Ist moralische Enthaltsamkeit eine Antwort auf Gewalt?
Der Ukraine-Krieg ist weiter in vollem Gang, ohne Aussicht auf einen baldigen Waffenstillstand, da erschüttern die brutalen Massaker der Hamas in Israel den Staat und die westliche Welt. Dass wir, Europa, die westliche oder die globale Welt durch ein furchtbares Ereignis erschüttert wird/werden, ist ein vertrauter Satz, bei dem nur die Namen der Länder und Akteur:innen wechseln. Aber wer wird eigentlich genau, wovon und wodurch «erschüttert»? Es ist die Erschütterung der Menschen, die um ihr Leben laufen, verletzt um ihr Leben ringen, Schutz vor Bomben und Gewehrfeuer suchen, um ihre Familien und Angehörigen fürchten und trauern. Es ist die Erschütterung der Menschen im letzten Augenblick, bevor sie getötet wurden. Und es ist die Erschütterung der Menschen, deren ängstliche, schreiende, weinende, verzweifelte und lethargische Gesichter medial um die Welt gehen. Es kommt nicht darauf an, ob der Begriff «Erschütterung» passt, sondern darauf, wer die Subjekte sind, die an Leib und Leben, mit Haut und Haaren Gewalt und Zerstörung erleben und davon bedroht werden. Dagegen gründet unser Entsetzen nicht in der existenziellen Angst um das eigene Leben und die Leben der Angehörigen. Wir sind erschüttert über das unermessliche Leiden der Opfer von Gewalt, Terror und Krieg. Wir sind nicht von Hunger, Durst, Schmerzen, Kälte, dem Verlust geliebter Menschen, Angst, Sorgen und Hoffnungslosigkeit bedroht. Uns bedrücken die Berichte und Bilder von den Menschen, denen das angetan wird und die dazu verdammt sind. Was also uns – die anderen – erschüttert, ist die Erschütterung durch die Erschütterung der anderen. Unsere Erschütterung besteht in einem Gefühl der Empathie, Anteilnahme und Solidarität, die sich vor jeder rationalen Begründung und moralischen Empörung aufdrängt. Wir können gar nicht anders. Uns dreht sich buchstäblich der Magen um, wie dem barmherzigen Samaritaner beim Anblick des Ausgeraubten am Boden.
Die Gewalt, die andere erleiden, wird sehr ungleich wahrgenommen. Aktuell denken wir bei Krieg unmittelbar an die Ukraine und seit eigen Tagen auch an Israel und Gaza. Gemäss ACLED Conflict Index vom Juli 2023 herrscht aktuell in 50 Ländern Krieg, Bürgerkrieg oder ein schwerer bewaffneter Konflikt. Von der davon ausgehenden Gewalt direkt betroffen ist jeder sechste Mensch auf der Welt. Über all diese Konflikte erfahren wir wenig oder gar nichts und es ist eine müssige Frage, ob wir von ihnen genauso berührt wären, wenn uns die entsprechenden Nachrichten und Bilder erreichen würden. Unsinnig wäre auch die Forderung, Mitleid egalitär zu verteilen, und die Kritik, unsere Empathie sei halbherzig oder falsch, wenn wir sie nicht für jedes Gewaltopfer in gleicher Weise empfinden würden. Dagegen stellt sie Frage nach der Verteilung unserer Aufmerksamkeit und Sympathien sehr wohl im Blick auf die Parteien in einem konkreten Konflikt, an dem wir selbst nicht beteiligt sind. Eine grobe Taxonomie der moralischen Sympathieverteilung sähe ungefähr so aus: (1.) Regel: Grundsätzlich gelten unsere moralischen Sympathien der im weitesten Sinn schwächeren oder unterlegenen Seite. (2.) Diese Regel gilt, es sei denn: (2A) Ausnahme A: die stärkere oder überlegene Seite nimmt ihr allgemein anerkanntes Recht wahr; (2B) Ausnahme B: die Unterstützung der stärkeren oder überlegenen Seite hat Vorteile für uns selbst oder (2C) Ausnahme C: die schwächere oder unterlegene Seite verfolgt verbrecherische Ziele oder bedient sich geächteter Mittel. Der Ukraine-Krieg ist ein typischer Regelfall: Die Rollen zwischen dem autokratischen, das Völkerrecht missachtenden Goliath und dem widerstandsfähigen David waren von Anfang an klar verteilt. Moralisch diskreditiert waren alle Positionen, die für die Ausnahme A (russische Reaktion auf die Nichtumsetzung oder den Bruch von Absprachen seitens der NATO) oder Ausnahme B (Sicherung der westlichen Rohstofflieferungen) argumentierten. Der Israel-Gaza-Konflikt stellt sich viel komplexer dar. Den Ausgangspunkt bildet die Ausnahme C: Zwar ist die Hamas der israelischen Armee weit unterlegen, aber ihre hinterhältigen Terroranschläge auf die friedliche israelische Bevölkerung sind barbarisch und durch nichts zu rechtfertigen. Die moralische Haltung steht so lange ausser Frage, bis die Bevölkerung im Gazastreifen von der Gegengewalt des israelischen Militärs mit aller Härte getroffen wird. Dann lassen sich Täter:innen- und Opferrollen nicht mehr eindeutig zuordnen. Spätestens wenn die grausamen Bilder von getöteten und verletzten Kindern aus Gaza viral gehen, werden sie unser Entsetzen angesichts der Bilder von den Terroropfern und den entführten israelischen Kindern und Müttern ins Wanken bringen und mit ihnen konkurrenzieren. Die eine wie die andere moralische Reaktion sind verständlich und die ambivalenten oder kippenden Reaktionen auf die Berichte und Bilder von beiden Seiten unvermeidbar.
