Ehe, Elternschaft, Kinder

10 Fragen - 10 Antworten aus Sicht der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz

Die Ordnung von Ehe und Familie bildete ein wichtiges reformatorisches Anliegen. Für die reformierte Tradition waren und sind Ehe, Elternschaft und Familie stets Wirklichkeitsräume und Bewährungsfelder christlicher Freiheit. Kirchliche Kasualien und Rituale begleiten das gesamte Familienleben. In all dem ist die bleibende kirchliche Aufmerksamkeit für Ehe- und Familienfragen begründet.

Die gesellschaftlichen Entwicklungen machen vor der Kirche nicht Halt. Deshalb ist das kirchlich-theologische Nachdenken darüber wandlungsbedürftig und ergänzungsfähig. Christlich-ethische Orientierung will den Lauf der Welt nicht aufhalten, sondern im Blick auf das gute Leben konstruktiv-kritisch begleiten. Reformation gehört in den Alltag und fordert Kirche und Theologie heraus, immer wieder neu über die eigenen Bücher zu gehen: immer wieder neu Rechenschaft abzulegen über die eigene Glaubenshoffnung (1Petr 3,15) und immer wieder neu die neuen Möglichkeiten zu prüfen und das Gute zu behalten. (1Thess 5,21).

2021 hat das Schweizer Stimmvolk der Einführung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zugestimmt. Bereits 2019 hatte die Synode der Evangelisch-reformierten Kirche den Mitgliedkirchen im Falle einer Annahme empfohlen, die neue Eheregelung liturgisch nachzuvollziehen. Nach der Revision des Eherechts stellt sich nun die Frage nach den Konsequenzen für Ehe, Eltern, Kinder und Familien. Die evangelisch-reformierte Kirche hat sich in der Vergangenheit verschiedentlich zu bioethischen Herausforderungen der Fortpflanzungsmedizin geäussert. Im Zentrum der nicht invasiven Präimplantationsdiagnostik (NIPT), Invitro-Fertilisation (IVF) und Präimplantationsdiagnostik (PID) standen ethisch-theologische Überlegungen zum Lebens- und Embryonenschutz. Weil gleichgeschlechtliche Ehepaare – abgesehen von der Kindsadoption – ohne fortpflanzungsmedizinische Unterstützung nicht Eltern werden können, stellen sich nun neue Fragen: Wem sollen welche fortpflanzungsmedizinischen Massnahmen zur Gründung einer eigenen Familie zugänglich gemacht werden?

Der Rat EKS nimmt diese Herausforderung zum Anlass für eine theologisch-ethische Grundlagenreflexion. Die theologische Ethik beteiligt sich seit langem intensiv an den bioethischen Fachdiskursen. Aber ein breites innerkirchliches Gespräch hat bisher nicht stattgefunden. Angesichts der anstehenden bioethischen Fragen von grosser gesellschaftspolitischer Reichweite, legt der Rat EKS eine theologisch- ethische Studie vor: Ehe, Elternschaft, Kinder. Was folgt aus der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare?, Bern 2022. Sie entwickelt und erläutert theologisch-ethische Grundlagen für einen «sachgemässen» und «menschengerechten» (Arthur Rich) kirchlichen Dialog über die Fortpflanzungsmedizin im Zusammenhang von Ehe, Elternschaft und Familie. Der vorliegende Text bietet in Form von 10 Fragen – 10 Antworten eine thesenartige Zusammenfassung der umfangreichen Studie. Beides, Studie und das vorliegende Dokument verstehen sich nicht als abschliessende Position, sondern als Beiträge aus evangelisch-reformierter Sicht zum gesamtgesellschaftlichen Prozess der Meinungsbildung.

Mit grosser Mehrheit hat die Abgeordnetenversammlung/ Synode der EKS die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare unterstützt. Die angestossenen fortpflanzungsmedizinischen Fragen stellen sich aber grundsätzlich für alle Paare, die eine Familie gründen wollen. Für den Rat EKS ist eine biomedizinisch informierte und theologisch- ethisch begründete Diskussion unverzichtbar. Mögen die 10 Fragen – 10 Antworten und die Studie das Gespräch bereichern.

Rita Famos

Präsidentin EKS

Frage 1: Wie viel Gottesbund steckt im Ehebund?

