Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa im Umgang mit politischen und ethischen Differenzen. Eine Einführung

I. Europa als gefährdetes Projekt

Europa wird auseinanderbrechen, daran besteht kein Zweifel. Schon jetzt sehen wir an regelmäßigen Erdbeben, wo die zukünftigen Grenzen verlaufen werden. Nein, ich spreche jetzt nicht vom Brexit und seinen weiterhin noch unklaren Folgen für die Menschen in Europa und in Großbritannien, auch nicht von den Spannungen zwischen der EU und Ungarn und Polen. Das Auseinanderbrechen Europas hat handfeste geologische Ursachen. Ausgerechnet an der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich wird sich der Kontinent entlang des Rheingrabens teilen, dort wo meine Heimat ist. Und auch das Gebiet der Schweiz wird von dieser Disruption betroffen sein.

Politisch hingegen haben wir in den vergangenen Jahrzehnten ein Zusammenwachsen des europäischen Kontinents erleben dürfen.

Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts war der Rückhalt hinter dem institutionellen Einigungsprojekt Europa wohl an seinem höchsten Punkt angekommen. Durch die große EU-Osterweiterung, bei der 2004 zehn Staaten der EU beitraten und 2007 nochmals Rumänien und Bulgarien, erfüllte sich für viele Staaten des ehemaligen Ostblocks der Traum, nun in Europa angekommen zu sein.

Zugleich war das Jahrzehnt aber auch in den alten EU-Mitgliedsländern durch die Diskussion um die EU-Verfassung geprägt, die am 1. November 2006 hätte in Kraft treten sollen, was aber an den Referenden in Frankreich und den Niederlanden scheiterte. Der an ihre Stelle getretene „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ trat am 1. Dezember 2009 durch den „Vertrag von Lissabon“ in Kraft. In dieser EU-Verfassungskrise kam eine Skepsis gegenüber den Europäischen Institutionen zum Ausdruck.

In den folgenden Krisen zeigten sich weitere Gefährdungspotentiale des Europäischen Einigungsprojektes:

1) In der Finanzkrise ab 2008 wurden die Grundsäulen der Solidaritätsarchitektur im EURO-Raum in Frage gestellt. Dies zeigte sich in einer medial aufgeheizten Spannung zwischen Geber- und Nehmerländern, oder auf den Punkt gebracht: Zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden. Zugleich wurde unter dem Eindruck der Finanzkrise der Zusammenhalt von Reichen und Armen innerhalb der europäischen Gesellschaften von Misstrauen bestimmt. Die vertikale Spannung (geographisch zwischen Nord und Süd und gesellschaftlich zwischen arm und reich) führte zu einem Vertrauensverlust in die europäischen Institutionen als Hüterinnen des Wohlstands aller.

2) In der sogenannten „Flüchtlingskrise“ oder besser gesagt „Migrationskrise“ des Jahres 2015 tat sich eine andere Spannung auf. Innerhalb der Gesellschaften, vor allem in Osteuropa wurde nun die Angst vor dem Fremden und den Fremden geschürt. Eine neue Ost-West-Spaltung trat in Europa entlang des früheren Verlaufs des Eisernen Vorhangs auf. Die horizontale Spannung (geographisch zwischen Ost und West und gesellschaftlich zwischen Fremden und Einheimischen) wurde zum hassvollen Nährboden, der von Nationalismen und Populismen gedüngt wurde.

In vielen europäischen Ländern wurden populistische Parteien als wählbare Alternative angesehen und der Brexit zeigte die fatalen Konsequenzen von europafeindlichen Denkexperimenten, wenn sie unter Verfälschung der Fakten den Menschen zur Wahl gestellt werden.

3) Mit der Covid-19-Pandemie ab 2020 ließ sich eine Entsolidarisierung in Europa feststellen. Die junge Generation musste erstmals in Europa Grenzschließungen erleben, durch die Menschen in Grenzgebieten von ihren Arbeits- und Ausbildungsplätzen auf der anderen Grenzseite, aber auch von der ärztlichen Versorgung und ihren Sozialgefügen abgeschnitten wurden. Die Entsolidarisierung zeigte sich auch im Wettstreit beim Kauf von Schutzmasken und Impfstoffen. Statt durch gemeinsame europäische Verträge möglichst günstige Preise auszuhandeln und eine gerechte Verteilung an die gefährdetsten Personengruppen zu gewährleisten, dachte jeder Staat zunächst an sich und seine eigene Bevölkerung.

4) Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 setzte zwar wieder eine große Solidarität mit der Ukraine ein, zugleich wurde dadurch aber auch deutlich, wie weit Russland in seiner Verachtung des Völkerrechts zu gehen bereit ist, wodurch die uns vertraute Rechtsordnung grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Sicherheit, bislang als selbstverständlich angesehen, zeigte sich als fragiles und gefährdetes Gut, für welches man langfristig vorsorgen muss.

II. Identitätskrise

Wir können derzeit eine Identitätskrise in vielen europäischen Gesellschaften beobachten. Was als selbstverständlich und sicher galt, ist fragwürdig geworden. Und dies betrifft verschiedene Bereiche, von denen ich drei exemplarisch herausgreife: die Nation, das Geschlecht und die Religion.

1) Auf die Frage, wo ich dazugehöre, war lange Zeit „die Nation“ eine naheliegende Antwort. Aber durch Migration und Minderheitssituationen ist für viele Europäer nicht mehr selbstverständlich, dass Wohnort, bzw. Wohnsitzland und Staatsbürgerschaft in eins fallen. Welche Rechte und Pflichten ergeben sich aus dem Wohnsitz, welche aus der Staatsbürgerschaft? Während Rechte (auch Aufenthaltsrechte) in der Regel an die Staatsbürgerschaft gekoppelt werden, zeigte ich in der Covid-Pandemie, dass Menschen an dem Platz bleiben sollten, an dem sie sich gerade befanden, um das Virus nicht weiterzutragen. Dafür wurden in einigen Ländern auch Abschiebungsverfahren ausgesetzt.

2) Das Geschlecht wurde in unserem Kulturkreis über Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende als binär bestimmt wahrgenommen. Wenn Grenzgängern zwischen den Geschlechtern oder sog. Zwittern gesellschaftliche Aufmerksamkeit zuteil wurde, ging dies in der Regel mit gesellschaftlicher Ächtung einher. Die Vorstellungen von Sexualität, Gender, Ehe und Familie sind derzeit großen Wandlungen unterzogen, was zur Unsicherheit im Umgang führt und auch aggressive Gegentendenzen hervorruft.

3) Religion ist in Europa von immer geringerer Bedeutung. Die Trennung von Staat und Kirche, bzw. von Staat und Religion bis hin zur Form der Laicité ist nur eine Erscheinung. Stärker wiegt die fortschreitende Säkularisierung, durch die Religion mehr und mehr zur Privatsache wird und religiöse Kenntnisse in steigendem Maße abnehmen.

Folglich wird Religion oft nur in ihren fundamentalistischen Ausprägungen wahrgenommen. Und das bedeutet: Religion gilt als gefährlich. Das europäische Religionsverfassungsrecht bzw. die Religionsgesetzgebung richtet sich in vielen Ländern mittlerweile stärker am Islam (und seinem gefährdenden Potential) aus, als traditionell an der Mehrheitsreligion (kultureller Ansatz) oder an Minderheitsreligionen (Ansatz beim Recht auf Religionsfreiheit).

Innerreligiös konnten aggressive Spannungen bezwungen werden, so in der ökumenischen Bewegung und im interreligiösen Dialog. 450 Jahre innerevangelischer Spannungen, Spaltungen und Lehrverurteilungen konnten 1973 durch die Leuenberger Konkordie überwunden werden.

