Queere Theologie. Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum

Die Theologische Fakultät der Universität Bern ist in den letzten Jahren ein hot spot für queere Theologie geworden. Diese Entwicklung ist auch den Studierenden zu verdanken, die Lesegruppen initiierten, Podiumsdiskussionen organisierten, queere Andachten ins Leben riefen und Masterarbeiten verfassten. Der vorliegende Sammelband ist eine Folge dieser Impulse. Initiiert von der fakultären Kommission für Gleichstellung und Diversität fand im Frühling 2022 eine Ringvorlesung statt, die den Ausgangspunkt dieses Sammelbandes bildete. Fakultätsmitglieder aus den verschiedenen Disziplinen wurden eingeladen, "im eigenen Fach queere Motive zu entdecken, Berührungsängste gegenüber Queer Theology abzubauen, den Reichtum queeren Denkens wahrzunehmen und die Frage nach der Schuldgeschichte von Theologie bzw. Kirchen zu thematisieren."

Bemerkenswert an diesem Vorgehen ist, dass im Sammelband nicht nur Texte von Theolog*innen zu finden sind, die seit Längerem im Bereich queere Theologie forschen, sondern auch solche von Assistierenden und Professor*innen, die sich neu auf die Denkansätze einliessen. Das Resultat dieses Experiments ist ein buntes Kaleidoskop von zwölf Texten aus den Fachbereichen biblische, historische, systematische und praktische Theologie sowie Judaistik und Ethik, die sich der queeren Theologie sehr unterschiedlich annähern.

In der Einleitung zeigen die Herausgeberinnen Lara A. Kneubühler und Miriam Löhr auf, wie breit der Begriff queer in heutigen wissenschaftlichen Debatten verwendet wird. Queer ist nicht mehr ausschliesslich eine Selbstbezeichnung von lesbischen, schwulen, bisexuellen, transgender und intergeschlechtlichen Menschen, sondern ist seit den 1990er Jahren zu einer kritischen queer theory geworden, die feststehende Identitäten, scheinbar natürliche Eigenschaften und normative Konzepte grundsätzlich in Frage stellt. Queere Theologie ist somit eine Theologie mit "veränderten Blickwinkel", die etablierte Traditionen herausfordert, dekonstruiert und dynamisiert. Dieses breitere Verständnis von queer trägt eine Spannung in sich: Wird der Begriff den konkreten Lebenserfahrungen queerer Menschen noch gerecht, wenn er abstrahiert und zur radikalen Infragestellung alles Normativen verwendet wird? Diese Spannung, so zeigt der Band, muss nicht aufgelöst werden. Die zwölf Aufsätze oszillieren zwischen den zwei Bedeutungen und machen so die Vielfalt und Vielschichtigkeit queerer Theologien sichtbar.

Drei Aufsätze ermöglichen Einblicke in die Geschichte des queeren Aktivismus in christlichen und jüdischen Gemeinschaften. Die lesbische Pfarrerin und Aktivistin Irène Schwyn berichtet im Gespräch mit Miriam Löhr von ihren Erfahrungen als Seelsorgerin und Aktivistin in der reformierten Kirche (Überall mit queeren Menschen rechnen. Aktivistische Erfahrungen aus dem Pfarramt). Daniel Gerson, Dozent für jüdische Geschichte, zeichnet nach, wie sich queere Jüd*innen ab den späten 1960er Jahren in verschiedener Strömungen des Judentums zu Wort meldeten und organisierten (Von "David und Jonathan" zum "Gay Giur College"). Ruth Hess, systematische Theologin und Expertin im Bereich Gender Studies, analysiert, wie sich in den 1990er Jahren aus Aktivismus eine Queer Theology zu Formen begann, in der Tod und Endlichkeit eine entscheidende Rolle spielten (Queer Death - Queering Death - Queer by Death. HIV/AIDS, Eschatologie und die Identitätssuche der frühen Queer Theology).

