Theologisch-ethische Überlegungen zwischen Nächstenliebe und Gerechtigkeit
Frieden ist aus christlicher Sicht zwar nicht der Normalfall aber zweifellos der «Ernstfall» (Karl Barth). Die biblische Botschaft klingt eindeutig: «Selig, die Frieden stiften, sie werden Söhne und Töchter Gottes genannt werden.» (Matthäus 5,9) Mehr noch, Christus selbst «ist unser Friede» (Epheser 2,14a). Nicht einmal der realexistierende Sozialismus konnte sich der Ankündigung des Propheten Jesaja entziehen: «Und er wird für Recht sorgen zwischen den Nationen und vielen Völkern Recht sprechen. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Speere zu Winzermessern. Keine Nation wird gegen eine andere das Schwert erheben, und das Kriegshandwerk werden sie nicht mehr lernen.» (Jesaja 2,4) Die Nächstenliebe im jüdischen Heiligkeitsgesetz (Leviticus 19,18) wird in der Bergpredigt Jesu ausdrücklich auch als Feindesliebe eingefordert (Matthäus 5,44) und das biblische Tötungsverbot mündet konsequent in das Doppelgebot der Liebe (Matthäus 22,37–40), das nicht nur den Dekalog tugendethisch zusammenfasst, sondern eine kontrastierende Lebensform der Achtung, Empathie und Caritas profiliert.
Jesu Äusserungen zur Gewaltfrage sind differenziert. Zwar verwirft er bei seiner Gefangennahme in Getsemani (Matthäus 26,47–56) den gewalttätigen Widerstand durch einen Jünger: «Steck dein Schwert an seinen Ort! Denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen.» (V. 52) Aber er begründet den Verzicht auf Selbstverteidigung nicht pazifistisch, sondern machtstrategisch: «Oder meinst du, ich könnte meinen Vater nicht bitten und er würde mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel zur Seite stellen?» (V. 53) Jesus hatte die Macht, Gewalt abzulehnen, weil er darüber verfügen konnte. Gewaltverzicht setzt voraus, Gewaltmittel zu haben und diese auch einsetzen zu können. Es macht einen gravierenden Unterschied, ob eine Person zum Gewaltopfer wird, weil sie freiwillig auf Gegengewalt verzichtet, oder weil sie sich nicht dagegen wehren kann. Deshalb formuliert der Philipperhymnus präzise aktivisch: «Er […] hielt nicht […] daran fest, Gott gleich zu sein, sondern gab es preis und nahm auf sich das Dasein eines Sklaven, wurde den Menschen ähnlich […]. Er erniedrigte sich und wurde gehorsam […] bis zum Tod am Kreuz» (Philipper 2,6–8). Und auch der zweite Grund für Jesu Gewaltverzicht bemüht kein pazifistisches Ethos, sondern verweist auf seinen göttlichen Auftrag: «Doch wie würden dann die Schriften in Erfüllung gehen, nach denen es so geschehen muss?» (Matthäus 26,54)
Auffällig ist, dass sich Jesus mit keinem Wort auf die naheliegendste Begründung der fünften Antithese der Bergpredigt (Matthäus 5,38–42) bezieht. Dort hatte er radikalen Gewalt- und Rechtsverzicht verlangt: «Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel.» (Matthäus 5,39f.) Ulrich Luz hat die Forderungen als «ein Stück bewusster Provokation» gedeutet. «Es geht um Verfremdung, um Schockierung, um einen symbolischen Protest gegen den Regelkreis der Gewalt. Ihre Evidenz haben sie nicht darin, dass das von ihnen geforderte Verhalten plausibel wäre». Vielmehr soll in dem aktiven Verhalten «ein Stück Protest und ein Stück provokativer Kontrast gegen die die Welt beherrschende Gewalt stecken». Wie die Rahmung (Matthäus 5,44–47) der Logien zeigt, präsentiert die Bergpredigt kein moralisches Pflichtenheft, sondern exemplarische Taten der Liebe der christlichen Gemeinde im anbrechenden, die Welt scharf kontrastierenden Gottesreich. Allerdings sind die Impulse Jesu «[n]irgendwo, vielleicht nicht einmal bei Matthäus, […] in voller Schärfe durchgehalten worden». Das gilt erst recht für die Rezeptionsgeschichte, die entlang zweier Hauptlinien verläuft. Die radikale Linie einer konsequenten Lebenspraxis reicht bis zur konstantinischen Wende und wechselt dann auf die relativierende, Kirche und Staat integrierende Linie, die seit der Reformation von den entstehenden konfessionellen Grosskirchen weitergeführt wird, während täuferische und bestimmte calvinistische Strömungen zum radikalen Anspruch der frühchristlichen Gemeinden zurückkehren. Die Verschärfung der Sünden- und Rechtfertigungslehre einerseits und die klare Frontstellung gegen die täuferischen Kreise andererseits führten dazu, dass in der Reformation «zum ersten Mal die Töne [überwiegen], die die Unerfüllbarkeit der Bergpredigt betonen». Sie wurde relativierend unter der paulinischen Gesetzeskritik subsumiert, als eine Form der Werkgerechtigkeit diskreditiert und verlor durch die Individualisierung des Gottesverhältnisses zunehmend ihren Haftpunkt in der christlichen Nachfolgegemeinschaft. So resümiert Ulrich Luz, dass es «im Bereich der Reformationskirchen zu einer wirklichen Praxis des Christentums von der Bergpredigt her weithin nicht gekommen ist» und schliesst die kritische Beobachtung an: «Keine Bergpredigtauslegung war jemals ganz davor geschützt, das zu rechtfertigen, was in der Kirche zu ihrer Zeit faktisch geschah.» Dessen ungeachtet vermag aber das radikale Nebeneinander von Gewaltverzicht und Liebesforderung «die christliche Liebe an ihre Herkunft aus dem Reich Gottes […] zu erinnern» und sie «davor zu bewahren, nur weltliche Überlebenshilfe zu sein».
