Der Israel-Palästina-Konflikt als interreligiöse Herausforderung

Die Singularisierung der Welt und das Ende der Kritik

1. Hintergrund  

Über die Positionierung zum völkerrechtswidrigen Angriff der russischen Föderation auf die Ukraine bestanden von Anfang an keine Zweifel. Das Gleiche gilt für die Terroranschläge der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung. Ebenso unbestritten sind die Reaktionen des israelischen Militärs zum Schutz der eigenen Bevölkerung und zur Befreiung der Geiseln aus den Händen der Terroristen. Die Situation in Gaza und die perfide Taktik der Hamas, die eigene Bevölkerung als Schutzschild zu missbrauchen, stellt das israelische Militär vor gewaltige Herausforderungen und konfrontiert die internationale Solidarität mit einer schwer erträglichen Ambivalenz. Entsprechend vehement und kontrovers werden die Debatten geführt. Das gilt auch für die Auseinandersetzung auf interreligiöser Ebene. An den Kontroversen führt kein Weg vorbei. Umso dringlicher stellt sich die Frage, wie die Auseinandersetzung geführt werden kann und was unverzichtbar ist, damit der unvermeidbare Streit nicht selbst in sprachlose Gewalt mündet.

2. Glaubensverbundenheit 

Aus religiöser Perspektive ist es selbstverständlich, dass sich Jüdinnen und Juden weltweit mit dem jüdischen Volk und dem Staat Israel identifizieren. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit unterstützen oder identifizieren sich weltweit Musliminnen und Muslime mit den Anliegen der islamischen Bevölkerung in Palästina. Und aus dem gleichen Grund gibt es die weltweite christliche Ökumene und setzen sich die christlichen Kirchen für ihre diskriminierten, bedrängten und verfolgten Schwesterkirchen ein. Die Verbundenheit mit den Mitgliedern der eigenen Religionsgemeinschaft besteht grundsätzlich unabhängig von den politischen Verhältnissen, in denen diese leben. Gleichzeitig darf sie nicht abgekoppelt werden von der religiös motivierten und legitimierten Verteilung von politischer Macht und Unterdrückung. Das neuzeitlich-aufklärerische Modell von der Trennung von Staat/Politik und Kirche/Religion wird weder von den Staaten noch von den Religionsgemeinschaften weltweit geteilt. Aus heutiger Sicht stellen sich die westlichen Ideen von der Säkularität und damit verbunden der Universalität von Vernunft und Freiheit als Exportartikel mit ernüchternd begrenzter Halbwertzeit heraus. Göttliche Allmacht schärft nicht in jedem Fall den demütigen Blick für die Endlichkeit der eigenen Existenz und die Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten. Sie kann umgekehrt auch Allmachtsphantasien befeuern, die sich in politischen Gewaltexzessen im Namen Gottes entladen.

3. Solidarität 

3.1 Menschen können sich aus ganz unterschiedlichen Motiven und Gründen solidarisch erklären. Religiöse Solidarität ist nur eine Möglichkeit von Verbundenheit, auf die sich im Folgenden exemplarisch beschränkt wird. Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen einer inneren Solidarität und einer Solidarisierung von aussen. Innerreligiöse Solidarität gründet in den geteilten religiösen Überzeugungen der Glaubensgemeinschaft. Externe Solidarisierung ist Einmischung von aussen. Sie kann von denjenigen, mit den sich solidarisiert wird, ausdrücklich gewünscht oder von den solidarischen Personen selbst gewählt sein. Weil sie die Anliegen und Ziele aber nicht die Situation teilt, ist ihre Unterstützung und Verstärkung per se riskant.  

3.2 Der innerreligiöse Zusammenhalt hat eine solidarisch-verbindende und eine kritisch-verbindende Dimension. Solidarität der Religionsgemeinschaften ist in doppelter Weise kritisch:  

3.3 Innerreligiöse Solidarität ist kritisch gegenüber Praktiken anderer Religionsgemeinschaften, die die Mitglieder der eigenen Religionsgemeinschaft diskriminieren, bedrängen oder verfolgen.  

3.4 Und innerreligiöse Solidarität ist kritisch gegenüber Praktiken der eigenen Religionsgemeinschaft, die die Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften diskriminieren, bedrängen oder verfolgen.  

3.5 Ohne die gegenseitige Anerkennung dieser Grundsätze gibt es keine interreligiöse Verständigung und keinen interreligiösen Frieden. 

4. Kritik 

4.1 Fundierte Kritik gründet in einer sorgfältigen Anamnese und Diagnose des Sachverhalts. Ein faires Urteil behandelt gleiche Sachverhalte gleich und ungleiche Sachverhalte ungleich.

4.2 Kritik schlägt sich nicht auf eine Seite, sondern bemüht sich um ein sachlich angemessenes, argumentativ begründetes und wohlerwogenes Urteil. Die Gründe müssen für alle Beteiligten, unabhängig von deren eigener Position, rational nachvollziehbar sein, ohne dass ihnen deshalb faktisch zugestimmt werden muss. 