Mit dem Bundesschluss (Ex 24) bindet sich Gott selbst an seine Schöpfung und macht die Geschöpfe zu seinen Bundespartnerinnen und -partnern. Die segnende Kraft der göttlichen Zuwendung begegnet bereits im Schöpfungssegen (Gen 1,22.28). Nach dem Sündenfall erneuert Gott die gestörte Verbindung zwischen ihm und seiner Schöpfung durch einen Gnadenbund (Noah-, Abrahams-, Sinaibund). In der geschichtlichen Welt verwirklicht sich das Bundesversprechen in Gottes immer neuen segensreichen Begegnung mit seiner Schöpfung.

Die Bibel erzählt und deutet die Menschheitsgeschichte als Bundesgeschichte, die alle Lebensbereiche umfasst. Für die reformierte Theologie gehören Ehe und Familie selbstverständlich dazu. Deshalb wird der Eheschluss zwar durch einen staatlichen Vertrag besiegelt, gründet aber in dem von Gott gestifteten Bund, um dessen Segen in der kirchlichen Trauung gebeten wird.

«Bund» aus biblisch-theologischer Sicht meint wesentlich Begegnung: auf vertikaler Ebene von Gott und auf Gott hin und auf horizontaler Ebene zwischen den Geschöpfen. Merkmal der Bundesbeziehungen zwischen Gott und den Menschen und den Menschen untereinander ist die Treue. Sie zeigt sich in der immer neuen, hinwendenden und anerkennenden Begegnung, die an den Bund erinnert und ihn bestätigt. Der Bund markiert also keinen formalen Status, wie ihn der Ehevertrag herstellt, sondern eine eigene Praxis, die die Wirklichkeit der Ehe als immer neue Begegnung der Bundespartnerinnen und -partner konstituiert. Menschen gehen nicht einfach einen Bund ein. Vielmehr bringt der Bund die Menschen neu als Verbündete hervor. Der Gottesbund bildet kein theologisches Schema für die Ehe, sondern die Ehe erscheint umgekehrt als ein Symptom des Gottesbundes. Beide Bünde bewähren sich in der Verbindlichkeit der wiederkehrenden Begegnungen der dadurch verbundenen Menschen.

Frage 2: Was bedeutet «Leben» aus biblisch-theologischer Sicht?

Die reformierte Tradition versteht die Ehe als einen von Gott gestifteten Bund, den zwei gleichgestellte Menschen miteinander eingehen. Er ist einbezogen in den Bund Gottes mit allen Menschen und – wie dieser – gekennzeichnet durch die Merkmale der Verbindlichkeit, Einzigartigkeit, Verletzlichkeit, des Verzeihens und die stete Erneuerung und Bestätigung.

Mit den modernen Biotechnologien rückt der Lebensbegriff in den wissenschaftlichen Fokus (life sciences). Der fachliche Blick profitiert von einer langen kulturellen Entwicklung, die das Verständnis vom Leben immer stärker auf seine biologisch beobachtbaren und medizinisch- technisch beeinflussbaren Aspekte konzentriert. Das biblische und antike Denken hatte ein ungleich komplexeres Bild vom Leben, das drei wesentliche Dimensionen umfasst:

1. ES: Das objektive biologische Leben-in-der-dritten-Person (griech. zoe, hebr. hajjim), das als Gegenstand von der Biologie und Naturwissenschaften beobachtet und beschrieben und in das medizinisch ein- gegriffen wird; 2. ICH: das subjektive biographische Leben-in-der- ersten-Person (griech. bios, hebr. jamim), das ein Mensch führt und das seine Lebensgeschichte ausmacht; 3. DU: das eine geschöpfliche Leben-in-der-zweiten-Person (griech. psyche; hebr. naepaes), an dem Menschen teilhaben ohne darüber verfügen zu können.

Die drei Dimensionen zusammen machen das Leben eines Menschen aus.

