«Fortpflanzungsmedizin um der Kinder willen»

10 Fragen - 10 Antworten der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz

Frage 1: Worüber wird abgestimmt?

In der Volksabstimmung vom 14. Juni 2015 wurde die Änderung von Artikel 119 der Bundesverfassung angenommen. Die Revision bildete die Voraussetzung für die beabsichtigte Aufhebung des Verbots der Präimplantationsdiagnostik (PID) im geänderten Fortpflanzungsmedizingesetz, das bereits zuvor vom Parlament angenommen worden war. Damit wurde der Weg frei für die Einführung der PID in der Schweiz. Umgehend nach der Volksabstimmung ergriff ein Komitee das Referendum gegen das Fort- pflanzungsmedizingesetz. Am 5. Juni 2016 steht nun die Frage zur Abstimmung, unter welchen Bedingungen die PID in der Schweiz eingeführt werden soll.

Bei der Diskussion stehen verschiedene Fragen im Raum. Neben der grundsätzlichen, durch die Verfassungsänderung entschiedenen Frage, ob die Auswahl von künstlich erzeugten Embryonen überhaupt zugelassen werden sollte, geht es nun um die folgenden Kontroversen: (1.) Unter welchen Bedingungen darf die PID in der Fortpflanzungsmedizin eingesetzt werden? (2.) In welchem Umfang bzw. in welchen Fällen soll das Verfahren der Embryonenselektion erlaubt werden? (3.) Wie soll mit nicht für die Fortpflanzung verwendeten Embryonen umgegangen werden? (4.) Wie kann menschliches Leben auch in seinen embryonalen Anfängen wirksam geschützt werden?

Frage 2: Warum äussert sich der Kirchenbund zur PID?

Der Kirchenbund hat sich in der Vergangenheit immer wieder im Rahmen von Vernehmlassungen und Abstimmungen zur Fortpflanzungsmedizin geäussert. Er lehnt die PID nicht grundsätzlich ab aber klare Rahmenbedingungen sind nötig.

Der Kirchenbund betont die grosse Verantwortung, die alle Beteiligten im Rahmen von PID-Entscheidungen tragen. PID führt Eltern und Mütter – die vom Gesetzgeber als Betroffene genannt werden – nicht in eine medizinische, sondern ethische Grenzsituation. Die vom Gesetzgeber lediglich vorgesehen biomedizinisch-technische und rechtliche Beratung (vgl. Art. 6 FMedG) reicht nicht aus. PID wirft keine medizinischen Probleme auf. Deshalb braucht es anstelle einer bloss medizinischen, auf das Verfahren bezogenen Beratung eine psychologische und ethische Begleitung, die die Folgen von PID-Selektions-Entscheiden sichtbar macht und sorgfältig thematisiert.

Das Anliegen des Kirchenbundes richtet sich auf das Menschenbild hinter den Optionen der Fortpflanzungsmedizin. Er will die biblisch-christliche Sicht auf den Menschen in die öffentlichen Debatten einbringen, die in ihrer Vielfältigkeit und ihrem Reichtum mehr zu bieten hat, als medizinisch-diagnostische Massstäbe und gesellschaftliche Erfolgs- oder Qualitätskriterien gelten lassen. Der Kirchenbund will die Gesellschaft ermutigen, vorurteilsfrei und offen auch auf solche Menschen zuzugehen, die unseren Idealvorstellungen nicht entsprechen und die uns mit ihren Eigenarten herausfordern.

Frage 3: Was ist aus biblisch-christlicher Sicht zur PID zu sagen?

«Denn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, wenn es mit Danksagung empfangen wird.»

(1. Timotheus 4,4)

Auch unter Christinnen und Christen gehen die Meinungen über PID weit auseinander. Konsens besteht darin, dass das Leben eine Gabe Gottes ist, die auch in künstlich erzeugten Embryonen als ein Anspruch Gottes begegnet. Die biblische Botschaft, dass allein Gott der Herr über Leben und Tod ist, bestreitet unsere Verfügungsgewalt darüber, wer leben darf und wer sterben muss. Entscheiden wir trotzdem in vielen Situationen über Leben und Tod müssen wir uns bewusst sein, dass wir damit einen tragischen Grenzbereich menschlicher Freiheit betreten, der niemals zu einer alltäglichen Entscheidungsroutine werden darf.