Seit diesen Anfängen hat sich die Queer Theology zu einer produktiven Strömung in allen Fachgebieten der Theologie entwickelt. Drei biblischen Theolog*innen greifen Einsichten der queeren Bibelkritik auf und werfen einen veränderten Blick auf bekannte Texte. Der Alttestamentler Bruno Biermann bricht binäre Geschlechterkonstruktionen im Hohelied auf (Queer(y)ing Sexualitäten im Hohelied). Die Neutestamentlerin Angela Standhartinger führt aus, wie die Paulus durch feministisch-theologische und queere Ansätze dekonstruiert und neu verstanden werden kann (Paulus que(e)rgelesen). Auf eine exegetische Entdeckungsreise, die von Monty Python über Händel zu Jesaja führt, begibt sich schliesslich der Neutestamentler Rainer Hirsch-Luipold. Er kommt zum Schluss, dass letztlich nur Gott als straight bezeichnet werden kann (All things straight? Biblisch-anthropologische Überlegungen zur Queersein des Christenmenschen).

Dass auch Dogmatik queer gedacht werden kann, zeigen zwei Systematische Theologinnen. Luana Sara Hauenstein spekuliert über jenseitige Sexualität und stellt drei "verwegen anmutende Entwürfe" vor, in deren Zentrum die Metapher eines polyamourösen beziehungsanarchischen Eschaton steht (Von irdischer zu himmlischer zu irdischen Sexualität). Lara A. Kneubühler plädiert dafür, die "inhaltliche Ausgestaltung der Grammatik von Trinität stets neu zu erfinden", und formuliert zwei  queere Credos zum Weiterdenken (Quid Credo. Linn Marie Tonstads Beitrag zur (queeren) Trinitätstheologie in God and Difference).

Methodologische und erkenntnistheoretische Überlegungen sind im Artikel der historischen Theologinnen Sina von Aesch und Katharina Heyden zentral. Können spätantike Lebensformen queer gedeutet werden - oder ist das ein Anachronismus? Und kann das Christentum wirklich als queere Bewegung innerhalb des heteronormativen antiken Umfelds gedeutet werden? Die Autorinnen widmen sich diesen Fragen mit sichtlicher Lust an der Dekonstruktion und mit der Bereitschaft, die eigenen Erkenntnisse wieder in Frage zu stellen (Gebildete Gottesnarren, erotische Eremit_innen und humorvolle Asket_innen).

Bei der Lektüre des Bandes kann der Eindruck entstehen, dass queere Theologie auf ein anything goes herausläuft: Die Möglichkeiten des Dekonstruierens und Neuimaginierens scheinen unendlich. Diesem Einwand widerspricht der Systematiker und Neutestamentler Peter-Ben Smit. "Queering" sei zwar ein "unendliches Spiel, aber kein Spiel ohne Regeln", hält er fest, letztlich gehe es darum "Identitäten so zu queeren, dass sie ein gutes Leben für alle ermöglichen" (Queere Orthodoxien - wie queere Perspektiven alte Theologie neu entdecken lassen). Queere Theologie hat also letztlich eine befreiungstheologische Zielrichtung. Worin diese Zielrichtung besteht, ist noch nicht ausreichend geklärt, wie der Ethiker Mathias Wirth feststellt. Geht es darum, den status quo für möglichst viele Menschen zu öffnen? Oder um eine grundlegende Umformung der Verhältnisse? (Dekonstruktion durch Inversion oder Inklusion. Das Verhältnis von Queer Theology und Befreiungstheologie nach Marcella Althaus-Reid).

Der vorliegende Sammelband ist eine anregende, kluge, herausfordernde und vielschichtige Entdeckungsreise in das dynamische Feld queerer Theologie, die Lust macht auf mehr. Es ist zu hoffen, dass dieses fakultäre Experiment auch ausserhalb von Bern Funken schlägt.

Lara A. Kneubühler und Miriam Löhr (Hg.), Queere Theologie. Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum, Verlag transcript, Bielefeld 2024.

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Stefanie Arnold (sie/ihr) ist Theologin und Religionswissenschaftlerin. Sie doktoriert in systematischer und ökumenischer Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Bern.

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