Jede Lebensdimension hat ihre eigene Sprache: 1. das biologische Leben («es») wird wissenschaftlich beschrieben, definiert und kategorisiert (Lebens-, Gesundheits-, Krankheitsbegriffe usw.); 2. das biographische Leben («mein») wird erzählt, gedeutet und geordnet (Bio- graphie, Literatur, Moral, Ethik, Recht); 3. das geschöpfliche Leben («unser») wird gemeinsam gehört und erzählt. Es ist das Leben, an dem Menschen teilhaben, ohne dass es ihr Leben ist. Jede der drei Thematisierungsweisen von Leben ist verknüpft mit den anderen, keine lässt sich gegen eine andere austauschen. Die Art und Weise, wie wir über ein Leben sprechen, bestimmt, was wir von diesem Leben wahrnehmen und erwarten.

Frage 3: Wie gehen biologisches, biographisches und geschöpfliches Leben zusammen?

Die Ordnung der Lebensdimensionen ist entscheidend. Der objektivierende biologische Blick auf das Leben wird begrenzt durch die subjektiv biographische Perspektive: Die autonome Person bestimmt, ob und wie die Medizin in ihr Leben eingreifen darf. Und woran sich die Entscheidung der autonomen Person orientiert, hängt vom Horizont ab, durch den die Sicht der Person auf ihr Leben bestimmt wird. Die Bibel betrachtet alles Leben aus der Perspektive der Geschöpflichkeit als Bestimmt-Sein durch Gott, den Schöpfer, Erhalter und Vollender allen Lebens. Während die biologische Sicht vom Bestimmbaren des Lebens ausgeht, beginnt eine biblisch-theologische Sicht umgekehrt bei dem Bestimmt-Werden des Lebens. Es handelt sich um alternative Zugänge zum Leben, nicht aber um konkurrenzierende Lebensbegriffe.

Die reformierte Tradition versteht das Leben stets als Einheit seiner biologischen, biographischen und geschöpflichen Dimension.

Menschliches Leben ist in Geschichten verstrickt. Auf die Frage, wer wir sind, reagieren wir, indem wir über uns erzählen: Geschichten über die eigenen Entwicklungen in den Netzen ihrer Beziehungs- und Lebens- welten, Geschichten über die eigene Herkunft und Heimat, Geschichten über eigene Überzeugungen, Hoffnungen und Ziele und Geschichten über das eigene Gelingen und Scheitern und Neubeginnen. Darin begegnen die verschiedenen Perspektiven, wie auf das Leben geschaut werden kann, unentwirrbar verknäult. Aus der Eigenperspektive kann nicht zwischen biologischem, biographischem und teilhabenden Leben unterschieden werden. Identität wird greifbar, wenn die erzählende Person selbst in ihren Geschichten steckt, diese deutet, neu erzählt und sich damit identifiziert. Identität besteht weniger darin, was eine Person über sich sagt, als in der Fähigkeit, sich selbst, Gott und andere hörend zu erleben und im Hören und Erleben zu deuten. Diese Wahrnehmung ist das geschöpfliche Hören, das in der Einsicht des Paulus gründet: «Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir» (Gal 2,20).

Der Apostel beschreibt kein medizinisches Wunder oder einen pathologischen Zustand, sondern erlebt seine biologische und soziale Existenz als Teilhabe am Leben Gottes. Das biologische und biographische Leben wird dadurch nicht relativiert. Die paulinische Erkenntnis setzt keine Grenze, sondern rückt das eigene Leben in einen befreienden, die eigene Person überschreitenden Lebenshorizont. Davon sprechen die biblischen Erzählungen, die so lebendig werden, wie sich die Hörenden darin entdecken.

Auf das Leben, das von aussen kommt, kann nicht biologisch oder biographisch zugegriffen werden. Ihm zu entsprechen bedeutet, die eigene leibliche Existenz aus der Perspektive der biblischen Erzählungen wahrzunehmen und zu erleben. Die Gestaltung und Mit-Teilung des leiblichen Lebens erfolgt in diesem Horizont.

Aus reformierter Tradition beschränkt sich Gottes schöpferisches Bundes- und Segenshandeln nicht auf die Bedingungen biologischer Kausalität und genetischer Genealogie. Vielmehr zeigt es sich in der Wirklichkeit, die im Hören und Erzählen der biblischen Geschichten von Gottes Mitsein mit seinen Geschöpfen entsteht.

Frage 4: Ist die medizinisch assistierte Fortpflanzung ein Segen?