Die biblische Botschaft bietet eine alternative Sicht auf das Leben. Sie ermutigt zur Dankbarkeit für das Gegebene, zur hoffnungsvollen Annahme des Unerbetenen und auch zum getrösteten Umgang mit Enttäuschungen. Nirgendwo sind die Haltungen der Dankbarkeit, Annahme und Verlässlichkeit unverzichtbarer als in der Eltern-Kind-Beziehung. Sie befähigen beide Seiten, die niemals garantierten und sicheren Umstände des menschlichen Lebens mutig und vertrauensvoll anzunehmen.

Frage 4: Was ist Präimplantationsdiagnostik?

Die PID ist ein diagnostisches Verfahren, um ausserhalb des Mutterleibes künstlich hergestellte Embryonen genetisch zu untersuchen. Für fortpflanzungsmedizinische Tests spricht, dass Paare, die auf eine künstliche Befruchtung angewiesenen sind, besondere genetische Dispositionen aufweisen. Weil diese genetischen Eigenarten der Eltern nicht nur auf das Kind übertragen werden, sondern sich auch negativ auf dessen Entwicklung auswirken können, sollen die Embryonen auf solche genetische Dispositionen untersucht werden.

Die PID ist Teil der künstlichen Herstellung befruchteter Eizellen ausserhalb des Mutterleibes (In-Vitro-Fertilisation, IVF). Die genetische Untersuchung wird neu zwischen die IVF und die Einleitung der Schwangerschaft eingeschoben. Die künstliche Befruchtung ist schon lange erlaubt und ein erprobtes Verfahren auch in der Schweiz. Die Methode ist mit umfangreichen, belastenden medizinische Massnahmen für die Frau verbunden. Bis zu der Verfassungsänderung im letzten Jahr mussten alle künstlich erzeugten Embryonen auch in die Gebärmutter eingepflanzt werden. Mit der PID ändert sich diese strenge Regelung. Nun sollen nur noch die Embryonen verwendet werden dürfen, die sich aus genetischer Sicht als be- denkenlos herausstellen. Die PID kann grundsätzlich zur Diagnose aller bekannten Gene und Mutationen eingesetzt werden.

Frage 5: Wem nützt die PID?

Die PID ist gedacht für Paare und Frauen, die nicht auf natürliche Weise schwanger werden können (vgl. Art. 5, Abs. 1a FMedG) und auf eine künstliche Befruchtung (IVF) angewiesen sind. Weil die Unfruchtbarkeit gene- tisch bedingt sein kann, besteht die Möglichkeit, dass diese genetischen Eigenarten auf das Kind übertragen werden. Gedacht ist an genetische Anomalien (Krankheiten, Behinderungen), die bereits für die Schwangerschaft oder im späteren Leben des Kindes eine schwere Belastung darstellen.

Der Wunsch von Eltern oder Müttern, die eigenen Behinderungen oder Anlagen für eine genetisch bedingte Krankheit ihrem Kind nicht weiterzugeben, verdient Verständnis unabhängig davon, ob die Strategie der Embryonenselektion akzeptiert wird oder nicht. Davon zu unterscheiden ist die Frage, wie der Wunsch der Eltern oder Mutter mit dem unterstellten Wunsch des Kindes zusammenhängt: Kann einem Kind der Wunsch unterstellt werden, dass es unter bestimmten Bedingungen lieber nicht geboren würde? Und könnte diese Vermutung eine Entscheidung gegen bestimmte Embryonen rechtfertigen? Solche Überlegungen widersprechen der in unserem Denken tief verwurzelten Überzeugung, dass niemand das Recht hat darüber zu entscheiden, wie ein anderer Mensch sein Leben wahrnimmt und was für ihn ein gutes Leben ausmacht. Deshalb verbietet es sich bei PID-Selektionsentscheiden, auf irgendwelche «Interesse» des Kindes zu spekulieren.

Frage 6: Macht das neue Gesetz das «Baby nach Mass» möglich?

Die PID ermöglicht eine Auswahl künstlich erzeugter Embryonen im Blick auf ihre genetischen Eigenarten. Als Selektionskriterium nennt das Gesetz die Gefahr einer schweren, unheilbaren Krankheit (vgl. Art. 5, Abs. 1b FMedG). Der Gesetzgeber formuliert bewusst vage, um eine Diskriminierung derjenigen Menschen zu vermeiden, die mit den Krankheiten und Behinderungen leben. Die ausweichende Gesetzesformulierung wirft die grundsätzliche Frage auf: Was ist eine schwere Krankheit? Körperliche, geistige und seelische Beeinträchtigungen werden von Menschen sehr verschieden wahrgenommen und beurteilt. So ist eine diagnostizierte Trisomie 21 für die meisten Schweizer ein Abtreibungsgrund. Menschen mit Trisomie 21 leiden aber nicht immer an ihrer Behinderung, dafür häufig an der gesellschaftlichen Diskriminierung. Sie würden energisch bestreiten, dass ihr Leben für sie selbst eine unerträgliche Belastung darstellt.