In der langen moralischen Auslegungstradition der Verkündigung Jesu hat der barmherzige Samaritaner (Lukas 10,25–37) einen prototypischen Status. Allerdings steht die Demonstration der Nächstenliebe im bekanntesten Gleichnis Jesu bei genauem Hinsehen für eine ambivalente Normierung und ein handfestes Dilemma der christlichen Moral. Einerseits umgeht eine als Pflichtmoral stilisierte Nächstenliebe die vom Gesetz notwendig offengelassene Frage nach der nächsten Person und kassiert damit die Pointe des Gleichnisses. Andererseits läuft die verpflichtende Nächstenliebe als Passepartout für eine christliche Lebensweise auf eine problematische Verkürzung der realen Lebensverhältnisse hinaus. Denn das Gleichnis springt erst reichlich spät auf den fahrenden Zug menschlicher Gewalt und Ungerechtigkeit auf. Das Verbrechen und Unrecht sind bereits geschehen, bevor der moralische Typus des barmherzigen Samaritaners auftritt. Seltsamerweise verlieren die einschlägigen Deutungen kein Wort über die Gewaltverursacher, die «Räuber». Das hat die äusserst merkwürdige Konsequenz, dass die «Räuber», denen der Mann auf dem Weg nach Jericho zum Opfer fällt, auf schicksalhafte Weise immer schon da sind. Damit erscheinen die eigentlichen Gewalttäter:innen immer als die vom Gleichnis gar nicht angesprochenen Anderen. Natürlich antwortet Jesus mit dem Gleichnis auf die spezifische Frage nach dem Umgang mit Notleidenden im eigenen Gesichtsfeld. Es ist dezidiert kein Gleichnis über Gewaltstrukturen und -praktiken, die die Opfer hervorbringen. Die Erzählung interessiert sich nicht für die Ursachen von Gewalt, sondern fokussiert auf den Umgang mit ihren Folgen. Das ist unproblematisch, solange sich die Rezeption des Gleichnisses präzise auf die Frage des Schriftgelehrten, wer die nächste Person sei, bezieht und nicht auf die völlig andere Frage nach dem Umgang mit Gewalt und Unrecht. Die Vermischung beider Fragen in der Kirchen- und Theologiegeschichte hatte verheerende Konsequenzen. Die Halbierung der Gewaltfrage durch die einseitige Konzentration auf das Verhalten gegenüber Gewaltopfern, leistet jener fatalistischen Lebensphilosophie Vorschub, die Voltaire mit seinem «Candide» karikiert, der trotz aller erlittenen Übel und Katastrophen unerschütterlich an dem Dogma von der «besten aller möglichen Welten» aus Gottfried Wilhelm Leibniz’ «Theodizee» festhält.
Gegen eine solche Verzerrung von Ethik hilft nur die sorgfältige Analyse des Sachverhalts. In der Sache kommt im Gleichnis die Gewalt mit den «Räubern» und nicht mit dem «Schriftgelehrten» und dem «Priester» in die Welt. Deshalb kann die Nächstenliebe nicht auf eine mit Empathie vollzogene Notfallversorgung und eine Kostenübernahme der anfallenden Pflege reduziert werden. Wäre das ausreichend, kämen Rechtsstaaten mit breit ausgebauten Gesundheits- und Sozialsystemen und mit Gesetzen, die die «Unterlassung der Nothilfe» (Art. 128 StGB) unter Strafe stellen, dem Gottesreich verblüffend nahe. Die Gesamtperspektive wirft eine im Gleichnis nicht gestellte Frage auf: Wie hätte der barmherzige Samaritaner gehandelt, wenn er zur Tatzeit am Ort des Geschehens gewesen wäre und die «Räuber» auf frischer Tat ertappt hätte. Wäre er dann immer noch als das Barmherzigkeitsparadigma in die westliche Moralgeschichte eingegangen? Hätte er robust für das Gewaltopfer Partei ergriffen oder versucht, gewaltfrei zu intervenieren, oder es vorgezogen, das Ende des Angriffs abzuwarten? Die Fantasien pendeln zwischen Harry Callahan und Beatrix Kiddo, Che Guevara und Angela Davis oder Mahatma Ghandi und Mutter Theresa. Weil Jesus die Frage nicht stellt, ist auch keine Antwort von ihm überliefert. Aber das macht die Frage nicht obsolet. Zweifellos gingen die Dirty Harry- oder Kill Bill-Variante mit dem jesuanischen Liebesethos nicht wirklich zusammen. Aber die Alternative, Liebe nicht mit Gewalt zu verrechnen und konsequent gewaltfrei zu reagieren, hätte die absurde Folge, den Täter:innen liebevoll zu begegnen, indem dem Opfer diese Liebe vorenthalten würde. «Vor allem wollen die gewaltlos-gewalttätigen Rufe dies eine nicht wahrnehmen: dass der Friede der einen je und je erkauft wurde mit dem Unfrieden der anderen.» Aus der Haltung der Nächstenliebe folgte ein Ethos der notorischen Verspätung, das die Ursachen von Ungerechtigkeit und Gewalt systematisch verschläft, eine Art Besenwagenmoral, die sich darauf beschränkt, die Scherben zusammenzukehren und die Wunden zu kurieren.