Die wichtigsten aktuellen Methoden medizinisch assistierter Fortpflanzung sind die Samen- und Eizellspende, die künstliche Befruchtung ausserhalb des Mutterleibes (Invitro-Fertilisation), die Diagnose und Auswahl von künstlich befruchteten Embryos (Präimplantationsdiag- nostik) und die Pränataldiagnostik (medizinisch: PND, nichtmedizinisch: NIPT). Ergänzend hinzu treten die Konservierung von Keimzellen (social egg freezing), Keimbahntherapie, Uterustransplantation und Ersatzmutterschaft. Die weltweit praktizierten Verfahren sind nicht überall zugelassen und der Zugang ist national sehr unterschiedlich geregelt.

Das schweizerische Fortpflanzungsmedizingesetz beschränkt fortpflanzungsmedizinische Massnahmen auf Paare, die sich aus biologischen und medizinischen Gründen nicht natürlich fortpflanzen können. Ausge- schlossen werden damit gleichgeschlechtliche Paare, bei denen eine Elternschaft auf natürlichem Weg in der Beziehung nicht möglich ist. Der Grundsatz, dass künstlich nicht herbeigeführt werden soll, was natürlich nicht möglich ist, wird vom Gesetzgeber mit dem Kindeswohl begründet. Schöpfungstheologische Positionen argumentieren, dass das Natürliche dem Schöpfungswillen Gottes entspricht. Die Natur dient dort als moralische Grenze, die nicht technisch überschritten werden darf.

Eine segens- und bundestheologische Perspektive setzt anders an. Das Natürliche bildet weder eine unüberschreitbare moralische Norm, noch geht die menschliche Fortpflanzung im menschlichen Handeln auf. Leben unter dem Segen Gottes beantwortet nicht die Frage, was Leben ist, sondern worauf Leben bezogen ist. Gottes segnendes Bundeshandeln zeigt sich in der Geschichte der Schöpfung. Gott selbst, der Schöpfer, unterliegt den geschichtlichen Bedingungen nicht. Gott ist in seinem Willen und Handeln frei gegenüber den geschöpflichen Beschränkungen. Er überschreitet sie in seiner Gegenwart immer wieder in wunderbarer Weise.

Die Geburt jedes Kindes erzählt nicht nur eine medizinische oder moralische Geschichte, sondern immer auch die Geschichte des segnenden, Leben schaffenden Handelns Gottes. Das gilt selbstverständlich auch für jedes Kind, das mit Hilfe fortpflanzungsmedizinischer Verfahren gezeugt und geboren wurde.

Frage 5: Sind alle Kinder eine Gabe Gottes?

Hinter der modernen Fortpflanzungsmedizin steht das Grundrecht auf individuelle Fortpflanzungsfreiheit (reproduktive Autonomie). Es schützt die persönlichen Überzeugungen, Urteile und Entscheidungen über die eigene Fortpflanzung und gründet in dem Menschenrecht auf die Selbstverfügung über den eigenen Körper. Aus der persönlichen Fortpflanzungsfreiheit folgt weder ein Recht auf Elternschaft, noch ein Recht auf ein eigenes Kind. Die Grundrechte schützen den berechtigten Kinderwunsch, aber garantieren nicht seine Erfüllung.

Auch im biotechnologischen Zeitalter setzt die Geburt eines Kindes einen Anfang, der menschlicher Absehbarkeit und Berechenbarkeit entzogen ist. Menschliche Fortpflanzung bleibt auch unter den Bedingungen medizinischer Unterstützung, Kontrolle und Planbarkeit ein Ereignis, in das eingegriffen, das aber nicht gemacht werden kann. Das Wunder von Zeugung, Schwangerschaft und Geburt, das die Menschen in der Bibel bezeugen und auf das sie mit ihren Möglichkeiten eingriffen, lässt sich auch heute nicht technisch, medizinisch oder moralisch einholen. Deshalb kommen sich Gott und die Fortpflanzungsmedizin nicht in die Quere. Der Dank für die Geburt eines Kindes gilt dann Gott und der Medizin. Die Segensgeschichte von der Geburt eines Kindes ist eine andere, als die Geschichte der fortpflanzungsmedizinischen Begleitung bei einem Kinderwunsch, ohne dass die eine Geschichte die andere ausschliesst. Aus biblisch-theologischer Sicht besteht kein Zweifel: Jedes Kind ist ein Geschenk Gottes.