4.3 Die Massstäbe der Kritik müssen offenliegen und jede Abweichung davon im Blick auf eine Ungleichbehandlung ist begründungspflichtig. 

4.4 Begründete Kritik ist lernfähig und offen für Revisionen. 

4.5 Niemand kann auf eine solche Haltung verpflichtet werden, aber ohne den rationalen Streit über Gründe sind gewaltfreie Konfliktlösungen nicht möglich. 

5. Resonanz 

5.1 Menschen lassen sich von Menschen in ganz unterschiedlicher Weise beeindrucken. Grundsätzlich kann zwischen der Eigenart einer Person, von der eine andere Person unmittelbar ergriffen wird, und der Situation einer Person, die bei einer anderen Person spontanes Mitgefühl auslöst, unterschieden werden. 

5.2 Resonanz durch die Eigenarten der Person beruht auf den Merkmalen oder Aspekten, mit denen sich eine andere Person unmittelbar identifiziert: Verhalten und Habitus, artikulierte Überzeugungen oder äusserliche Merkmale. Das Ergriffenwerden folgt aus dem Hinsehen auf die Person.

5.3 Resonanz durch die Situation, in der sich eine Person befindet, ereignet sich unabhängig von den Merkmalen der Person. Es geht nicht um die Identifikation mit irgendwelchen Eigenschaften der Person, sondern um die fundamentale Wahrnehmung ihrer Menschlichkeit. «Ecce homo» – Siehe, der Mensch (Johannes 19,5). Die Berührung durch die Menschlichkeit der Person ist die Begegnung zwischen einem Menschen und der Menschheit und beruht auf dem Absehen von der konkreten Person.

5.4 Die beiden Perspektiven schliessen sich nicht aus. Die personenzentrierte Sicht (5.2) bedeutet eine Priorisierung, die alle sozialen Nahbeziehungen kennzeichnet. Die Beziehungpartner:in liebt sein/ihr Pendant und nicht die gesamte Menschheit. Aber diese exklusive Liebe richtet sich nicht gegen die Wahrnehmung der Menschheit in jeder anderen Person. Die personenzentrierte Sicht wird pervertiert, wenn die exklusiven Merkmale von Personen gegen die Menschheit in jeder Person gerichtet und gesetzt werden. 

6. Das Verhältnis von Solidarität, Kritik und Berührung 

6.1 Solidarität ist positionell und zielt auf die Verstärkung von berechtigten und unterstützenswerten Anliegen einer Person oder Gruppe. Es geht nicht um einen Interessenausgleich zwischen Konfliktparteien. 

6.2 Auch das Mitgefühl der personenzentrierten Perspektive versucht die Position derjenigen Person zu stärken, mit der sich identifiziert wird. 

6.3 Personen, die sich solidarisch verhalten oder sich mit einer Person in einer bestimmten Hinsicht identifizieren, ergreifen ausdrücklich Partei. Die Haltung benötigt keine intersubjektive Begründung und kennt keine intrinsische Begrenzung. 

6.4 Solidarität schliesst Kritik nicht aus. Die Forderung nach unbedingtem Respekt der Menschlichkeit der Person besteht völlig unabhängig davon, ob die Überzeugungen und das Verhalten der Person geteilt oder verworfen werden.

6.5 Deshalb trifft der Vorwurf, dass sich das kritische Urteil zum Parteigänger der Gegenseite machen würde, nicht zu. Im Gegenteil entgeht nur das auf einer sorgfältigen Analyse der Sachverhalte gründende und argumentativ ausgewiesene kritische Urteil dem Risiko der Gewaltverstärkung durch zügellose Parteilichkeit. 

6.6 Die Möglichkeit von und der Respekt gegenüber begründeter Kritik sind ein Gradmesser der Freiheit und die moralische Legitimationsgrundlage von Solidarität. 

7. Die Politik der Menschlichkeit

7.1 Die öffentliche Diskussion über den Israel-Palästina-Konflikt setzt auf die Singularisierung der Person. Die Art und Weise, wie die betroffenen Menschen wahrgenommen werden, hängt von ihrer Nationalität resp. Herkunft und Religion ab. Die Aufmerksamkeit für die Opfer wird gesteuert durch deren äusseren Zugehörigkeitsmerkmale und nicht durch ihre Menschlichkeit.

7.2 Als einzelne Person ist jeder Mensch zugleich Repräsentant der gesamten Menschheit.

7.3 Daraus folgt aus religionskritischer Sicht: «Der Mensch hat eben nicht das Recht, gegen den Menschen objektiv Recht zu haben, und je grösser der Schein von Objektivität ist, mit dem er sich dabei zu umgeben weiss, um so grösser ist das Unrecht, das er dem Andern zufügt.» (Karl Barth, Der Römerbrief [Zweite Fassung], 1922, Zürich 2010, 642)

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Frank Mathwig

Prof. Dr. theol.
Beauftragter für Theologie und Ethik

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