Digitalität und Gott 

Man kann Digitalität beschreiben. Sie bezeichnet einen Zustand, in dem digitale Technologien, Medien und Praktiken integrale Bestandteile des sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Lebens sind. Sie beschreibt die Qualität und das Phänomen, das entsteht, wenn digitale Technologien nicht nur Werkzeuge oder Hilfsmittel, sondern grundlegende Strukturen sind, die die Art und Weise, wie wir leben, arbeiten, kommunizieren und uns selbst verstehen, tiefgreifend beeinflussen und prägen.  

Begriffe, die wir selbst sind 

Wenn das stimmt, kann man Digitalität in unserer Gegenwart nicht so beschreiben, wie man Dinge in der Welt – z.B. eine Autobahn oder Brot – definieren oder bestimmen kann, weil sie in einem anderen unser Denken, nämlich auch das Denken über die Dinge in der Welt prägt. Digitalität ist mehr als die Summe technologischer Errungenschaften und deren Möglichkeiten. Sie ist eine Lebensform, innerhalb derer menschlicher Verstand über Digitalität nachdenken und einen Begriff von Digitalität bilden kann. Und sie formatiert unser Denken über Brot und Autobahnen in einer viel umfassenderen Weise, als unser Wissen über Autobahnen unser Nachdenken über Digitalität bestimmt. 

Es gibt mich, als mich selbst, ohne Autobahn und ohne Brot. Aber nicht ohne die Strukturen, in die mein Leben eingebettet ist und die sich – das impliziert der Begriff – als Digitalität beschreiben lassen. Es gibt andere Begriffe, die unser Denken vor ähnliche Herausforderungen stellen: Gesellschaft, Kultur, Gerechtigkeit, Leben, Ökonomie oder Gott. Jeder dieser Begriffe ist so ausdifferenziert, dass er ein Kraftfeld darstellt, um das herum man alle anderen Begriffe zirkulieren lassen kann. Sie sind kleine Sonnen und nur unsere Perspektive als Betrachter entscheidet darüber, ob die Ökonomie sich um Gott dreht oder Gott um die Ökonomie.  

Geltung und die Macht zu beschreiben 

Wer über diese Begriffe nachdenkt, bemerkt zweierlei: Erstens, sie sind unterschiedlich alt und zweitens, lassen sie sich als Begriffe unseres Denkens mühelos auf Phänomene, Ordnungen oder Konstellationen übertragen, in denen menschliches Bewusstsein diese Begriffe nicht kannte. Historikerinnen und Sozialanthropologen würden diese Verwendung vielleicht bemängeln, aber sie könnten dies lediglich aus methodischen und niemals aus normativen Gründen tun. Sie könnten bestreiten, dass sich vor dreitausend Jahren jemand als Teil einer Kultur gedacht hat. Aber nicht, dass er Teil einer Kultur war. Sie können darauf hinweisen, dass nach den damaligen Massstäben eine Handlung oder Unterlassung kein Unrecht war. Aber sie können nicht behaupten, dass es deswegen nicht trotzdem ungerecht ist. Und wenn sie das tun wollten, müssten sie es innerhalb des Begriffes und anhand der Regeln, die sich mit dem jeweiligen Konzept verbinden, tun. Darin liegt die Macht solcher Wörter: Sie stellen eigene Sonnensysteme mit eigenen Ordnungen dar. Und in jedem Sonnensystem sind die anderen Sonnensysteme nur kleine Planeten auf der Umlaufbahn der eigenen Sonne.  

Im Ernstfall Konkurrenz 

Wie komplex die Gleichzeitigkeit verschiedener Gravitationszentren in Wirklichkeit ist, zeigt sich an handfesten Orientierungskrisen, die durch gesamtgesellschaftliche Herausforderungen ausgelöst werden, wie zum Beispiel die Pandemiebekämpfung oder die Klimaerwärmung. Rasch konkurrieren dann naturwissenschaftlich-mathematische mit ökonomisch-volkswirtschaftlichen Modellen. Aus der Perspektive jener, die vor allem die drohende Katastrophe effektiv abwenden wollen, geraten gar Demokratische Verfahren ins Zwielicht, während andere – aus einer bestimmten Gerechtigkeitsperspektive heraus – an ein Überleben jenseits des liberalen Rechtsstaates gar nicht denken wollen.  