Es mag theoretisch oder mental möglich sein, Täter:innen und Opfer – vielleicht sogar gleichzeitig – zu lieben, aber solche Glasperlenspiele sind genauso wenig für Gewaltkonflikte im wirklichen Leben gemacht, wie die Liebe für dialektische Fingerübungen taugt. Unter der Prämisse, dass es erstrebenswert ist, alle Menschen ohne Ansehung ihres Verhaltens zu lieben, müssen die Person und ihre Taten umso sorgfältiger unterschieden werden. Gewalttätiges, unrechtes oder ungerechtes Verhalten ist allein deshalb nicht liebenswert, weil dieser Vorsatz die Gewalt widerstandslos hinnehmen und damit das Liebesgebot selbst pervertieren würde. Die Nächstenliebe und das Recht haben eine differenzierte, arbeitsteilige Perspektive auf Unrecht und Gewalt: Während die richterliche Iustitia über die Handlungen ohne Ansehung der Person urteilt, blickt die Nächstenliebe umgekehrt ausschliesslich auf die Person und nicht auf ihre Handlungen. Darüber hinaus lässt sich die Nächstenliebe grundsätzlich nicht mit Imperativen kombinieren. Der Forderung, auch die andere Wange hinzuhalten, kann ausschliesslich in der 1.-Person-Perspektive beherzigt werden. Das kann nur ich selbst von mir selbst verlangen. Eine 3. Person kann unmöglich darauf verpflichtet werden. Die zu allen Zeiten beliebte Herrschaftsstrategie der Mächtigen, die Nächstenliebe an die Machtlosen fremd zu adressieren, stürzt auch die Kirchen in abgrundtiefe Glaubwürdigkeitskrisen. Die Forderung geriete selbst aus einer Haltung der Nächstenliebe in einen Selbstwiderspruch, weil die Adressat:innen ihre eigene Leidens- und Opferbereitschaft den Empfänger:innen verpflichtend oktroyieren würden. Die Vehemenz, mit der Jesus die Nächstenliebe einfordert, nötigt zu Rückfragen, einerseits nach den Grenzen ihres Raums und ihrer Reichweite und andererseits nach den Konsequenzen für ihre Absender:innen und Adressat:innen. «Liebe aber hat die Freiheit, ihre Folgen zu bedenken.»
Die biblische Frage, ob auf Gewalt mit Gewalt reagiert werden dürfe, kennt neben der oben skizzierten jesuanischen auch eine differenzierte jüdische Antwort. Holzschnittartig kann im ersten Testament ein dreifaches Verständnis von Gewalt unterschieden werden: Sie wird entweder (1.) kategorisch als Ausdruck der geschöpflichen Sündhaftigkeit (prototypisch der Brudermord Kains an Abel, Genesis 4) gedeutet oder (2.) konkret als Verstoss gegen die göttlichen Gebote (der Rachemord Moses’ am ägyptischen Aufseher, Exodus 2,11f.; Davids heimtückischer Tötungsplan für Urija; 2. Samuel 11) oder (3.) umgekehrt als Ausdruck eines expliziten Gottesauftrags und einer besonderen Gottesnähe bzw. -begabung (Esthers Anordnung eines Massakers gegen die Feinde ihres Volkes, Esther 8f.; das Selbstmordattentat Simsons, Richter 16). Die Beurteilung von Gewalt hängt nicht an den Handlungen selbst, sondern an ihrer Autorisierung. Gewalt wird geächtet, wenn sie aus menschlichen Affekten, Motiven und Gründen erfolgt, sie gilt als Ausdruck des Gottesgehorsams und kann unter der Annahme, dass Gott selbst durch die Person handelt, als Bestätigung seiner Gegenwart gelten. Ein Verbrechen stellt aus jüdisch-christlicher Sichtein Vergehen gegen Gott selbst und seine Gebote dar. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass Gott nicht nur das Recht setzt, sondern auch durchsetzt und sofort (jüdisch) oder am Ende (christlich) als Richter sanktioniert. Daneben kennen besonders die alttestamentlichen Texte ein Verhalten im Auftrag Gottes, das sich auf der Handlungsebene von einem Verbrechen nicht unterschieden werden kann. Dadurch erzeugt das biblische Gewaltverständnis eine moralisch irritierende Lücke: Gewalt ist verboten und wird bestraft, es sei denn, dass sie auf ausdrückliche Anordnung Gottes geschieht. Genauer handelt es sich um eine Gerechtigkeitslücke: «Schafft Recht dem Geringen und der Waise, dem Elenden und Bedürftigen verhelft zum Recht. Rettet den Geringen und den Armen, befreit ihn aus der Hand der Frevler» (Psalm 82,3f.).