Allerdings tendieren die Versprechen der modernen Fortpflanzungsmedizin dazu, die Unverfügbarkeit der Geburt auszublenden. Kirchliche und theologische Fundamentalkritik riskiert umgekehrt, die medizinischen Möglichkeiten zu überschätzen und das segensreiche Handeln Gottes an einem mit fortpflanzungsmedizinischer Unterstützung gezeugten und geborenen Kind zu ignorieren. Die Erwartung, dass Gottes Wille geschehe, gilt ebenso im Ehebett wie in der Fortpflanzungsmedizin. Dabei besteht die Segenshoffnung unabhängig davon, ob sich der Kinderwunsch erfüllt oder nicht. Die bleibende Entzogenheit geschöpflichen Lebens, in dem die Gabe ausbleiben oder in etwas völlig Unerwartetem bestehen kann, muss nicht nur theologisch, sondern auch medizinisch und moralisch anerkannt werden.

Frage 6: Was ist für ein Kind unverzichtbar?

Kein Mensch verdankt seine Existenz sich selbst. Das völlige Angewiesensein auf andere gehört zu den ursprünglichsten menschlichen Erfahrungen. Zu keinem Zeitpunkt sind Menschen abhängiger, angewiesener und fremdbestimmter, als vor ihrer Geburt und in ihren ersten Lebensjahren. Die besondere Schutzbedürftigkeit in diesen Lebensphasen spiegelt sich wider im Recht und in der Ethik. Das Recht definiert negativ die Grenzen dessen, was einem Kind auf keinen Fall angetan werden darf. Die Ethik reflektiert positiv die normativen Massstäbe verantwortlicher Elternschaft. Recht und Ethik müssen aber voraussetzen, was sie selbst nicht einfordern und bewirken können: die unmittelbare, liebende Hinwendung und Fürsorge der Eltern für ihr Kind. Daraus folgt: Jedes Kind hat einen unhintergehbaren Anspruch darauf, um seiner selbst willen gewollt, geliebt, behütet und gefördert zu werden. Jedes Kind hat ein Recht auf Zugehörigkeit, das heisst darauf, 1. im stabilen und verlässlichen sozialen Netz einer Familie aufzuwachsen; 2. als Kind seiner Eltern rechtlich, gesellschaftlich und sozial anerkannt zu sein und 3. um seine genetische und biologische Herkunft zu wissen. Unerlässlich dafür ist die rechtliche und gesellschaftliche Anerkennung der Elternschaft des Paares, das die Eltern des Kindes sind. Die Fortpflanzungsmedizin hat die Aufspaltung zwischen sozialer (rechtliche Mutter), genetischer (Eizellspende) und biologischer (Ersatzmutterschaft) Mutterschaft und zwischen sozialer (rechtlicher Vater) und genetischer (Samenspende) Vaterschaft möglich gemacht. Die Segmentierung und Pluralisierung von Elternschaft ändert nichts an dem doppelten Anspruch jedes Kindes: 1. Jedes Kind hat eine Mutter und einen Vater und das Recht darauf, über seine Herkunft informiert zu werden. 2. Jedes Kind hat das Recht, als das Kind der Eltern, die seine Familie sind, anerkannt zu werden. Aus kirchlicher und theologisch-ethischer Sicht gilt: Alle Kinder haben das gleiche Recht darauf, dass ihre Eltern als ihre Eltern und sie als Kinder ihrer Eltern anerkannt werden.

Frage 7: Was wird mit dem Kindeswohl geschützt?

Nach biblischem Verständnis sind Kinder – unabhängig ihrer Herkunft, Zeugungsart und Geburt – ein Segen Gottes. Das Kindeswohl (best interest of the child) bildet das normative Ziel der 1989 verabschiedeten UN-Kinderrechtskonvention, in der auf menschenrechtlicher Ebene fundamentale Rechte des Kindes festgeschrieben werden. In Abgrenzung zu älteren Konzeptionen, die negativ die besondere Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit von Kindern betonen, fokussiert die Kinderrechtskonvention positiv auf die individuellen Belange des Kindes zu Förderung seiner Persönlichkeit, Talente und Stärken. Das Kindes- und Jugendalter erhält einen Eigenwert im Recht des Kindes auf den heutigen Tag. Weil Kindheit und Jugend das spätere Erwachsensein wesentlich prägen, hat jedes Kind einen fundamentalen Anspruch auf das Recht auf eine offene Zukunft. Für Eltern und Erziehungsberechtigte können der Respekt gegenüber dem subjektiven Willen des Kindes und die Perspektive des objektiven besten Interesses für das Kind in ein spannungsvolles Verhältnis treten. Immer muss es darum gehen, dass die erwachsene Person, die das Kind einmal sein wird, über die Freiheiten und ein grösstmögliches Mass an Fähigkeiten verfügen wird, um ein selbstbestimmtes, sozial integriertes und zukunftsoffenes Leben führen zu können.