Die Leuenberger Konkordie hatte ein klares Ziel vor Augen:[1] Die Überwindung der Spaltungen zwischen den reformatorischen Kirchen und Kirchengemeinschaft als Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft. Dieses Ziel vor Augen wurde ein Grundkonsens im gemeinsamen Verständnis des Evangeliums festgestellt. Die Leuenberger Konkordie ist von einer Hermeneutik des Verstehen-Wollens geprägt, die zunächst fragt „Was können wir beim anderen positiv wertschätzen?“ und zugleich darauf besteht, dass die eigene Lehre sachgemäß dargestellt wird. In ihrer Argumentation gelingt der Leuenberger Konkordie eine Umkehr der Beweislast: Wenn wir als Kirchen ein gemeinsames Verständnis des Evangeliums haben und Jesus selbst für seine Kirche bittet „Dass sie eins seien“, dann liegt die Beweislast bei denen, die sich der Einheit entziehen wollen. Verschiedenheiten und Spannungen bleiben bestehen, sie müssen miteinander ins Gespräch gebracht werden, aber sie haben keine kirchentrennende Bedeutung.

III. Mit Spannungen leben

Die Frage dieser Tagung lautet: Wie gehen wir in unserer Gemeinschaft mit ethischen Spannungen, mit unterschiedlichen Bewertungen in politischen Fragen um?

Werfen wir einen Blick darauf, wie die GEKE bislang konkret solche schwierigen Fragen angegangen ist. Dabei gehe ich wieder auf zwei Themen ein, die ich exemplarisch schon bei der Identitätskrise herausgegriffen habe.

1) Nation

Wenn in der Leuenberger Kirchengemeinschaft postuliert wurde, man lebe in „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“, so bezog sich dies auf die konfessionellen theologischen Fragen des 16. Jahrhunderts. Aber nicht nur die konfessionellen Differenzen bedurften der Versöhnung. Seit dem 16. Jahrhundert erlebten wir in Europa unsägliches Leid und Gewalt: lokal begrenzte Kriege, aber auch den dreißigjährigen Krieg und zwei Weltkriege. Der frühere deutsche Außenminister Joschka Fischer nannte daher Europa den Kontinent „aus Schmerz geboren“[2] – aus Tränen, aus Schweiß, aus Blut.

In den Jahren 1994-2001 führte die Südosteuropagruppe der GEKE einen Studienprozess zum Thema „Kirche – Volk – Staat – Nation“. Der Prozess fand statt in einer Region, in der Religion als Identitätsmerkmal dient – wo man weiß, wenn sich jemand als reformiert bezeichnet, wird er ungarischsprachig sein, wenn sich eine Person als Lutheranerin bezeichnet, wird sie dem deutschen oder slowakischen Kulturkreis entstammen. Zugleich wurde der Prozess in den Jahren geführt, in welchen im Jugoslawienkrieg in der Region der Nationalismus seine hassvolle mörderische Wiedergeburt feierte. Die Studie setzt bei dem unterschiedlichen Verständnis von Nation, Volk, Staat und Land in den verschiedenen Ländern und Sprachen an und zeigt so die kontextbedingte Bestimmung der einzelnen Begriffe, die, werden sie jenseits dieses Kontextes verglichen, zu Verwirrung führen. Das Dokument eröffnet die Möglichkeit zum Verstehen der verschiedenen Verständnisse von Volk, Nation und Staat und der jeweiligen Verhältnisbestimmung der Kirchen zu diesen Größen, lehnt zugleich aber jede Form von Nationalismus ab.[3]

Das Dokument wurde 2001 als Leuenberger Text veröffentlicht und war für viele Jahre ein Ladenhüter, bis es 2019 eine Neuauflage erfuhr, da die Diskussionen um den Brexit und den Nationalismus Orbans eine Relecture des Textes nahelegten.

2) Geschlecht

In vielen konfessionellen Weltbünden lässt sich derzeit das kirchenspaltende Potential des Themas der menschlichen Sexualität beobachten. Die Vollversammlung in Basel 2018 war sich dieses kirchenspaltenden Potentials bewusst und initiierte einen Studienprozess zu „Sexualität und Gender, Ehe und Familie“.[4]

Herausgekommen ist dabei ein umfangreiches Dokument von 240 Seiten, das zu allen vier Themenbereichen jeweils den aktuellen Forschungsstand aus Biologie, Sozialwissenschaften, Theologie und kirchlicher Praxis darstellt. Dazu wird in vier Fallbeispielen vorgestellt, wie einzelne Mitgliedskirchen der GEKE die Diskussion um menschliche Sexualität geführt haben und zu welchen Ergebnissen sie kamen.

