. Sie schützen vor Übergriffen des Staates, staatsähnlichen Kollektiven, Religionsgemeinschaften und anderen Gruppen und Institutionen. Die Geltung der Menschenrechte kann nicht von den Institutionen abhängig gemacht werden, die im Streitfall auf der Anklagebank sitzen würden. Die Menschenrechte können sich – symbolisch – nur die Mitglieder der Menschheitsfamilie wechselseitig selbst verleihen. Menschenrechte können nicht optional ausgewählt werden, es gibt sie nur als Komplettpaket. Auch deshalb gelten die Menschenrechte unabhängig von jeder Anerkennung durch eine staatliche Gesetzgebung.
Das zwingende Völkerrecht (ius cogens) umfasst die Rechtsnormen, die die Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit anerkannt hat und gegen die kein Staat verstossen darf. Dazu zählen in der Schweiz die Grundzüge des humanitären Völkerrechts und die notstandfesten Garantien von Menschenrechtsabkommen (z.B. Folterverbot, Verbot von Angriffen auf Leib und Leben, Verbot der Todesstrafe, universelle Rechtsfähigkeit, Religionsfreiheit).
Der Wert der Demokratie beruht auf der Erfahrung, dass die Überzeugungen vieler Menschen weniger irrtumsanfällig sind, als die Meinungen einer oder weniger Personen. Aber auch Mehrheiten können irren. Die Gefahr einer Mehrheitsdiktatur wurde von Anfang an als das grösste Problem der Demokratie betrachtet. Vor allem aus zwei Gründen sind die Menschenrechte in der Demokratie unverzichtbar:
Sie bieten den einzigen Schutz davor, dass sich demokratische Entscheidungen gegen das Gemeinwohl und die individuellen Freiheiten der Mitglieder der Gesellschaft richten. Demokratien tun sich schwer mit Minderheiten, weil sie diese übersehen, ihnen deren Anliegen fremd bleiben oder weil sie schlicht auf Minderheiten keine Rücksicht nehmen. Die Anerkennung der Menschenrechte leistet den besten Freiheitsschutz für alle Bürgerinnen und Bürger in der direkten Demokratie.
Demokratien, die über keine unabhängige rechtliche Kontrollinstanz verfügen (Verfassungsgerichtsbarkeit) und in denen die Verfassung jederzeit durch Souveränitätsentscheide geändert werden kann, bieten nur einen schwachen Schutz für gesellschaftliche Minderheiten. Es gibt keine Instanz, auf die die Mehrheit keinen Zugriff hätte und die eine Minderheit im Zweifelsfall auf ihrer Seite wüsste. Die einzige Institution, auf die sich Betroffene in einer solchen Situation stützen können, sind die Menschenrechte.
Obwohl jeder Mensch über die gleichen Menschenrechte verfügt, garantiert das noch nicht die rechtliche Gleichbehandlung aller. Menschenrechte können nur so wirksam sein, wie es Instanzen gibt, die stellvertretend für deren konkrete Durchsetzung eintreten. Je geringer die internen rechtlichen Kontroll- und Rekursmöglichkeiten des Staates sind, desto wichtiger werden externe Kontrollinstanzen. Internationale Gerichte wie der Europäische Menschenrechtsgerichtshof treten einzelnen Bürgerinnen und Bürgern dort unterstützend zur Seite, wo das staatliche System selbst ihre Rechte nicht wahrnimmt oder schützt.
Internationale Gerichte sind keine Konkurrenz zur Demokratie, sondern im Gegenteil ein rechtliches Netz, das die Bürgerinnen und Bürger auffängt, die durch die Maschen des demokratisch legitimierten Rechtssystems fallen. Die Demokratie kann sich ihre groben politischen Maschen leisten, weil sie um das feinmaschigere Netz dahinter weiss und sich auf seine Stabilität verlässt. Darüber hinaus bilden internationale Gerichte eine Art Zukunftsversicherung für den Staat, weil sie für die wichtigste Ressource der Demokratie, die Freiheiten der und der Einzelnen eintreten.
«Im Namen Gottes, des Allmächtigen». Der Anfang der Präambel der Bun- desverfassung ist auch unter Christinnen und Christen umstritten – aber er gehört in die Verfassung! Nicht, weil die Kirche Gott gerne im Gesetzbuch sieht, sondern weil die Anrufung Gottes signalisiert, dass es im Recht noch etwas anderes als den Souverän gibt. Das Recht gehört nicht dem Souverän. Der kluge Souverän kennt noch eine Instanz neben oder über sich, gegenüber der er verantwortlich ist. Sie kann ganz verschieden benannt und mit unterschiedlichen Vorstellungen verbunden werden: Gemeinwohlverpflichtung, ethische Tugenden und Prinzipien, Menschenwürdeschutz, Würde aller Kreatur oder wirklich Gott. Das erste Gebot «Ich bin der Herr dein Gott […]. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.» (Exodus 20,2f.) gilt auch für Recht und Politik. Beide haben die Funktion, Strukturen zu schaffen und zu erhalten, die ein friedliches und ge- rechtes Zusammenleben freier Menschen in wechselseitigem Respekt und mitmenschlicher Solidarität ermöglichen. Gegen die staatliche Missachtung der menschlichen Würde und Freiheitsrechte konnten die Menschen die längste Zeit nur mit den Worten des Apostel Petrus tapfer widerstehen: «Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.» (Apostelgeschichte 5,29) Gott sei Dank können wir heute auf die Menschenrechte und im Notfall auf die Unterstützung durch internationale Gerichte zählen!
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