Natürlich ist die Bevölkerung im Gazastreifen nicht die Hamas (die grosse Mehrheit lebt in einer Art Geiselhaft des Terrorregimes) und die israelischen Opfer und Geiseln sind nicht das Militär, das den Hamas-Terror bekämpft, die Geiseln zu befreien versucht und Vergeltung übt. Aber die zutreffenden und wichtigen Unterscheidungen zählen nicht in der Realität, in der die einen selbstverständlich mit ihren Leben für die Verbrechen ihrer Landsleute geradestehen müssen, und in der von den anderen selbstverständlich erwartet wird, dass sie mit aller (legitimen) Gewalt gegen den Terror vorgehen, dem ihre Landsleute zum Opfer fielen. Der Anblick der Person, von dem wir uns beeindrucken lassen und der unsere moralischen Intuitionen steuert, blendet häufig aus, dass sie nicht nur als Person zum Gewaltopfer wurde, sondern als Symbol, Repräsentantin oder Mitglied eines Staates, einer Gesellschaft oder Gemeinschaft, die als Feinde betrachtet werden. So unschuldig die Person als Person ist, so untrennbar gehört sie aus einer gegnerischen Perspektive zum gegnerischen System. Anders als für die Betrachter:innen des Bildes einer fremden Person, steht sie niemals nur für sich.
Auch in nichtkriegerischen Zeiten birgt das Verhältnis zwischen Israel und Gaza resp. Palästina viel Konfliktpotential. Die Christentumsgeschichte und der Holocaust machen es nahezu unmöglich, einen neutralen Standpunkt einzunehmen. Zugleich darf ein verantwortungsvoller Umgang mit der Geschichte nicht die Missstände der Gegenwart ausblenden: die Lebenswirklichkeit und Lebensaussichten im Gazastreifen, dessen 360 km2 mit über zwei Millionen Menschen zu den am dichtesten bevölkerten Gebieten der Welt gehören. Knapp ein Viertel der Bevölkerung lebt in Flüchtlingslagern, mehr als zwei Drittel kann nur dank permanenter UN-Hilfen überleben. Im Nahen Osten prallen nicht nur Wohlstand und Armut, Wachstum und Perspektivlosigkeit ungebremst aufeinander. Eine realistische Sicht kommt nicht um die anstössige Frage herum, die Wolfgang Lienemann nach den Anschlägen von 9/11 – auf die im aktuellen Konflikt symbolhaft verwiesen wird – gestellt hat: «Es war schrecklich, am Fernsehen Zeuge zu werden, wie sich unmündige Kinder und alte Frauen über die Anschläge in Amerika freuten und in Jubel ausbrachen. Aber wer im Gazastreifen oder im Westjordanland jahrelang Opfer politischer Verfolgung, wirtschaftlicher Strangulierung und des Einsatzes modernsten militärischen Gerätes geworden ist, wie kann der noch auf etwas anderes hoffen als auf die nackte Gewalt?» Die extremen Kontraste zwischen zwei Völkern und zwei Religionen werden präzise getrennt durch die Grenzlinie auf einer politischen Landkarte. Das gewaltige Hindernis, dass diese politische Grenze darstellt, wird noch vergrössert durch die gravierenden Unterschiede hinsichtlich des sozialen Status, der gesellschaftlichen und persönlichen Lebensaussichten auf beiden Seiten der Grenze.