Zwar macht der Gesetzgeber Einschränkungen. So soll die Selektion des Geschlechts und anderer Merkmale nur aus medizinischen Gründen erlaubt sein (vgl. Art. 5, Abs. 2 FMedG). Weil aber die Selektionsentschei- dung ausschliesslich von der Frau oder dem Paar selbst getroffen werden darf, bleiben die Motive für ihre Auswahl verborgen. Grundsätzlich gilt, dass alle diagnostizierten Daten als Entscheidungsgrundlage dienen können (von der Veranlagung zu schweren Behinderungen, über das Geschlecht bis hin zu peripheren Merkmalen wie Haar- oder Augenfarbe). Je mehr genetische Informationen erhoben werden können, desto feinmaschiger werden auch die Selektionskriterien. Und je differenzierter die Auswahlkriterien werden, desto realistischer wird die Vision von der Wahl eines «Kindes nach Mass».

Frage 7: Was passiert mit den Embryonen?

In der Diskussion um die medizinisch unterstützte Fortpflanzung begegnen Embryonen meistens nur als Material für biotechnologische Verfahren. Seit langem wird darüber gestritten, ob Embryonen nur «etwas» (eine Sache) oder «jemand» (ein menschliches Wesen) sind. Diese Diskussion ist eigentlich überflüssig. Die Entscheidung für und gegen einen Embryo beruht ausnahmslos auf der Vorstellung, ob dieser Embryo, würde er ausgetragen und geboren, ein gewolltes Kind wäre. Niemand entscheidet bei der PID über Embryonen, sondern immer darüber, ob dieses Kind gewollt ist oder nicht. Es kommt nicht darauf an, welchen Status wir einem Embryo zuschreiben. Entscheidend ist, dass wir ihn bei Selektionsentscheidungen immer als Mensch und zukünftiges Kind betrachten.

Diese Überlegung verdeutlicht die bei der Verfassungsrevision vom Juni 2015 übersehenen Folgen. Mit der Abkopplung der künstlichen Erzeugung von Embryonen vom Zweck der Fortpflanzung fiel nicht nur der Em- bryonenschutz aus der Verfassung. Vielmehr wurde damit die verfassungsrechtliche Rahmenbedingung geschaffen, Embryonen auch für andere Zwecke als die Fortpflanzung zu verwenden. Durch die neue Re- gelung werden überzählige Embryonen erzeugt, die durch kein Recht mehr vor dem wissenschaftlich-technologischen Zugriff geschützt sind. Anstatt den einen Schritt zur Aufhebung des PID-Verbots zu machen, hat der Gesetzgeber die Gunst der Stunde genutzt und ist zwei Schritte gegangen, indem er den Embryonenschutz aufgehoben und die verbindliche Zweckbindung an die Schwangerschaft aufgegeben hat. Dieser Schritt war für die Zulassung der PID völlig überflüssig und schafft die ver- fassungsrechtlichen Voraussetzungen, um Embryonen unabhängig von dem Ziel der Schwangerschaft zu verwenden.

Frage 8: Was bedeutet die PID für werdende Eltern und Mütter?

Grundsätzlich begrüssen wir Entwicklungen, in denen wir nicht mehr ohnmächtig einem Schicksal ausgesetzt sind, sondern selbst bestimmen können, was passieren soll und was nicht. PID und die Pränataldiagnostik stärken in diesem Sinne unsere Kontrollmöglichkeiten am Lebensanfang. Der Preis für diese Kontrollmacht besteht in der Verantwortung, die mit diesen Entscheidungen übernommen und ausgehalten werden muss. Die Embryonenauswahl bestimmt das ganze weitere Leben des Kindes und seiner Eltern bzw. Mutter. Das Kind ist nicht mehr nur der gewünschte, sondern auch der ausgewählte Nachwuchs. Die Mütter oder Eltern wis- sen, dass  ihr Kind nicht nur ihrem einstigen  Kinderwunsch  entspringt, sondern das Ergebnis ihrer damaligen Selektionsentscheidung ist. Die Chance der Wahl kann zu einer grossen Belastung werden. Denn am Ausgangspunkt der Eltern- bzw. Mutter-Kind-Beziehung steht nicht mehr der zukunftsoffene Wunsch nach einer Familie, sondern die Vorstellung davon, wie dieses neue Familienmitglied sein oder nicht sein soll.