Digitalität denken 

Darin zeigt sich ein wichtiger Unterschied, zwischen Begriffen wie Leben, Gerechtigkeit, Ökonomie oder Kultur und Digitalität. Es ist schwierig, einen normativen Begriff von Digitalität zu denken. Digitalität beeinflusst Ökonomie, Leben, Kultur oder Gesellschaft, indem die Möglichkeiten der Digitalisierung in die jeweiligen Konzepte integriert werden müssen, weil sie sie mitprägen. Aber Digitalität scheint kein Standpunkt zu sein, um normative Thesen über das gelungene Leben oder ein besseres Zusammenleben von Menschen zu vertreten.  

Wirkungen von Digitalität 

Digitalität ist – um im Bild zu bleiben – keine eigene Sonne, sondern eine dezentrale Kraft, die gleichzeitig die Anziehungs- und Strahlkraft der anderen Sonnen beeinflusst: 

Sie durchdringt alle Lebensbereiche und lässt sich in fünf wesentliche Dimensionen unterteilen: Technologisch (1) umfasst sie die digitalen Technologien, die als Infrastruktur unsere Kommunikation, Datenverarbeitung und Automatisierung ermöglichen. Kulturell (2) prägt Digitalität unser Denken, unsere Werte und den Umgang mit Wissen, indem sie neue Formen von Kreativität und sozialer Interaktion hervorbringt. Ökonomisch (3) verändert sie Geschäftsmodelle, Arbeitsmärkte und Konsumverhalten, indem sie Märkte globalisiert und digitale Dienstleistungen hervorhebt. Sozial (4) beeinflusst sie unsere Beziehungen und Gemeinschaften, indem sie neue Netzwerke schafft und traditionelle soziale Strukturen herausfordert. Politisch (5) wirkt Digitalität auf Machtverhältnisse und demokratische Prozesse, indem sie sowohl neue Partizipationsmöglichkeiten eröffnet als auch Herausforderungen wie Datenschutz und Informationskontrolle mit sich bringt. 

Digitalität als Kommunikationsrahmen 

Die Gemeinsamkeit der Digitalität innerhalb dieser fünf Dimensionen liegt darin, dass sie die Kommunikationsmöglichkeiten erweitert. Sie tut dies auf fünffache Weise: Erstens, indem die Kommunikation über viel mehr Daten in sehr kurzer Zeit möglich wird, zweitens, indem die Informationen in Echtzeit weltweit ausgetauscht werden können, drittens, indem die Kommunikation asynchron, also zeitversetzt geschehen kann, wodurch die Flexibilität und Zugänglichkeit erhöht werden. Viertens, indem soziale Medien und Blogs die Grenze zwischen Medienkonsumenten und Medienproduzenten durchlässig machen und damit kollektiven Austausch ermöglichen und fünftens, indem Inhalte algorithmenbasiert personalisiert werden, wodurch sich die Relevanz der Inhalte aus der Adressatenperspektive erhöht.  

Digitalität und Transzendenz 

Diese fünf Wirkungen führen gemeinsam dazu, dass Menschen alltäglich konkrete Transzendenzerfahrungen machen: Die Kommunikation überschreitet die herkömmlichen Grenzen von Raum und Zeit. Sie können in Echtzeit über weite Entfernungen hinweg kommunizieren und dabei auf eine Fülle an Informationen und Daten Bezug nehmen, die ihnen aber nicht wie eine chaotische Datenflut, sondern wie eine persönliche, relevante Anrede erscheinen.  

Obwohl Digitalität keinen eigenen, normativen Standpunkt beschreibt, sind die in ihr verbundenen Wirkungen trotzdem bedeutsam für die Art und Weise wie wir die Welt und uns selbst erleben und deuten. Aus theologischer Perspektive ergeben sich dabei v.a. zwei Herausforderungen: 

Der Mensch – Berechenbare Individualität 

Der Mensch wird unter Bedingungen der Digitalität nicht nur als individuelles Wesen betrachtet, sondern als Akteur in einem globalen Netzwerk, in dem seine Handlungen und Interaktionen digital erfasst und verarbeitet werden. Diese Vernetzung führt zu einer neuen Form von Kollektivität.  Gleichzeitig führen die algorithmenbasierten Profile zu einer Personalisierung der Kommunikationserfahrung und der Inhalte, wodurch die Individualisierung vordergründig verstärkt werden kann und gleichzeitig sehr berechenbar wird.  

Diese Ausgangslage fordert das klassisch humanistische Menschenbild heraus. Es basiert auf der Überzeugung, dass der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen ist, das über die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und zur moralischen Reflexion verfügt. Der Mensch wird als Individuum betrachtet, das in der Lage ist, durch Bildung und Kultur seine geistigen und ethischen Fähigkeiten zu entwickeln und zu entfalten. Wie können aber zentrale Voraussetzungen dieses Menschenbildes, wie Freiheit oder Autonomie, Autorschaft und Verantwortung oder gar Würde, angesichts der subtilen Verhaltungslenkung durch digitale Medien, die Gruppendynamiken und den Anpassungsdruck durch Soziale Medien oder die zunehmende Verschmelzung von Mensch und Maschine vertreten werden, ohne dass sie zu der schöngeistigen aber weltfremden Ideen-Geschichte der Menschheit gerechnet werden? 