Doch das Dokument bringt auch einige Schwierigkeiten mit sich. Es enthält zu wenige konservative Stimmen, was vor allem dem geschuldet ist, dass Beteiligte mit konservativeren Positionen aus unterschiedlichen Gründen aus dem Prozess ausgestiegen sind und bei der Konsultation der Mitgliedskirchen, bei der der Textentwurf diskutiert wurde, viele Mitgliedskirchen mit konservativeren Positionen nicht vertreten waren. Die Fallbespiele handeln alle von Mitgliedskirchen, die am Ende ihres Prozesses die Segnung oder Trauung gleichgeschlechtlicher Paare eingeführt haben. Für konservativere Kirchen mag dies nahelegen, dass das Ergebnis einer Diskussion über Sexualität und Gender schon vorgezeichnet ist und man daher das Thema lieber nicht anfasst, um nicht ein Fass aufzumachen, auf das man nicht mehr den Deckel bekommt. Der Rat der GEKE hat daher noch um ein Fallbeispiel aus einer Kirche gebeten, bei der der Diskussionsprozess einen anderen Ausgang nahm.

Was in dem Dokument zu wenig behandelt wurde, ist die Frage der Sünde und wie wir mit der Gewissensfrage umgehen, wenn jemand etwas als Sünde erkannt hat, jemand anderes aber ein anderes Sündenverständnis hat. Am Beispiel der menschlichen Sexualität zeigen sich hier zwei verschiedene Argumentationsansätze. Die einen sehen Exklusion und Diskriminierung als schwerwiegende Sünde an, da sie bei der eschatologischen Gemeinschaft, auf die wir als Christinnen und Christen ausgerichtet sind, ihren theologischen Ausgang nehmen. Andere wiederum argumentieren von einer Schöpfungsordnung her, wie sie der klassischen Lesart der biblischen Schöpfungsberichte entspricht.

Der Rat der GEKE steht nun vor der Frage wie er das Dokument herausgeben soll. Eine klassische Orientierungshilfe ist das Dokument nicht. Es ist eher ein Diskussionsbeitrag, der allerdings umfänglich die Sachlage und den Stand der wissenschaftlichen Forschung und Diskussion darstellt.

3) Demokratie

Ein weiterer Studienprozess, der in der laufenden Ratsperiode zu einem gesellschaftspolitischen Thema geführt wird, behandelt „Demokratie als Herausforderung für Kirchen und Gesellschaften“. Auch dieser Prozess wird, wie schon „Kirche – Volk – Staat – Nation“ in der Südosteuropagruppe der GEKE geführt. Und dies hat auch seinen Grund, wird doch in dieser Region von einigen Regierungen das Konzept der liberalen Demokratie in Frage gestellt. Auch bei diesem Prozess geht es um selbstverständliche Grundannahmen. In welchen demokratischen Kulturen bin ich groß geworden, wie habe ich Demokratie gelernt? Welche habe ich vielleicht selbst erkämpft?

IV. Einheit trotz ethischer und politischer Verschiedenheit? – Die Rollen der GEKE

So komme ich auf eine Zuspitzung unserer Frage: Ist das Leuenberg-Modell einer Einheit in versöhnter Verschiedenheit bzw. Vielfalt auch auf die politische Sphäre und ethische Fragen anwendbar?

In den Jahren 1994-2006 führte die GEKE das Lehrgespräch „Gesetz und Evangelium. Eine Studie, auch im Blick auf die Entscheidungsfindung in ethischen Fragen“[5] durch. Neben den dogmatischen Fragen nach der Zuordnung von Gesetz und Evangelium in den verschiedenen reformatorischen Kirchen, werden auch Anfragen aus der anglikanischen, römisch-katholischen und orthodoxen Tradition behandelt. Im Anschluss wird das Verständnis in Bezug auf heutige Lehre und Praxis diskutiert und an den Beispielen der Menschenrechte und der Bioethik ausgeführt.