Die Beschränkung des Zugangs zur Fortpflanzungsmedizin auf verschiedengeschlechtliche Ehepaare begründet der Gesetzgeber mit dem Kindeswohl. Es gälte Familienverhältnisse zu verhindern, die von den «natürlicherweise möglich[en]» abweichen. In irreführender Weise wird die Natur der Fortpflanzung als ethische Fundamentalnorm für das Kindeswohl behauptet. Das widerspricht erstens der ethischen Grund- einsicht, dass aus dem, was ist, nicht abgeleitet werden kann, was sein soll. Das Natürliche ist wünschenswert, nicht weil es von Natur aus ist (wie auch Erdbeben und Krankheiten), sondern sofern es moralisch gut und erstrebenswert ist. Zweitens zeigt die prekäre Lebenswirklichkeit vieler Kinder, dass die Natürlichkeit der Fortpflanzung nicht ihr späteres Wohlergehen garantiert. Das eine (die Tatsache der Zeugung und Geburt) hat mit dem anderen (dem glücklichen Aufwachsen des Kindes) nichts zu tun. Drittens läuft die Gesetzgebung auf die absurde Konsequenz hinaus, dass mit dem Kindeswohl nicht das Wohlergehen zukünftiger Kinder geschützt, sondern umgekehrt ihre Existenz verhindert wird. Viertens diskriminiert die Gleichung «natürlich = zum Wohl des Kindes» die Paare, die auf nichtnatürlichem Weg Eltern werden, und deren Kinder. Der Gesetzgeber behauptet das Kindeswohl nicht aus Verantwortung für das kindliche Wohlergehen, sondern aus Sorge um den Bestand eines traditionellen Familienbildes aus dem vorletzten Jahrhundert.

Jedes Kind ist ein Segen Gottes. An den Kindern zeigt sich das Reich Gottes (Markus 10, 13–16). Ihr Wohlergehen ist ein Ausdruck der göttlichen Nähe und um seiner selbst zu schützen.

Frage 8: Wo stösst die Fortpflanzungsmedizin an ihre Grenzen?

Biotechnologien sind weit mehr als komplexe Werkzeuge. Sie prägen unsere Wahrnehmungen der Welt, unsere Selbst- und Menschenbilder sowie die daran anschliessenden sozialen Praktiken. Die Menschen in der Vergangenheit waren mit ungleich grösseren Überlebensherausforderungen konfrontiert als wir, aber mit überschaubaren Verantwortungsproblemen. Heute stellt das Überleben zumindest bei uns kein vergleichbares Problem dar. Dagegen fordert die Gestaltung des guten Lebens in einer komplexen und häufig uneindeutigen Welt enorm heraus. Je stärker die Grenzen der Unverfügbarkeit zurückgedrängt werden, desto mehr weiten sich die Entscheidungs- und Verantwortungsräume aus.