Gerecht ist grundsätzlich ein Handeln, das mit geltendem Recht übereinstimmt. Wer einer verarmten und verschuldeten Person – gemäss dem damals geltenden Recht – das gepfändete Gut zurückgibt, wird als gerecht vor Gott bezeichnet: «So wirst du gerecht sein vor dem Herrn, deinem Gott.» (Deuteronomium 24,13) Allerdings wurden legalistische Vorstellungen von Gerechtigkeit unter den Bedingungen der Staatlichkeit zum Gegenstand massiver prophetischer Kritik. Denn aus der Kopplung der Gerechtigkeit mit dem Recht folgt, dass sich Gerechtigkeitsfragen nur dort stellen, wo es auch Gesetze gibt. Was kein Gesetz regelt, kann ipso facto kein Thema von Gerechtigkeit sein. Wo kein Recht herrscht, gibt es keine Schuldigen, keine Kläger:innen und Richter:innen. Wo kein Recht für Ordnung sorgt, stellt sich die Gerechtigkeitsfrage nicht. Darüber hinaus kann legales Handeln ungerecht und gerechtes Handeln Unrecht sein, wenn das Recht selbst dem kritischen Massstab der Gerechtigkeit widerspricht. Deshalb muss es anstelle von Gesetzestreue darum gehen, «was die Welt im Innersten zusammenhält». Bereits die Zielbestimmung weist Gerechtigkeit als ein göttliches Merkmal aus. Das Subjekt der Gerechtigkeit stiftet die Gemeinschaft, die denjenigen, die kein Recht auf ihrer Seite haben, zu ihrem Recht verhilft. Allerdings schaffen Gesetze bestenfalls den normativen Rahmen für ein beziehungsförderndes Zusammenleben. Biblische Gerechtigkeit zielt dagegen auf eine lebensförderliche Beziehungspraxis. Entsprechend wird der hebräische Ausdruck für Gerechtigkeit (hebr. zdq, zedaqah) mit «Gemeinschaftstreue» übersetzt. Gott hält seinem Volk und seiner Schöpfung die Treue. Der stärkste Ausdruck für dieses einseitige, durch Gott gegebene Loyalitätsversprechen ist der «Bund». Wenn Gott Abraham die Gabe des Landes zusagt (Genesis 15,17f.), dann gilt dieses Versprechen absolut und unabhängig davon, ob Israel seine Bundesverpflichtungen hält oder bricht. Der Noah-Bund (Genesis 9) kennt keine wechselseitigen Vertragspartner:innen, sondern wird einseitig von Gott geschlossen und hängt ausschliesslich an der Treue Gottes gegenüber seinem Volk und seiner Schöpfung. Gerechtigkeit und Treue Gottes bilden die untrennbare Einheit des «ewigen Bundes» (Genesis 17,7.13; Exodus 31,16).
Im Blick auf die Ausgangsfrage nach der Gewalt gehören Frieden und Gewalt zu einer Dreieckskonstellation mit den Eckpunkten Gewalt, Gewaltverzicht und Recht/Gerechtigkeit. Die dritte Dimension kann sowohl mit Gewaltlosigkeit als auch mit autorisierter Gewaltanwendung verbunden sein. Frieden bezeichnet danach ein komplexes und konflikthaftes Verhältnis von Gerechtigkeit und lebensfördernder Beziehungshaftigkeit, das nicht der Gewalt kategorisch gegenübersteht, sondern die Möglichkeit – göttlich – autorisierter Gewalt offenhält. Die Struktur der Dreieckskonstellation bildet der Segensbund Gottes mit seinem Volk und seiner Schöpfung.
Der Basler Psychiater, Psychoanalytiker und Lehrbeauftragter für Jüdische Studien Aron Ronald Bodenheimer hat anlässlich eines Symposiums zu seinem 80. Geburtstag im Jahr 2003 ein flammendes Plädoyer gegen eine Moral der Gewaltlosigkeit und ihre religiösen Beschwichtigungsversuche gehalten. Er problematisiert eine moralische Lesart biblischer Texte, nach der diese einen Soll-Zustand des Friedens beschreiben, der als strahlender Kontrast dem düsteren Ist-Zustand realer Gewaltverhältnisse gegenübersteht. Er hinterfragt die binäre Logik, die den Gegensatz zwischen Frieden und Gewalt als systemische Soll-Ist-Abweichung beschreibt. Die biblischen Lebenswirklichkeiten präsentieren sich alles andere als friedlich und kommen darin der Gegenwart ziemlich nahe. Deshalb ist davon auszugehen, (1.) dass es handfeste Gründe gegeben hat, warum die Themen Gewalt und Frieden in der Bibel derart prominent behandelt werden, und (2.) dass die damaligen Motive eng mit den Gründen zusammenhängen, warum wir heute immer noch über die biblischen Zeugnisse, Moralvorstellungen und Gebote nachdenken. Wäre es anders, würden die biblischen Texte damals und heute nur Eulen nach Athen tragen.