Der Fachbeirat für ethische Fragen der GEKE hat jüngst erklärt, was jetzt für die GEKE anstünde, sei ein Studienprozess der sich mit der Frage der „Ethics of disagreement“ also einer Ethik der Meinungsverschiedenheit oder des Nichteinverständnisses auseinandersetzt.

Handelt es sich bei ethischen Fragen stets nur um Adiaphora, die damit nicht den Grundkonsens im gemeinsamen Verständnis des Evangeliums berühren oder können sie Grund für den status confessionis sein. In Bezug auf den „Ausschluß vom Abendmahl aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse“ stellte die Kirchenstudie der GEKE „eine Verletzung des Leibes Christi und damit nicht bloß eine ethische, sondern eine christologische Häresie [fest] (sie begründet den status confessionis).“[6] Es gibt also auch Grenzen der Vielfalt![7]

Bei kontroversiellen ethischen und politischen Themen stellt sich ja jeweils die Frage, welche Rolle die GEKE in Bezug auf die Behandlung des Themas einnehmen soll.

1) Ist die Rolle der GEKE zu einer Talkshow einzuladen und diese zu moderieren?

Dies macht die GEKE bei ihren Konsultationen. Die Kirchen kommen zusammen, um sich auszutauschen und miteinander in einen Meinungsfindungsprozess einzutreten. In manchen Fällen bleiben auch Ansätze unvereinbar nebeneinander stehen. Das Entscheidende ist, dass die Kirchen in Gemeinschaft bleiben und das Tischtuch nicht zerschnitten wird. Die Mitgliedskirchen der GEKE wissen den Wert der Abendmahlsgemeinschaft nach 450 Jahren Trennung am Tisch des Herrn sehr hoch zu schätzen und werden dieses gemeinsame Gut daher nicht wegen unerheblicher Differenzen in Frage stellen.

2) Ist die Rolle der GEKE, einzelne Mitgliedskirchen für ihren jeweiligen Kontext sprachfähig zu machen?

Dazu dienen die ethischen Orientierungshilfen, wie sie zu den ethischen Entscheidungsfragen am Lebensende,[8] in der Reproduktionsethik[9] oder auch im Rahmen der Covid-19-Pandemie[10] erschienen sind. Die Orientierungshilfen weiten den Horizont der Fragestellung, indem sie verschiedene europäische Kontexte mit einbeziehen und helfen so den Kirchen in ihrem jeweiligen Kontext eine reflektierte Position einzunehmen. Dies ist auch daher wichtig, da die Kirchen oft in ihrem nationalen Zusammenhang zur ethischen Positionierung oder Orientierung angefragt werden und oft auch noch gute Beziehungen zur Politik haben. Neben den Grundlagendokumenten werden diese Orientierungshilfen am meisten in kleinere Nationalsprachen übersetzt.

3) Ist die Rolle der GEKE, die evangelische Stimme bei den europäischen Institutionen zu vertreten?

Bei der Europäischen Evangelischen Versammlung in Budapest 1992 wurden sich die Kirchen bewusst, dass angesichts des Falls des Eisernen Vorhangs das Europäische Einigungsprojekt nun eine andere Fahrt aufnehmen wird und die Europäische Gemeinschaft nicht mehr nur im Rahmen der Westbindung anzusehen sein wird. In diesem Prozess sollten die Kirchen auch ihre Stimme einbringen können, und so schlugen die in Budapest versammelten vor, die Leuenberger Kirchengemeinschaft solle diese Rolle übernehmen. – Welch verwegener Vorschlag, wenn man bedenkt, dass die Leuenberger Kirchengemeinschaft zu diesem Zeitpunkt keinerlei rechtsverbindliche Strukturen hatte und lediglich über ein nebenamtlich geführtes Sekretariat verfügte. Doch spricht sich aus diesem Vorschlag wohl das ekklesiale Selbstverständnis der Gemeinschaft aus. Bei der 5. Vollversammlung der Leuenberger Kirchengemeinschaft in Belfast 2001 nahm die Gemeinschaft die Aufgabe an, „die evangelische Stimme in Europa“ zu vertreten.