Dank der modernen Fortpflanzungsmedizin sind Elternschaft und ungewollte Kinderlosigkeit für viele Paare kein – auch von Stigmatisierung bedrohtes – Schicksal mehr. Umgekehrt ermöglichen Biotechno- logien medizinische Eingriffe von zuvor unbekannter Eingriffstiefe und mit weitreichenden, teilweise unabsehbaren Folgen. Die kirchlichen Debatten waren in der Vergangenheit geprägt von der Unverfügbarkeit des (ungeborenen) menschlichen Lebens als Ausdruck der Gottebenbildlichkeit einerseits und der persönlichen Selbstbestimmung als Bewährungsraum christlicher Freiheit andererseits. Beide Leitorientierungen sind für eine biblisch-theologisch informierte und ethisch reflektierte kirchliche Position unverzichtbar. Die Würde und Freiheit der Eltern und Paare mit einem Kinderwunsch verdienen die gleiche Anerkennung wie die Würde und Freiheit geborener und zukünftiger Kinder. Diese Bedingungen sind für Paare erfüllt, die aus eigenem, freiem Willen Eltern werden. Für zukünftige Kinder bestehen sie dagegen nur als vorausgehendes Versprechen der werdenden Eltern. Weil das Recht das vorgeburtliche Leben nur in engen Grenzen schützt, hängt alles am elterlichen Versprechen, die Würde und Freiheit des zukünftigen Kindes in allen Phasen des vorgeburtlichen Lebens anzuerkennen, zu berücksichtigen und zu schützen.

Deshalb stösst die Fortpflanzungsmedizin grundsätzlich dort an ihre Grenzen, wo sie zukünftige Eltern mit Informationen, Handlungsoptionen und Entscheidungssituationen konfrontiert, die eine vorbehaltlose Beziehung der Eltern zu ihrem zukünftigen Kind nicht berücksichtigt, in Frage stellt oder empfindlich stört. Wenn Paare fortpflanzungsmedizinische Massnahmen dafür verwenden, um ein Kind gemäss ihrer eigenen Interessen auszuwählen oder genetisch zuzurichten, wird die Würde und Freiheit der zukünftigen Personen eingeschränkt und missachtet. Prekär sind in diesen Fällen nicht das fortpflanzungsmedizinische Verfahren an sich, sondern die Absichten, mit denen sie eingesetzt werden.

Aus reformierter Sicht gilt: Fortpflanzungsmedizinisches Handeln ist daran zu orientieren, dass sich die Menschen, die daraus hervorgehen, immer und unmittelbar als Geschöpfe Gottes verstehen und erleben und von ihren Mitmenschen als solche wahrgenommen werden.

Frage 9: Wie ist ungewollte Kinderlosigkeit ethisch zu beurteilen?

Fortpflanzungsmedizin reagiert auf die unerfüllten Kinderwünsche von Paaren. Der elterliche Wunsch ist weder auf eine medizinische Behandlung, noch auf einen bestimmten Embryo gerichtet, sondern auf ein eigenes, möglichst gesundes Kind. Das gilt für verschiedengeschlechtliche Paare ebenso wie für gleichgeschlechtliche Paare. Der «Wunsch nach Kindern» stellt für das Schweizerische Bundesgericht «eine elementare Erscheinung der Persönlichkeit» dar. Deshalb hat jede Frau und jeder Mann das Recht darauf, sich frei und ohne Einflussnahme von aussen für oder gegen ein Kind entscheiden zu können. Paare mit einer Unfruchtbarkeit sollen zur Verwirklichung ihres Kinderwunsches fortpflanzungsmedizinische Unterstützung erhalten, zumindest aber nicht vom Staat daran gehindert werden, solche Massnahmen in Anspruch nehmen zu können.

Der Gesetzgeber definiert Unfruchtbarkeit biologisch und medizinisch. Eine sozial bedingte Unfruchtbarkeit durch die geschlechtliche Konstellation schliesst er dagegen (bisher) aus. Er begründet die rechtliche Ungleichbehandlung damit, dass gleichgeschlechtliche Paare selbst keine Nachkommen zeugen und gebären können. Das Natürlichkeitsargument übersieht, dass künstliche Fortpflanzung ipso facto darauf zielt, natürliche Prozesse zu umgehen und zu ersetzen. Aus fortpflanzungsmedizinischer Sicht sind die Ausgangsbedingungen, der Behandlungszweck und die elterliche Zielperspektive von verschieden- und gleichgeschlechtlichen Paaren gleich: Es geht um Zeugungshindernisse, die medizinisch überwunden werden können, um Paaren ein Kind und damit die Gründung einer eigenen Familie zu ermöglichen.

Die Natur begrenzt nicht menschliche Wünsche, sondern ihre Erfüllung. Technik zielt seit jeher darauf, die Grenzen der Natur zu überschreiten. Deshalb wäre es paradox, Zugangsbeschränkungen zu Techniken mit der Natur zu begründen. Grenzen werden moralisch und rechtlich gezogen, etwa wenn die Anwendung einer Technik ein erstrebenswertes natürliches Gut unwiderruflich zerstören würde. Bei der fortpflanzungsmedizinischen Unterstützung gleichgeschlechtlicher Paare für ein eigenes Kind wird keine Natur zerstört.

