Die Fachgruppe Männerarbeit im kirchlichen Kontext von männer.ch hat nach dem Bericht über sexuellen Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz ein Communiqué veröffentlicht. Wir wollten mehr darüber erfahren und haben uns mit den Verantwortlichen der Fachgruppe unterhalten. Auf unserem Blog stellen wir den Inhalt dieses Austauschs in Form eines Interviews zur Verfügung.
Männer.ch hat ein Communiqué zur Missbrauchs-Krise in der römisch-katholischen Kirche veröffentlicht. Was hat euch dazu bewogen, öffentlich auf die Ergebnisse der Zwischenstudie zu den Missbrauchsfällen zu reagieren?
An unserem letzten Treffen der Fachgruppe war die Betroffenheit über das Ausmass des Missbrauchs sehr gross. Um nicht in eine kollektive Lähmung zu verfallen, wollten wir etwas tun. Schon so oft gab es einen medialen Aufschrei und dann passierte nicht viel. Als Männer, die seit Jahren in der kirchlichen Männerarbeit tätig sind, sehen wir uns in der Verantwortung, unsere Kompetenzen in die Debatte einzubringen. Wir wollen Raum schaffen für eine vertiefte fachliche Auseinandersetzung. Aufklärung und Ahndung von Verbrechen sind natürlich wichtig, aber für eine nachhaltige Bearbeitung dieser Krise reicht das nicht aus. Nur wenn wir die vielfältigen Ursachen erkennen, können wir systematischen sexuellen Missbrauch, der ja nicht nur die katholische Kirche betrifft, in Zukunft verhindern.
Weite Teile der Berichterstattung konzentrieren sich momentan auf die Personen der Bischofskonferenz. Ihr schreibt von einem «abgeschotteten patriarchalen System», das den «Nährboden» für Täter und Taten darstelle. Was meint ihr damit genau?
Damit meinen wir ein Konglomerat von typisch-katholischen Strukturen, das monarchistisch organisiert ist. Das Bischofsamt umfasst alle drei Gewalten: Exekutive, Legislative und Judikative. Diese monarchistische Struktur überfordert jede Person im Bischofsamt, da keine Gewaltenteilung vorliegt und ein Bischof in jeder Entscheidung bzgl. Missbrauch eines Priesters oder kirchlichen Mitarbeiters als Vorgesetzter wie auch oberster Richter in jedem Fall befangen ist. Dazu kommt die Loyalität nicht nur gegenüber Mitbrüdern sondern auch z.B. gegenüber einem Vorgänger im Bischofsamt. Dies führt jeden Bischof automatisch in Loyalitätskonflikte. Dieses System der Konzentration der drei Gewalten auf eine Person muss so verändert werden, dass auch aussenstehende Fachpersonen in Missbrauchsfragen involviert sind und mitentscheiden. Frauen und nicht-geweihte Männer sind bis anhin davon ausgeschlossen. Nur Kleriker (geweihte Priester) dürfen über Kleriker entscheiden. Das schafft ein abgeschottetes System, das in unserer gleichberechtigten Demokratie nicht mehr verstanden und akzeptiert wird und notwendige Entwicklungen verhindert.
Seht ihr dieses «abgeschottete patriarchale System» nur in der römisch-katholischen Kirche oder auch in anderen Religionsgemeinschaften?
Jede Institution, in der Leitende fast alles nur untereinander kommunizieren und sich und die Institution bei Problemen in einer falschen Loyalität gegenseitig schützen, kann zu einem solchen System werden. Auch Religionsgemeinschaften sind nicht davor gefeit. Typischerweise kommen bei religiösen Gemeinschaften noch patriarchale Mechanismen dazu, die Frauen ausschliessen, was wiederum mit der Machtfrage und Sexualitätsfrage verbunden ist. Deshalb ist es so wichtig, sexuellen Missbrauch als Ausdruck von sexualisierter männlicher Macht zu verstehen bzw. als Ausnützung von männlicher Macht zur Verfolgung sexueller Interessen.