Doch zugleich gab es auch die Konferenz Europäischer Kirchen in Europa (KEK), die zu diesem Zeitpunkt mit der Kommission für Kirche und Gesellschaft (CSC) in der Europapolitik mitmischte. In ihr waren neben den evangelischen Kirchen auch die anglikanischen und orthodoxen Kirchen eingebunden. Es ist einleuchtend, dass die Kirchen, wollten sie im Konzert der europäischen Akteure gehört werden, wo immer es geht, mit einer gemeinsamen christlichen Stimme sprechen sollten. Die GEKE entsandte daher für eineinhalb Jahrzehnte einen Mitarbeiter in den Mitarbeitendenstab der KEK nach Brüssel. In diesem Jahr hat die GEKE den Antrag auf den partizipatorischen Status einer internationalen NGO beim Europarat in Straßburg gestellt. Dadurch wird sie ihrem Auftrag gemäß die evangelische Stimme bei den Themen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einbringen können und zugleich den Mitgliedskirchen eine Tür bei dieser wichtigen europäischen Institution öffnen können.

Von der GEKE wird erwartet, dass sie alle drei Rollen einnimmt, wenn es darum geht, kirchlicherseits ethische und politische Themen anzugehen. Die GEKE selbst, und damit ihre Gremien, muss entscheiden, bei welchen Themen sie welche Rolle einnimmt.

Zu verschiedenen wichtigen politischen und ethischen Themen haben die evangelischen Kirchen in Europa keine gemeinsame Position. Dies sind vor allem die Themen Migration und Klimawandel und Umwelt.

In Bezug auf die Migrationsthematik spiegeln die Kirchen oft die politischen Standpunkte und Diskussionszusammenhänge der europäischen Länder wider, betonen darüber hinaus im einzelnen zuwandernden oder geflüchteten Menschen vor allem den Menschen und damit das Ebenbild Gottes zu sehen. Doch zur Frage von legalen Zugangswegen nach Europa, dem Grenzschutz und der Verteilung geflüchteter Menschen auf die europäischen Länder kommen die Kirchen nicht überein. Die „Liebfrauenberg-Erklärung zu den Herausforderungen von Migration und Flucht in Europa“[11] der Konferenz der Kirchen am Rhein, einer Regionalgruppe der GEKE, konnte 2004 lediglich von der Regionalgruppe selbst mit Genehmigung des Rates veröffentlicht werden. Hätte der Rat sich die Erklärung zu eigen machen wollen, wäre die Erklärung womöglich bis zur Zahnlosigkeit abgeschwächt worden und hätte jeglichen Biss verloren.

Glücklicherweise gibt es auch die CCME, die Kirchliche Kommission für Migrant*innen in Europa, die über große Sachkenntnis auf diesem Feld verfügt und die Anwaltschaft für Migrant*innen und Menschen auf der Flucht übernimmt. Die Rolle der GEKE ist dabei stärker, die Kirchen beisammenzuhalten, dass sie den Gesprächsfaden auch zu diesen Themen nicht abreißen lassen.

In Bezug auf den Klimawandel und Umweltfragen besteht zwischen den Kirchen zwar der Grundkonsens der Bewahrung der Schöpfung, wie sich dies aber konkret darstellt bleibt sehr unbestimmt. Reiche und arme Länder sind unterschiedlich von den Auswirkungen der Klimakrise betroffen und haben unterschiedlichen Anteil an der Ausbeutung der Natur, dem Verbrauch von Ressourcen, der Müllproduktion und dem Ausstoß klimaschädlicher Treibgase. Auf die Fragen, wo Verzicht geübt werden kann, was Solidarität, Subsidiarität und Gerechtigkeit angesichts der Klimakrise bedeuten, gibt es keine gemeinsamen Antworten der evangelischen Kirchen.