Die Natürlichkeitsgrenze begründet nicht, warum der unerfüllte Kinder- wunsch bei gleichgeschlechtlichen gegenüber verschiedengeschlechtlichen Paaren nicht zählt. Die rechtliche Ungleichbehandlung verteidigt eine Naturkausalität, die von der Fortpflanzungsmedizin längst überwunden worden ist. So wird aus einer natürlichen Beschränkung, die technisch überwunden werden kann, eine neue, künstlich gezogene Grenze mit diskriminierender Wirkung. Ungewollte Kinderlosigkeit und unerfüllte Kinderwünsche haben medizinische und soziale Ursachen und müssen als existenzielles Schicksal, das alle Aspekte der Person ergreift, wahr- und ernstgenommen werden.

Frage 10: Was meint verantwortete Elternschaft in fortpflanzungsmedizinischen Zusammenhängen?

Der Neuanfang mit jeder Geburt gründet in der göttlichen Zusage:

«Bevor ich dich gebildet im Mutterleib,  habe  ich  dich  gekannt» (Jer 1,5). Aus kirchlicher und theologisch-ethischer Sicht gehören die individuellen Freiheits- und Persönlichkeitsrechte von (zukünftigen) Eltern und (zukünftigen) Kindern einerseits und das beziehungsstiftende Segenshandeln Gottes andererseits untrennbar zusammen. Die individualisierende Rechtsperspektive kann nicht erklären, wie aus einzelnen Familienmitgliedern eine Beziehung wird, die nicht in jedem Fall freiwillig zustande kommt und die jede Person in je eigener Weise ausmacht und bestimmt. Wie können selbstbestimmte Personen als Paar – biblisch gesprochen – «eins» und «ein Fleisch» werden (Mt 19,5f.) und was macht das mit ihrer persönlichen Freiheit?

Das existenzielle Bezogensein des Kindes auf die Eltern ist so fundamental, dass sogar die Freiwilligkeit des elterlichen Verhaltens gegenüber ihrem Kind fraglich wird. Die Autonomieperspektive reicht nicht aus, um Eltern-Kind-Verhältnisse angemessen zu erfassen. Sie greift zu kurz im Blick sowohl auf das wesentlich stellvertretende elterliche Handeln für ihr Kind, als auch auf die existenzielle Abhängigkeit des Kindes von seinen Eltern. Die Fortpflanzungsfreiheit darf nicht aus der Perspektive einsamer Subjekte, sondern muss relational als gelebte Beziehungen bestimmt werden. Eltern-Kind-Beziehungen beruhen auf einer elterlichen Selbstbindung, die über persönliche Eigeninteressen weit hinausgeht. Dem entspricht das Wagnis, das mit jeder Zeugung, Schwangerschaft und Geburt eingegangen wird. Die Geburt eines Kindes ist keine Tat, weder der gebärenden Mutter noch des geborenen Kindes, sondern ein Empfangen der Welt für das Kind und des Kindes für die Welt. Das Empfangen ist kein biologisch oder medizinisch beschreibbarer Vorgang, sondern ein Ereignis, mit der die gemeinsame Familiengeschichte der Eltern und des Kindes beginnt.

Eltern-Kind-Beziehungen sind eine Gabe, die den Blick auf drei Merkmale geschöpflicher Existenz lenkt: «Demut, Verantwortung und Solidarität. […] In einer sozialen Welt, die Beherrschung und Kontrolle schätzt, ist Elternschaft eine Schule der Demut. Dass uns unsere Kinder viel bedeuten, wir uns jedoch nicht aussuchen können, welche wir wollen, lehrt Eltern, für das Unerbetene offen zu sein. Diese Offenheit ist eine Haltung, die zu bekräftigen sich lohnt, nicht nur in den Familien, sondern auch in der übrigen Welt. Sie lädt uns ein, das Unerbetene zu ertragen, mit Unstimmigkeit zu leben, den Drang zum Kontrollieren zu zügeln.»*

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