Bereits das paradiesische Desaster zu Beginn der Geschichte der Schöpfung verdeutlicht, dass die Bibel nicht auf eigene Erkenntnis, sondern auf einsichtigen Gehorsam setzt. Zu den vielen seltsamen Zeugnissen gehört die Beobachtung, dass sich Gott kaum für Abel, das Opfer des Brudermordes, interessiert, aber umso mehr für Kain, den Täter. Wir wissen nichts über die Psychologie Gottes, aber nach menschlichem Ermessen kann davon ausgegangen werden, dass er mit Antrieben rechnet, die Sigmund Freud als Eros und Thanatos beschrieben hat. Die psychoanalytische Destruktion unserer sehnsüchtigen Idealisierungen wird durch die Erfahrung bestätigt, dass Ideale viel häufiger gegen als für die Wirklichkeit behauptet werden und häufig dazu dienen, die jeweils anderen zu gängeln oder zu vertrösten. Das spricht unter zwei Bedingungen nicht gegen die Hoffnung auf Frieden und Versöhnung: (1.) Hoffnung als handlungsleitende Erwartung bestimmt die eigene Person und darf nicht von Dritten eingefordert werden. (2.) Hoffnung akzeptiert die Bereitschaft zur schmerzhaften Anerkennung einer widersprechenden und widersprüchlichen Realität, die sich nicht aktionistisch oder empörungsrhetorisch aus der Welt schaffen lässt.
Die Friedenshoffnung und die Nächstenliebe nehmen grundsätzlich einen prekären Standpunkt in einer biblisch gefallenen bzw. politik- und sozialphilosophisch gewaltgesättigten Welt ein. Sie sind mehr Protest gegen als Programm für die realen Verhältnisse. «Und Jesus Christus bildet das Modell einer Haltung, deren Erscheinung in der Geschichte als Verheissung eher denn als Realität gültig bleibt.» Unter den Bedingungen historischer Kontingenz werden Selbstverteidigung und Selbstbehauptung unverzichtbar, für die die durch den endzeitlichen Erwartungshorizont geprägte Bergpredigt keinen Blick hatte. Bezeichnenderweise begegnet der Topos der Selbstverteidigung in der theologischen Ethik lediglich im Kontext der scholastischen, aus dem Naturrecht abgeleiteten Lehre vom gerechten Krieg (das bellum iustum-Kriterium des rechtmässigen Grundes, causa iusta). Die Schwierigkeiten mit dem Begriff der Selbstverteidigung zeigen sich aktuell in der Konfrontation einer kirchlichen und theologischen Friedensethik, die auf Gewalteinhegung, Friedensförderung und eine restriktive rechtserhaltende Gewalt setz(t)en, mit der politischen Realität eines völkerrechtswidrigen Angriffskriegs, in dem die Ukraine ihr Selbstverteidigungsrecht als souveräner Staat (gemäss Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen) in Anspruch nimmt.
Der Ukraine-Krieg bildet aber nur ein aktuelles Exempel für ein grundsätzliches gerechtigkeitsethisches Problem im Umgang mit und bei der Beurteilung von Gewalt. Als Konsequenz aus den Religions- und Bürgerkriegen des 16. Jahrhunderts entwickelte die politische Philosophie der Neuzeit ein staatliches Grundmodell, das durch drei wesentliche Merkmale gekennzeichnet war: (1.) Die staatliche Herrschaft soll von den Beherrschten selbst legitimiert werden. (2.) Die Beherrschten verzichten auf die eigene Gewaltausübung zugunsten des staatlichen Gewaltmonopols. (3.) Die Bürger:innen sollen nur den Gesetzen unterworfen werden, die sie sich selbst gegeben haben. Das Gewaltmonopol ist die einzige Sphäre in der liberalen Gesellschaft, die nicht auf die Demokratisierung des Zugangs, sondern umgekehrt auf seine Autokratisierung setzt. Es zielt nicht auf die Abschaffung von Gewalt, sondern auf die Eindämmung und Sanktionierung ziviler Gewalt (bürgerliche Pflicht zum Gewaltverzicht mit Ausnahme der Notwehr und Nothilfe). Hinzu tritt die Gewaltenteilung (die Gewaltausübung der Exekutive wird geregelt durch die Legislative und kontrolliert durch die Judikative) zur Zähmung der staatlichen Zwangsgewalt. Die zivilisatorische Errungenschaft dieser Gewaltenordnung kennt politisch-rechtlich keine echte Alternative, weist aber aus ethischer Sicht zwei systemische Schwachstellen auf: (1.) Das Gewaltmonopol befriedet zivile Gewalt nicht dadurch, dass es Gewalt abschafft, sondern durch den Auf- und Ausbau staatlicher Zwangs- und Gewaltbefugnisse neu adressiert und de facto von unten nach oben «umverteilt». (2.) Das von der Exekutive ausgeübte Gewaltmonopol verteidigt präzise das Recht, das ihre Zwangs- und Gewaltbefugnisse legitimiert. Sie verfolgt schwangere Frauen, die eine Abtreibung vornehmen, oder Personen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung, wenn das Recht diese Praktiken kriminalisiert, und verliert ihr Interesse, sobald das Recht sie entpönalisiert. Einerseits etabliert das Gewaltmonopol Praktiken ohne Subjekt. Die Person (als moralisches Subjekt) verschwindet hinter ihrer Funktion als staatliches Vollzugsorgan. Andererseits tritt die Person dort hervor, wo sie gesellschaftlich verbreitete Wertungen und Vorurteile in ihrer Berufsrolle adaptiert (Racial Profiling, Sexismus, Gender- und gruppenspezifische Diskriminierung).