V. Auf dem Weg zur 9. Vollversammlung in Hermannstadt

Wir befinden uns nun auf der Zielgeraden zur 9. Vollversammlung der GEKE, die vom 27. August bis 2. September 2024 in Hermannstadt, Rumänien, stattfinden wird. Die beiden Themen Migration und Umwelt werden wahrscheinlich nicht explizit bei der Vollversammlung behandelt, aber die Umweltthematik spielt bei der praktischen Vorbereitung der Vollversammlung eine große Rolle, so wenn die Veranstaltung fast ausschließlich vegetarisch abgehalten wird, bei der Verwendung von Technik auf Nachhaltigkeit geachtet wird und für die CO2-Kompensation ein Aufforstungsprogramm in Rumänien unterstützt werden soll.

Die beiden Papiere zu Demokratie und zu Gender, Sexualität, Ehe und Familie werden auf der Vollversammlung diskutiert werden.

Auf eine Vollversammlung müssen sowohl die Kirchengemeinschaft als solche als auch die Mitgliedskirchen in der Region vorbereitet werden. Die GEKE hat in Rumänien fünf Mitgliedskirchen, von denen sich keine als rumänische Mitgliedskirche versteht. Es sind die ungarischsprachigen reformierten Kirchen, die ungarischsprachige lutherische Kirche, die deutschsprachige evangelische Kirche Augsburger Bekenntnisses sowie die rumänischsprachige methodistische Kirche, die sich jedoch als Teil der methodistischen Weltkirche versteht.

Im Local Committee und im Hosting Committee arbeiten die Kirchen nun schon gut zusammen. Sie haben eine gemeinsame Ausstellung konzipiert, in der die einzelnen Kirchen und der Protestantismus in Rumänien präsentiert werden. Die Ausstellung wird auf Rumänisch, Ungarisch, Deutsch und Englisch hergestellt und auch schon im Vorfeld der Vollversammlung in den Kirchen gezeigt werden. In der kommenden Woche werden die evangelischen Kirchen in Rumänien gemeinsam in Klausenburg eine Konferenz anlässlich des 50. Jubiläums der Leuenberger Konkordie abhalten.

Neben der Vorbereitung der Kirchen der Region bedarf es auch der Vorbereitung der Kirchengemeinschaft auf die Fragen der Region. Bereits die letzte Vollversammlung hat 2018 in Basel die Stellungnahme „Miteinander für Europa. 100 Jahre Ende des Ersten Weltkrieges: Gemeinsames Erinnern für die Zukunft“ verabschiedet,[12] die in besonderer Weise auf die Langzeitfolgen der Pariser Vorortverträge im süd-ost-mitteleuropäischen Raum eingeht. In Vorbereitung der Gemeinschaft auf die Region hat die GEKE seit Herbst 2022 mehrere Veranstaltungen in der Region abgehalten, so im Oktober 2022 in Budapest eine Konsultation zu „Mixed Economy of Church“, im November 2022 die Gottesdienst-Konsultation zu „Mehrsprachigkeit und Interkulturalität im Gottesdienst in Klausenburg/Kolozsvar/Cluj-Napoca oder die große akademische Jubiläumskonferenz zum 50-jährigen Jubiläum der Leuenberger Konkordie in Debrecen. Bei all diesen Veranstaltungen kamen die politischen Herausforderungen der Region zur Sprache.

Die grundsätzlichen Ziele der Vollversammlung sind klar. a) Sie ist ein Ort zur Verwirklichung der Kirchengemeinschaft in der Feier der Gottesdienste und im gemeinsamen Austausch. b) Sie nimmt die Arbeitsergebnisse der letzten Ratsperiode entgegen, c) sie wählt einen neuen Rat, der die Geschäfte zwischen den Vollversammlungen führt und d) sie formuliert die Arbeitsaufträge für die kommende Ratsperiode.

