Bei seinem Rücktritt als Berner Synodalratspräsident erklärte Pfarrer Dr. theol. Andreas Zeller in einem Interview, dass er als kirchenhistorisch Interessierter vielleicht noch ein Buch schreiben werde. Das war am 11. August 2020 auf. Am 16. Mai 2024 – also nicht mal vier Jahre später! – war bereits Buchvernissage. Zwar haben noch acht weitere Autorinnen und Autoren Beiträge verfasst, aber drei Viertel des stolzen Buchumfangs von 434 Seiten stammen von Zeller.
1981-2021: Das sind 40 Jahre liberale Kirchenpolitik und Theologie, 40 Jahre Geschichte der Berner Landeskirche. In diesen Jahren engagierte sich Zeller (*1955) bei den Liberalen: als Gemeindepfarrer, Mitglied der Berner Kirchensynode, Synodalrat und schliesslich als Synodalratspräsident (2007-2020). Im Kapitel «Mein persönlicher Zugang» stellt er sich vor: Herkunft aus dem Eisenbahner-Milieu, Aufwachsen im Quartier Ausserholligen der Stadt Bern, kirchliche Sozialisation und Prägung durch liberale Pfarrer, so dass er sich bereits zu Beginn seines Theologiestudiums für die liberale Richtung entschied. Spannend zu vernehmen, welch bedeutende Rolle die Landeskirche im sozialen Leben der 1960er- und 1970er-Jahre noch einnahm und wie Kirche damals funktionierte. Nur zu gerne hätte man hier weitergelesen (S. 17-19). Das wären dann persönliche Erinnerungen eines Pfarrers und Kirchenpolitikers geworden. Lebensrückblicke von evangelischen Theologen und Landesbischöfinnen aus Deutschland (z. B. Werner Krusche, Bärbel Wartenberg-Potter, Werner Leich) zeigen, wie hochinteressant Zeitgeschichte ist. Eine wichtige historische Quelle! In der zehnmal kleineren Schweiz sind sie leider äusserst selten.
Für sein Sachbuch ist Zeller in die Archive gestiegen und hat in verdienstvoller Forschungsarbeit Protokolle der letzten 40 Jahre durchgearbeitet: jene des bernischen Reformpfarrvereins (bestand von 1891 bis 2011), der Berner Sektion des Schweizerischen Vereins für freies Christentum (1866-1994), der liberalen Lokalsektion Langenthal (1933-2014) und der Präsidienkonferenzen der liberalen Organisationen (1999-2011). Es gab von 1950 bis 2017 sogar eine liberale Pfarrerbruderschaft: die Arbeitsgemeinschaft Schweizerischer Pfarrer ASP (Beitrag von Jürg Häberlin, S. 235-248). Detailliert chronologisch zeichnet Zeller die Geschichte der genannten Vereine zwischen 1981 und 2021 nach. Sie traten vor allem in der Aus- und Weiterbildung auf, wobei sie Vorträge, Ausflüge und Reisen organisierten (eindrücklicher Überblick S. 319-434). Dazu konnten neben Pfarrern und Gelehrten aus den eigenen Reihen gelegentlich Wissenschafter von Weltrang gewonnen werden (z.B. Eberhard Jüngel, Bassam Tibi, Gerhard Ebeling).
Der Verbreitung der liberalen Theologie und Weltanschauung dienten auch zwei Zeitschriften: für das breite Publikum das Schweizerische Reformierte Volksblatt (1866-2004) und für theologisch Interessierte die Schweizerische Theologische Umschau (1930-1968). Ebenfalls über den kantonalen Bereich hinaus gingen die liberale Jugendorganisation Zwinglibund (1929-1999) und die diakonischen Einrichtungen: der Campo Enrico Pestalozzi für Ferienlager in Arcegno (ab 1929), das Müttererholungsheim Gabbiolo in Brissago (1931-2005) und das Diät-Erholungsheim Casa Alabardia in San Nazzaro (1965-1990/91). Aktuell besteht als Überbleibsel des 1871 gegründeten Schweizerischen Vereins für freies Christentum noch libref. (Beitrag von Stefan Marti, S. 259-271).
Nicht nur zur Orientierung dienen die Biografien der herausragenden Pfarrer, Pfarrerinnen und Theologen (S. 239-247, 291-306, einige mit Foto), sie sind ein eigentliches Who is who? der Berner Liberalen. Allerdings hätte man sich zumindest bei den Verstorbenen genaue Geburts- und Todesdaten, soziale Herkunft und Bildungsgang gewünscht, wie das etwa bei den Artikeln des Historischen Lexikons der Schweiz üblich ist – ein willkommener Service für Forschende, die sich z. B. mit Sozialgeschichte und Eliteforschung befassen.
Alle Vereine und Institutionen aufgelöst – die Liberalen eine Kirchen-Partei des Niedergangs? Zeller bettet ihn (Überalterung, fehlender Nachwuchs, Desinteresse) in den allgemeinen Bedeutungsverlust der Landeskirchen der letzten Jahrzehnte ein. Immerhin haben aber die Vereine der Liberalen dank initiativen Einzelpersonen (wie dem Berner Pfarrer Max Ulrich Balsiger) viel länger bestanden als jene der Positiven. Und in keiner anderen Kantonalkirche hatten sich die Liberalen in so vielen verschiedenen Vereinen organisiert. Bei den Liberalen bilden die Pfarrer bis heute eine Minderheit. Diese Richtung verstand sich als Laien-Bewegung; ihre grosse Zeit war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Damals setzte sie sich für das allgemeine Priestertum und die Volks- anstelle der Pfarrersynode ein. Dank ihrer Initiative wurde bei den Schweizer Reformierten die Verpflichtung auf das Apostolische Glaubensbekenntnis abgeschafft und setzte sich die historisch-kritische Methode in den Bibelwissenschaften durch – alles Selbstverständlichkeiten für die meisten heutigen Kirchenmitglieder.
Von allen liberalen Vereinen ist aktuell einzig die Fraktion in der Berner Kirchensynode voll aktiv (Beitrag von Christoph Jakob, Vreni Aebersold, Deborah Stulz, S. 255-258). Sie verteidigt das Modell der Volkskirche und steht für Bodenhaftung sowie gesunde Finanzen ein. Aber wie steht es um die Zukunftsperspektive liberaler Theologie? Dominik von Allmen bringt es auf die Formel «Auf das Wesentliche reduziert», führt es aber inhaltlich leider auch nicht weiter aus (S. 273-286).
Als «Beitrag zur jüngeren Bernischen Kirchengeschichte» richtet sich Zellers Buch zunächst an ein Berner Publikum. Wer sich kirchenpolitisch engagiert, kann hier sein Wissen bestens vertiefen. Doch kommen an jüngster Geschichte des Schweizer Protestantismus und insbesondere der liberalen Richtung Interessierte ebenfalls auf ihre Rechnung. Nicht zuletzt greift auch jemand, der sich auf ein theologisches Examen vorbereitet, mit Gewinn auf einzelne Kapitel zurück: In kompakter Form wird da liberale Theologie und Theologiegeschichte des 19./20. Jahrhunderts vorgestellt (Beiträge von Jürg Häberlin und Samuel Lutz S. 21-74).
Andreas Zeller, Auf das Wesentliche reduziert. Die Liberalen in der reformierten Berner Kirche 1981-2021, Zürich 2024.
Pierre Aerne forscht und publiziert zur Geschichte des 20. Jahrhunderts (u.a. christlich-jüdisches Gespräch, Frauenpfarramt und Frauenstimmrecht, kirchenpolitische Richtungen)
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