Der konfliktreiche Zusammenhang spiegelt sich auch in der Konstruktion des Rechts selbst wider. Kriminalität bezeichnet Formen von Gewalt, die geltendes Recht brechen und das staatliche Gewaltmonopol unterlaufen. Als kriminell gilt ein Handeln, für das eine Person, der es als ihre Tat zugerechnet werden kann, strafrechtlich verurteilt wird. Abgesehen von der universalen Geltung der Menschenrechte (Folter und Sklaverei sind an jedem Ort der Welt gleich verabscheuungswürdig), hängt die Beurteilung einer Tat ab von den kulturell geprägten normativen Ordnungen. Die Frage, was als legitime Gewaltanwendung gilt (lat. potestas) und welche Formen von Gewalt verboten sind (lat. violentia), muss vor dem jeweiligen kulturellen Hintergrund beantwortet werden. Die normativen Ordnungen in den westlichen Kulturen gründen ursprünglich in religiösen Vorstellungen von einem vorgefundenen Sittengesetz, das später naturrechtlich und rechtsphilosophisch begründet und ausdifferenziert wurde, bevor es die heutige Form positiver rechtlicher Setzungen annahm. Dabei arbeiten moralische und rechtliche Normensysteme Hand in Hand. Moral und Recht bilden das normative Fundament für ein gelingendes soziales Zusammenleben und die dafür unverzichtbaren Kategorien von Freiheit, Absicht (Willen), Schuld, Zurechnung, Verantwortung und Strafe. Es braucht allgemein anerkannte Vorstellungen des Guten und Rechten, um ein abweichendes, schlechtes oder unrechtes Handeln identifizieren zu können (lat. crimen von lat. cernere = unterscheiden). Ohne Rechtsordnung kein Unrecht. Und es braucht einen belastbaren Freiheitsbegriff, um einer Person ein schlechtes oder unrechtes Handeln und die daraus resultierenden Folgen zurechnen zu können. «Kriminell» wird ein Verhalten durch rechtlich-politische und gesellschaftlich-soziale Zuschreibung. Wer über das Gewaltmonopol verfügt, besitzt auch die Definitionsmacht über die Rechtmässigkeit und Unrechtmässigkeit des Gewaltgebrauchs.
Das neuzeitliche Recht tappt in die gleiche Falle, die schon die biblischen Propheten den jüdischen Rechtskorpora bescheinigt hatten. Auch die neuzeitliche Idee, Gerechtigkeit verfahrenstechnisch zu prozeduralisieren, ändert nichts an dem grundsätzlichen Problem einer selbstreferentiellen und sich selbst immunisierenden Rechtsordnung. Das Recht hat immer auch die Funktion, sich selbst – seine Anerkennung und Geltung – gegen abweichende Interessen der Rechtssubjekte zu verteidigen. Als zwangsbewehrte Ordnungsmacht hat der Staat aber nicht nur die Pflicht, gegen rechtlich definierte Kriminalität gewaltsam vorzugehen, sondern die prioritäre Aufgabe, die persönliche Integrität und die Freiheits- und Anspruchsrechte seiner Bürger:innen zu garantieren und zu schützen. Zwar folgt rechtsstaatliches Recht dem Egalitätsgrundsatz, aber die Materialität der Rechte birgt enorme Ungleichheiten. Es ist eine Sache, Gewalt zu erfahren. Es ist eine völlig andere Sache, Gewalt zu erfahren und dabei über keine rechtlichen Schutzgarantien zu verfügen. Der zweite Fall bildet keine Ausnahmesituation, sondern demonstriert die hegemoniale Grundierung des Rechts, die Elsa Dorlin als «Herrschaftsökonomie der Gewalt» bezeichnet, «die paradoxerweise die Personen verteidigt, denen schon immer das Recht zugestanden wurde, sich selbst zu verteidigen. Diese Ökonomie behauptet die Legitimität bestimmter Subjekte, physische Gewalt zu gebrauchen, überträgt ihnen den Machterhalt und die Gerichtsbarkeit (die Selbstjustiz) und räumt ihnen die Erlaubnis zum Töten ein.»