Die im Ukraine-Krieg noch weitestgehend unterdrückte ethische Frage drängt sich im Israel-Gaza-Konflikt mit aller Macht auf: Entspricht es christlichen oder humanistischen Vorstellungen von Betroffenheit und Empathie, wenn sie von rechtlichen, politischen oder moralischen Urteilen darüber abhängig gemacht würden, wer einen Gewaltkonflikt angefangen hat oder die Verantwortung/Schuld dafür trägt? Müssen oder dürfen die Sympathie und Solidarität für eine Person oder Gruppe an die Politik des Staates oder Regimes gekoppelt werden, dem sie angehört? Folgten Bestürzung und Betroffenheit einem solchen Freund-Feind-Schema, würde die Bedürftigkeit einer Person an die Bedingung ihrer – wie immer definierten – politisch-korrekten «Barmherzigkeitswürdigkeit» gebunden. Das Paradox einer solchen «konditionierten Barmherzigkeit» stünde im eklatanten Widerspruch zum barmherzigen Samaritaner aus dem biblischen Gleichnis, der für ein prämoralisches Berührtsein ausschliesslich durch den Anblick der Person steht. Der jüdische Philosoph Hans Jonas hat diese ereignishafte Begegnung auf die kurze Formel gebracht: «Sieh hin und du weisst.» Der Samaritaner war durch nichts mit dem Gewaltopfer verbunden, nicht einmal indirekt durch eine moralische Norm, für die die Situation ein passender Anwendungsfall gewesen wäre. Es besteht weder eine Beziehung zwischen beiden Personen, noch entwickelt sich eine solche aus der Begegnung. Das Gleichnis schildert nichts als ihre Begegnung und deren Folgen, eine soziale Nichtkonstellation, eine moralisch wie soziologisch nichtdarstellbare Praxis, der jegliche Bedingtheit und Begründbarkeit abgeht. Darin besteht das Risiko des Hinsehens und die Macht der Bilder, die den Blick fesseln oder verführen – je nachdem und manchmal beides zugleich. Den Blick nicht abwenden und sich zugleich nicht an den Anblick gewöhnen zu wollen, ist ein Entschluss ohne Forderung und ein sich verantwortlich machen ohne Verpflichtung.
Freilich beruht diese Konstellation auf einer Fiktion, weil Bilder und Geschichten nicht vom Himmel fallen, sondern gemacht, ausgewählt, gestaltet, verbreitet, vermarktet und strategisch eingesetzt werden. Die Macht der Bilder und Texte liegt nicht darin, was darauf abgebildet und was darin berichtet wird, sondern bei denjenigen, die über sie verfügen, die Sujets inszenieren und mit den Wirkungen auf die Rezipient:innen spielen. Kein Bild und keine Geschichte zeigen, wie es ist, nicht nur weil es die eine Darstellung eines Ereignisses nicht gibt, sondern weil medial verbreitete Bilder und Texte Ereignisse inszenieren, um bestimmte Sichtweisen zu evozieren. Auch die Bilder und Texte, die beeindrucken, sind das Produkt einer Auswahl aus einer Menge alternativer Ausschnitte und Darstellungsoptionen und des Entscheids, auf ihre Verbreitung nicht zu verzichten. Das retuschierte Foto und die gefakte Geschichte bedienen auch die Sehnsucht nach Bestätigung der eigenen Weltbilder durch die Bilder und Berichte der anderen. Kann das Bild und die Geschichte von der Person für sich, das heisst für die Person selbst stehen? Ist die spontane Empörung der Betrachter:innen und Leser:innen überhaupt möglich? Oder brauchen wir verlässliche Gründe für die «richtige» Rationierung unserer knappen Aufmerksamkeit?
«Es gibt kein richtiges Leben im falschen», lautet der meistzitierte Satz aus der Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben von Theodor W. Adorno. Der jüdische Soziologe und Philosoph hatte das Buch zwischen 1944 und 1947 im US-amerikanischen Exil verfasst. Titel und Untertitel haben programmatischen Charakter. Im Gegensatz zu der Aristoteles zugeschriebenen Magna Moralia, in der eine Ethik des guten Lebens entwickelt wird, stellt die moderne Miniaturvariante das antike Werk auf den Kopf, indem es von der Unmöglichkeit handelt, in der Gegenwart ein gutes Leben führen zu können. Wie der Untertitel klarstellt, geht es nicht um Reflexionen über das beschädigte, sondern aus dem beschädigten Leben. Die Beschädigung – ein anderer Ausdruck für «Entfremdung» – besteht nicht in Störungen oder Defekten, die der Philosoph beobachtet und kritisiert, sondern in denen er selbst drinsteckt und die sein eigenes Leben bestimmen. Trotzdem bietet das Buch kein autobiographisches Outing, sondern konzentrierte Analysen und Kommentare über eine Welt, die von allen guten Geistern verlassen scheint. Das Zitat über das richtige Leben im falschen beendet den kurzen 18. Essay mit dem Titel «Asyl für Obdachlose». Darin rollen die Kategorien Privatheit, Wohnung, Design, Eigentum und kapitalistische Produktion wie die Perlen einer zerrissenen Kette nacheinander über den Boden. Nichts ist mehr das, was es einmal war, genauer wofür die Begriffe einmal standen, auf die heute noch in einer Weise Bezug genommen wird, als habe sich nichts verändert. Die Bedeutungen der Begriffe überleben nur – so heisst es im Satz vor dem Zitat – als «Ideologie für die, welche mit schlechtem Gewissen das Ihre behalten wollen». Es besteht kein Zweifel daran, dass mit dem «für die» wir alle gemeint sind. Unausgesprochen bleibt, worin das «richtige» Leben besteht und wodurch es sich von einem «falschen» unterscheidet. Klar ist nur die Unmöglichkeit, sich in beiden Leben gleichzeitig aufhalten zu können. Der Unterschied zwischen dem «richtigen» und «falschen» Leben besteht also nicht in einer Ist-Soll-Differenz, bei der durch entsprechende Korrekturen aus einem «falschen» Leben das «richtige» werden könnte. Vielmehr «gehört [es] zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein».