Was passiert, wenn das Kind später die damaligen Entscheidungskriterien nicht erfüllt? Werden dann nicht das Kind, die Eltern oder Mutter – auf je eigene Weise – zu Opfern einer propagierten reproduktiven Freiheit, die den Eltern Optionen in Aussicht gestellt hat, die das Leben grundsätzlich nicht bieten kann? Die Freiheit der Wahl im Blick auf das Wie oder Sosein des Kindes ist eine für die Eltern-Kind-Beziehung naive und technisch verkürzte Vorstellung vom menschlichen Leben.

Frage 9: Was bedeutet die PID für zukünftige Kinder?

Mit der Geburt eines Kindes kommt etwas Neues in die Welt. Das war bisher so und wird auch zukünftig so bleiben. Neu ist nicht nur, dass ein Mensch anwesend ist, der vorher noch nicht da war, sondern auch, dass damit neue Möglichkeiten der Begegnung und Entwicklung in der Welt derjenigen auftaucht, die vor ihm schon da waren. Je offener diese Welt dem Kind begegnet, umso mehr Chancen wird es haben, sich und seine Fähigkeiten zu entfalten. Offenheit meint die Fähigkeit, die Zukunft nicht durch eigene Erwartungen zu belasten und einzuschränken und die Bereitschaft, auch das Unerwartete annehmen zu wollen. Eine solche offene Haltung wird durch die Entscheidungsmöglichkeiten der PID und Pränataldiagnostik erschwert. Die Behinderung oder schwere Erkrankung des Kindes stellt die Eltern vor eine enorme und belastende Herausforderung. Aber wie schwer muss diese Situation für Eltern sein, die vorher bei der PID eine Entscheidung gegen genetisch auffällige Embryos getroffen haben, weil für sie die Vorstellung, ein Kind mit einer Behinderung zu haben, unerträglich war? Sie haben sich mit der Inanspruchnahme der PID gegen die Offenheit gegenüber dem Kind entschieden. Und wie empfindet ein Kind, das diese Überlegungen und Entscheidungen der Eltern kennt und deshalb auch weiss, warum ihre damalige Wahl genau auf sie oder ihn gefallen ist? Das Kind wurde gewählt, weil seine genetischen Voraussetzungen etwas in Aussicht stellten, das das Kind im Falle eines tragischen Lebensschicksals nicht mehr erfüllen kann.

Wir müssen uns ernsthaft fragen: Ist es wünschenswert, dass Eltern und Kinder in Zukunft unter diesem Damoklesschwert elterlicher Erwartungen existieren müssen?

Frage 10: Welche Rahmenbedingungen braucht die PID?

Das Referendum zum Fortpflanzungsmedizingesetz versucht, einigen unerwünschten Folgen der letztjährigen Verfassungsrevision entgegenzuwirken. Der Kirchenbund bedauert, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck vermittelt wurde, als könnten die bedenklichen Aspekte der damaligen Abstimmung durch das Referendum korrigiert werden. Das ist nur sehr eingeschränkt möglich. Heute besteht allenfalls die Chance, den in der Verfassung gestrichenen Embryonenschutz auf niedrigerer Gesetzesstufe zu verankern. Auch die mit der Verfassungsrevision vollzogene Abkopplung der künstlichen Erzeugung von Embryonen von dem ausdrücklichen Zweck der Schwangerschaft lässt sich nicht wieder zurücknehmen.

Deshalb hält der Kirchenbund an den bereits in der Vergangenheit geforderten Rahmenbedingungen fest: 1. PID sollte als Ausnahmeregelung zu einem rechtlich festgeschriebenen Embryonenschutz zugelassen wer- den. 2. Die künstliche Herstellung von Embryonen gilt ausschliesslich dem Zweck der Ermöglichung einer Schwangerschaft. 3. Weil bei der Embryonenselektion keine medizinische Entscheidung getroffen, sondern ein Kind gewählt wird, brauchen Eltern eine kompetente psychologische und ethische Beratung, die neben der konkreten Entscheidung die unter Umständen belastenden Folgen offen und konstruktiv thematisiert.

Das Referendum kann nicht retten, was durch die überzogene Verfassungsrevision verlorengegangen ist. Trotzdem unterstützt der Kirchenbund das inhaltliche Anliegen des Referendums für angemessene Rah- menbedingungen der PID.

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