Gott – Wirklichkeit oder Inhalt 

Gott müsste, wenn es ihn gibt, als eine solche Transzendenz gedacht werden, die sowohl die einzelnen Gravitationszentren Kultur, Ökonomie, Leben, Gesellschaft und Gerechtigkeit aber dabei auch die Transzendenzen der Digitalität innerhalb dieser Sonnensysteme umfasst. Wenn Gott die eine Wirklichkeit und nicht bloss ein Inhalt unterschiedlicher Sonnensysteme ist, meint der Begriff Gott nichts weniger als die Verdoppelung aller Begriffe, um die sich unser Verstehen dreht: Um Gott müssten sich Gerechtigkeit, Kultur, Ökonomie, Leben und Gesellschaft auch unter Bedingungen der Digitalität drehen. 

In Wirklichkeit wird Gott aber nur sehr selten so begriffen. Meistens wird er zu einem Inhalt innerhalb der einzelnen Begriffswelten. Er transzendiert Gerechtigkeit, Ökonomie, Leben, Gesellschaft oder Kultur nicht, sondern kommt innerhalb dieser Systeme nur als mehr oder weniger schwergewichtiges Thema vor. Die Theologie gerät nicht in die Krise, weil es nicht üblich ist, dass Menschen Gott nicht über die anderen Begriffe setzen. Davon geht sie aus und die Rede von der Sünde ist der Versuch dieses Problem zu erklären. Viel problematischer ist, dass die Theologie im Zuge der pragmatischen Wende, die innerhalb der Philosophie und der Kulturwissenschaften vollzogen worden ist, selbst diesen Weg eingeschlagen hat. Gott wird dann z.B. zu einer optionalen Moralinstanz, zu einem Kulturgut oder zur Chiffre für ein Prinzip.  

Gott und Mensch 

Das könnte uns kaltlassen. Der Liebe Gott, wenn es ihn gibt, kann für sich selbst sorgen und sein Schicksal hängt nicht davon ab, wie wir ihn denken. Die Herausforderungen aber, die Digitalität für das moderne, humanistische Menschenbild bedeutet, weisen auf jene (menschlichen) Ideen hin, die es mit dem Gottesgedanken zu verteidigen gilt: Freiheit, Autonomie, Verantwortung, Autorschaft und Würde. Dabei kann es nicht darum gehen, Gott als Ursprung, Garant oder Ziel dieser einzelnen Begriffe in Stellung zu bringen. Genau so würde Gott wiederum zu einem Inhalt grosser Begriffe. Man könnte dasselbe auch mit anderen Worten sagen. Nein, es geht vielmehr darum, Gott als dasjenige (oder diejenige oder denjenigen) zu denken, dass jede Festlegung des Menschen unterläuft. Wir sind nicht frei, weil Gott uns Freiheit schenkt, sondern weil im Gottesgedanken die Welt so kopiert wird, dass innerhalb der Kopie ein Phantasieraum für Freiheit entsteht. (Zu erwarten, dass dieser Freiraum sich auch auf die Unfreiheit der Wirklichkeit auswirkt, wäre Glaube.) Wir verteidigen unsere Würde nicht dadurch, dass wir behaupten, dass Gott sie uns geschenkt habe. Wir produzieren Würde, wo wir – mit Gott vor Augen – davor zurückschrecken, jemanden als durch ein Tun oder Lassen endgültig Bestimmtes zu behandeln. Wir erfahren uns als autonom nicht darin, dass wir uns unter ein göttliches Gesetz stellen, sondern indem wir erkennen, dass wir dieses Gesetz selbst sind und kein Gott uns garantiert, dass es uns gerecht macht. Nur so gibt es Verantwortung, die etwas anderes meint als Gehorsam.  

Wir Menschen brauchen Gott gerade nicht dafür, um uns in unserer Lebenswelt – sei sie durch Digitalität geprägt oder nicht – zu orientieren. Wir brauchen Gott, um uns selbst als solche zu verstehen und zu erleben, die mehr sind als Körper, die von der Schwerkraft grosser Begriffe herumgezwirbelt werden und sich dessen nicht einmal bewusst sind.  

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Stephan Jütte

Dr. theol.

Leiter Theologie und Ethik
Mitglied der Geschäftsleitung

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