Im Communiqué attestiert ihr der «westlich-christlichen Kultur» insgesamt eine problematische Sexualmoral und eine patriarchale Prägung. Ist das Christentum besonders missbrauchsanfällig?
Zentral ist die Aufspaltung von Sexualität und Spiritualität, welche sich in der westlich-christlichen Kultur mehr und mehr verfestigt hat. In der Sozialisation des Priesters kommt sie exemplarisch zum Ausdruck: Er gilt spirituell als besonders erwählt und fortgeschritten, gerade weil der sich von der Sexualität verabschiedet. Priester und Pfarrer sind aber die spirituellen Vorbilder in unserer Kultur und deshalb hat ein solche Spaltung Auswirkung auf alle Männer, welche sich als religiös oder spirituell wahrnehmen. Wir sehen in der Männerarbeit, dass sich viele Männer mit ihrer Sexualität nicht gesegnet fühlen. Deshalb ist uns Bildung und Austausch unter Männern so wichtig. Wir gehen davon aus, dass Männer, die ihre Sexualität mit Freude und beziehungsorientiert leben wesentlich weniger missbrauchsanfällig sind.
Ihr kritisiert die römisch-katholische Kirche nicht nur, sondern bietet auch eure Hilfe an. Wo würdet ihr ansetzen?
Als kath. Mitglieder der Fachgruppe sind wir mittendrin in der kath. Kirche. Wir prägen sie als Seelsorger mit und engagieren uns tagtäglich in unserer Arbeit für eine Kirche, die Menschen stärkt und zum aufrechten Gang ermutigt. Dies gilt auch gegenüber unseren Kolleginnen und Kollegen in der kirchlichen Arbeit. Dazu gehört ein konstruktiver und transparenter Umgang miteinander: Teilen, was uns freut und trägt, was uns ärgert und belastet. Einander als Menschen ohne Wenn und Aber akzeptieren und eine klare Werthaltung gegenüber menschenverachtenden, patriarchalen und einschränkenden Strukturen und Verhaltensweisen darlegen. Neben der zwischenmenschlichen Ebene gehört auch unser Einsatz für eine Veränderung der Strukturen dazu, damit diese Strukturen einzelne Personen nicht erdrücken, sondern ein Miteinander von Frauen und Männern fördert, das von Gleichberechtigung und Wertschätzung geprägt ist.
Habt ihr eine Vision für die Kirchen? Und welche Aufgabe kommt ihr in den Themenfeldern Geschlechtergerechtigkeit und Männerbild zu?
Unsere Vision ist eine geschlechtergerechte Kirche. Jede Person soll sich mit ihrem Geschlecht willkommen und wertvoll für die Gemeinschaft fühlen und gleichberechtigt mitbestimmen können. Das einseitig-traditionell-männliche System wertet nicht nur Frauen ab, sondern alle Menschen und gerade auch die Leitungsverantwortlichen unserer Gesellschaft, wenn sie diesem Männerbild nicht entsprechen. Die «Ent-wicklung» aus diesem System ist in sich ein menschlicher und struktureller Prozess, der Zeit braucht und es braucht Räume, in welchen Männer und Väter sich über destruktive Männlichkeiten austauschen und gemeinsam Wege zu konstruktivem Mannsein im Alltag gehen. Ohne die Männer wird es weder Geschlechtergerechtigkeit noch Gleichstellung geben - deshalb setzen wir uns für die Förderung kirchlicher Männer- und Väterarbeit in der Schweiz ein.
Christoph Walser, Theologe und Coach, reformierter Pfarrer in Teilzeit in Zürich und seit 30 Jahren in der Männerarbeit, Burnout-Prävention und Sexualberatung tätig, er lebt mit seiner Familie in Zürich.
Matthias Koller Filliger, Theologe und Erwachsenenbildner bei der Fachstelle Partnerschaft-Ehe-Familie Bistum St. Gallen und Gewaltberater bei konflikt-gewalt.ch, verheiratet, drei erwachsene Kinder, wohnt in Degersheim.
Communiqué von der Fachgruppe Männerarbeit im kirchlichen Kontext (22 September 2023)
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