Die strukturelle Ungerechtigkeit im Recht lässt sich nicht rechtlich einholen, weil die Staatsorgane das Recht anwenden und durchsetzen, das sie darauf verpflichtet, es anzuwenden und durchzusetzen. Ob diese Rechte gerecht sind, ist keine juristische Frage, sondern eine ethische, die gegenüber der geltenden Rechtsordnung notwendig subversiven Charakter hat. Gerechtigkeit fokussiert auf die einzelne Person im Blick darauf, wie sie durch Staat und Gesellschaft in ihrer Persönlichkeit, Schutzwürdigkeit sowie mit ihren legitimen Ansprüchen, Interessen und Bedürfnissen angemessen respektiert und berücksichtigt wird. Welches Handeln als kriminell gilt, ist also nicht nur eine Frage geltenden Rechts, sondern auch der kritischen und regulativen Idee von Gerechtigkeit. Weil eine Nivellierung dieser Spannung immer auf Kosten der Gerechtigkeit ginge, braucht das rechtsstaatliche Gewaltmonopol ein beständiges, kritisches Gegengewicht.
Die rechtsaffinen reformierten Reformatoren hatten eine klare Vorstellung von dem Spannungsverhältnis zwischen Gerechtigkeit und Recht und seinen Folgen für die Ordnung der Gewalt. Aus der Bibel übernahmen sie zwei inkommensurable Grundsätze, die die beschriebene Spannung nicht nur aufnehmen, sondern lebenspraktisch integrieren. Grundsätzlich ist jede Person zum Gehorsam gegenüber staatlichem Recht verpflichtet: «Jedermann ordne sich den staatlichen Behörden unter, die Macht über ihn haben. Denn es gibt keine staatliche Behörde, die nicht von Gott gegeben wäre; die jetzt bestehen, sind von Gott eingesetzt.» (Römer 13,1) Neben dieser Regel für den Normalfall setzen sie eine Ausnahmeregel, die im Grenzfall zu Tragen kommt, und methodisch einen permanenten Stachel für jede menschliche Rechtsordnung setzt: «Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.» (Apostelgeschichte 5,29) Der allgemeine Rechtsgehorsam stösst dort an seine Grenzen, wo er den persönlichen Ungehorsam gegenüber Gott erzwingt. Das Handeln gegen das göttliche Gebot (Sünde) wiegt prima facie schwerer als der Bruch von staatlichem Recht (kriminelles Handeln). Der Geltungsvorrang betrifft aber nicht – wie im Recht – eine Normenhierarchie innerhalb eines Normensystems, sondern zwischen den beiden Normensystemen des göttlichen Gebots und des menschlichen Rechts. Im Kern geht es um die oben erwähnte Frage der Autorisierung, genauer um eine alternative Autorisierung, die selbst nicht zum Gegenstand einer Normierung werden kann. Der demokratische Rechtsstaat und seine Legitimität werden genauso vorausgesetzt, wie der Gott, an dessen Geboten eine Person oder Gemeinschaft ihr Leben orientiert. Als normativer Horizont ersetzt der säkulare Normalfall der liberalen Demokratie die vormoderne Selbstverständlichkeit des religiösen Glaubens. Insofern betrifft die reformatorische Einschränkung, dass die Verpflichtung auf geltendes Recht keine unbedingte und kategorische, sondern nur eine bedingte und relative sein kann, nicht nur die religiöse, sondern auch die politische Sphäre. Das Zuwiderhandeln aus dem Glaubensgehorsam – der von religiösen Gründen (sofern es aus begründungstheoretischer Sicht überhaupt solche geben kann) unterschieden werden muss – lässt sich unter Umständen in einem moralischem Sprachspiel beschreiben, aber nicht legitimieren. Denn die Legitimationsinstanz für ein Handeln aus Gehorsam vor/gegenüber Gott könnte ipso facto nur Gott selbst sein, gegenüber dem die Person aber nicht in einem Legitimationsverhältnis stehen kann.
Die Rede von einem göttlichen Auftrag oder einem Gehorsam gegenüber Gott stösst bei aufgeklärten Gemütern gewöhnlich auf Erstaunen und Unverständnis. Zu Recht energisch zurückgewiesen wird die Rechtfertigung von Gewalt mit der Behauptung einer göttlichen Autorisierung. «Ganz böse wird die Gewalt erst in dem Augenblick, in dem sie sich selbst als den gladius dei, als das Schwert Gottes missversteht.» Und von theologischer Seite kommt die Bestätigung: «Gott darf in menschliche Gewalt nicht hineingezogen werden und nicht für sie funktionalisiert werden.» Allerdings lässt bereits die Formulierung Zweifel an der Eindeutigkeit der Mahnung aufkommen. Denn sie muss unterstellen, dass zwischen dem Fall, bei dem Gott von Menschen vereinnahmt wird, und dem umgekehrten Fall, bei dem Menschen in die göttliche Gewalt «hineingezogen» werden, klar unterschieden werden kann. Aber auf welche Kriterien kann sich eine solche Differenzierung stützen? Natürlich kann eine Tat vor Gericht nicht mit der Behauptung gerechtfertigt werden, im Auftrag Gottes gehandelt zu haben. Aber wenn die Tat nach geltendem Recht sanktioniert würde, hätte das Gericht die Handlung beurteilt, nicht aber die Richtigkeit und Falschheit ihrer Motive. Eine Person, für die die göttliche Autorität die oberste und entscheidende Instanz ist, kann die Autorität des Rechts anerkennen, wird sich aber dadurch nicht von ihrem Gehorsam (gegenüber der höheren Autorität) abbringen lassen. Dass eine göttliche Autorität nicht vor irdischer Gerichtsbarkeit schützt, hat soziale, aber keine religiöse Bedeutung.