Darunter fallen auch die Themen, die in den kommenden Jahren im Bereich der Sozialethik behandelt werden sollen. Aus verschiedenen Veranstaltungen und Gremien werden die Themen in die Vollversammlung eingespeist. Die Überlegungen des Kirchenleitendentreffens vom Juli 2023 und der Begegnungstagung der Synodenleitungen vom Oktober 2023 spielen dabei ebenso eine Rolle, wie die Gedanken des Fachbeirats für ethische Fragen und die Ergebnisse dieser Tagung. Über eineinhalb Tage werden bei der Vollversammlung in dem Zukunftsatelier „Sozialethik“ die Fragen geschärft und überlegt, welche Themen die GEKE behandeln soll und welche Themen andere Organisationen und Kirchen behandeln können. Das Thema der „Ethics of disagreement“ wird dabei wahrscheinlich einen renommierten Platz einnehmen.

Was wir als gewiss annehmen können, ist, dass die evangelischen Kirchen nicht dazu beitragen wollen, dass Europa auseinanderbricht. Die geologischen Transformationen und ihre Folgen auf den Rheingraben können wir nicht aufhalten. Aber wir können Europa als den politischen Handlungsraum, in den uns Gott gestellt hat, mitgestalten. Wir können denken und unsere Gedanken austauschen, wir können streiten aber auch unser Handeln abstimmen. Und zu all dem dient auch diese Tagung. Ich freue mich auf die Gespräche mit Ihnen!


[1] Vgl. Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie), Dreisprachige Ausgabe mit einer Einleitung von Michael Bünker, im Auftrag des Rates der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa herausgegeben von Michael Bünker und Martin Friedrich, Leipzig 2013.

[2] Zitiert bei Bünker, Michael: Glauben im Rhythmus der Hoffnung, Innsbruck/Wien 2019, 108.

[3] Vgl. Fischer, Mario / Friedrich, Martin (Hg.): Kirche – Volk – Staat – Nation. Ein protestantischer Beitrag zu einem schwierigen Verhältnis (=Leuenberger Texte 7), Leipzig 2019, 76f.

[4] Vgl. Schlussbericht, in: Fischer, Mario / Nothacker, Kathrin (Hg.): befreit – verbunden – engagiert. Evangelische Kirchen in Europa. Dokumentationsband der 8.Vollversammlung der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) vom 13.–18. September 2018 in Basel, Schweiz, Leipzig 2019, 53.

[5] Bünker, Michael / Friedrich, Martin (Hg.): Gesetz und Evangelium. Eine Studie, auch im Blick auf die Entscheidungsfindung in ethischen Fragen (= Leuenberger Texte 10), Frankfurt 2007.

[6] Bünker, Michael / Friedrich, Martin (Hg.): Die Kirche Jesu Christi (= Leuenberger Texte 1), Leipzig 2012, 48.

[7] Vgl. Fischer, Mario: Grenzen der Einheit(lichkeit) und Vielfalt. Kirchliche Pluralität in Europa als Herausforderung und Chance für die Ökumene am Beispiel der GEKE, MdKI 69 (2018), 97f.

[8] Vgl. Leben hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit. Eine Orientierungshilfe des Rates der GEKE zu lebensverkürzenden Maßnahmen und zur Sorge um Sterbende, Wien 2011.

[9] Vgl. „Bevor ich Dich im Mutterleib gebildet habe…“. Eine Orientierungshilfe zu ethischen Fragen der Reproduktionsmedizin des Rates der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE), Wien 2017.

[10] Vgl. „Gemeinsam Kirche sein in einer Pandemie“ – Reflexionen aus evangelischer Perspektive: Erarbeitet vom Fachbeirat Ethik der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa im Auftrag des Rates der GEKE, GEKE Focus 29 (D/2021).

[11] Abgedruckt in: Bünker, Michael / Fischbach, Frank-Dieter / Heidtmann, Dieter (Hg.) Evangelisch in Europa. Sozialethische Beiträge (=Leuenberger Texte 15), Leipzig 2013, 367-381.

[12] Abgedruckt in in: Fischer, Mario / Nothacker, Kathrin (Hg.): befreit – verbunden – engagiert. Evangelische Kirchen in Europa. Dokumentationsband der 8.Vollversammlung der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) vom 13.–18. September 2018 in Basel, Schweiz, Leipzig 2019, 65-72.

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Mario Fischer

Pfarrer
Generalsekretär GEKE

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