Das Gleiche gilt für die ethische Perspektive. Eine moralische Auffassung der paulinischen Aufforderung «Stellt euer Glieder Gott zur Verfügung als Waffen der Gerechtigkeit!» (Römer 6,13b) unterstellt, dass Gott nur ein Verhalten verlangt, das den eigenen, kirchlich-theologischen oder gesellschaftlichen Moralvorstellungen nicht nur nicht widerspricht, sondern diese auch bestätigt und fördert (die Umkehrung des Gedankens von der Religion als Quelle der Moral). Sich Gott «zur Verfügung» zu stellen bedeutet dann, sich als moralisches Subjekt formen zu lassen. Gegen die sehr verbreitete Vorstellung positioniert Paulus die provokanten Fragen: «Wird etwa das Werk zum Meister sagen: Warum hast du mich so gemacht? Hat denn der Töpfer nicht Macht über den Ton? (Römer 9,20f.) In diesem Sinn betet Jesus «Doch nicht mein Wille, sondern der deine geschehe.» (Lukas 22,42b) und die Kirche mit den Worten des Unser Vater «Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.» (Matthäus 6,10) Die in der Neuzeit aufgebrochene Dichotomie zwischen der heteronomen Bestimmung durch den Willen Gottes und der Autonomie/Selbstbestimmung des moralischen Subjekts lässt sich ethisch nicht auflösen.
Die Konfrontation zwischen Recht und Ethik auf der einen Seite und dem Willen Gottes auf der anderen Seite beschreibt aber nur die Folgen einer grundsätzlichen Aporie. Die rechtliche und ethische Perspektive zielt auf die Legitimation von Überzeugungen, Entscheidungen, Urteilen und Handlungen im Blick auf ein anerkanntes, gültiges oder geteiltes rechtliches oder moralisches Normensystem. Für den Gehorsam gegenüber Gott kann es keine Legitimation geben (weil Gott keiner Norm folgt) und deshalb auch keine Begründung für ein daraus resultierendes Verhalten. Der Gehorsam und seine Wirkungen steckt vollständig in der Gehorsamspraxis. Sie konstituiert ein Verhältnis, das im strengen Sinn weder vermittelt noch begründet werden kann. Die Martin Luther zugeschriebene Äusserung auf dem Reichstag zu Worms «Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Amen!» bringt die Unmittelbarkeit auf den Punkt, die nicht begründet, sondern nur bekannt werden kann. Weil der Gehorsam keiner Norm folgt und normativer Begründung nicht zugänglich ist, kann er auch keine legitimatorische Funktion übernehmen.
Darin besteht die Berechtigung der Zurückweisung einer Autoritätsbemächtigung, bei der das handelnde Subjekt die göttliche Autorität auf sich projiziert oder für die eigene Person beansprucht. Die Kritik geht aber viel weiter, als die übliche religiöse Adressierung intendiert. Denn aus der befriedenden Konstruktion des rechtsstaatlichen Gewaltmonopols resultiert eine enorme Gewaltkonzentration auf der einen Seite, deren Gegenseite zwar über die demokratische Kontrollmacht verfügt, aber sich dafür zum allgemeinen Gewaltverzicht verpflichtet hat. Die gewaltfreie Kontrolle kann deshalb nur so lange funktionieren, wie die kontrollierte Institution, die über das Gewaltmonopol verfügt, ihre Gewaltmittel nicht gegen die Kontrollinstanz einsetzt. Natürlich geschieht das permanent durch die Polizei und andere staatliche Sicherheits- und Rechtsdurchsetzungsorgane mit den bekannten praktischen und systemischen Problemen. Die idealtypische Unterscheidung zwischen «rechtsetzender» und «rechtserhaltender Gewalt» verschleiert die Schwierigkeiten hinter einer eingängigen Formel. So liegt etwa ein Gewaltmissbrauch vor, wenn einer Person mit oder ohne Gewalt von den staatlichen Institutionen daran gehindert wird, von ihren legitimen Freiheiten, Rechten und Ansprüchen Gebrauch zu machen. Das geschieht täglich und wirft deshalb permanent neu die Frage nach der Gewalt und ihrer Legitimität auf.
Text im Original mit Fussnoten und Quellenangaben:
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