Adorno geht es um die zentrifugale Bewegung vom «falschen» zum «richtigen» Leben: «[D]ieser Widerstand gegen das, was die Welt aus uns gemacht hat, ist nun beileibe nicht bloss ein Unterschied gegen die äussere Welt […] sondern dieser Widerstand müsste sich allerdings in uns selber gegen all das erweisen, worin wir dazu tendieren, mitzuspielen». Die aktuellen Moraldebatten sind durch eine entgegengesetzte zentripetale Bewegung gekennzeichnet, bei der die Überzeugungen und Vorstellungen auf die eigene Person gerichtet sind. Sie zielen auf innere Kohärenz und Harmonie anstatt auf Widerstand «in uns selber». Isaiah Berlin hat in seinem frühen Essay Der Igel und der Fuchs eine alternative Sicht auf die Welt skizziert, für die die beiden Tiere aus einem antiken Text stehen: «Der Fuchs weiss viele Dinge, aber der Igel weiss eine grosse Sache.» Der Philosoph deutet den Gegensatz so: «Es besteht eine tiefe Kluft zwischen denen, die alles auf eine einzige, zentrale Einsicht beziehen, auf ein mehr oder weniger zusammenhängendes oder klar gegliedertes System, im Rahmen dessen sie verstehen, denken und fühlen – ein einziges, universales, gestaltendes Prinzip, das allein allem, was sie sind und sagen, Bedeutung verleiht –, und auf der anderen Seite denen, die viele, oft unzusammenhängende und sogar widersprüchliche Ziele verfolgen, die, wenn überhaupt, nur in einem faktischen Zusammenhang stehen, aus irgendeiner psychologischen oder physiologischen Ursache und nicht kraft eines moralischen oder ästhetischen Prinzips. Diese Menschen leben, handeln und denken in einer Weise, die eher zentrifugal als zentripetal zu nennen ist». […] Die erste Art von Intellektuellen und Künstlern gehört zu den Igeln, die zweite zu den Füchsen.»
Die Wahrnehmungen von und die Urteile über die Welt werden nicht interessenlos wahrgenommen und beurteilt. Aus der Igelperspektive zielen sie immer auch auf die Bestätigung des je eigenen Selbst- und Weltbildes. Das hat drei wesentliche Konsequenzen: (1.) Alles, was wahrgenommen wird, rückt in den Horizont eigenen Erlebens, so als wäre das Wahrgenommene nicht bloss das Erleben der anderen, das beobachtet wird, sondern die eigene Geschichte. Damit verschwindet der Abstand zum Wahrgenommenen, wobei die Distanzlosigkeit nicht als Verlust, sondern als moralisch erstrebenswert gilt (Identifikation, Solidarität, Verbündung). Ständig werden hybride Zustände erzeugt, in der das eigene mit dem anderen verschmilzt. (2.) In der Folge ist das andere nicht mehr das ausserhalb und unabhängig von der eigenen Person bestehende andere und die eigene Person nicht mehr das von Anderen kategorial abgegrenzte Subjekt. Es gibt nichts, was der eigenen Betroffenheit (und Zuständigkeit) entzogen wäre, es sei denn, dass dem anderen die eigene Aufmerksamkeit verweigert wird. Die (3.) Die Widerstände angesichts der Ambivalenzen von Person und Welt werden – im Gegensatz zu Adorno – externalisiert, also nicht in der eigenen Person, sondern in ihrer äusseren Welt verortet, sodass der Zwang unausweichlich wird, die Aussenwelt zum aufgeräumten Wohnzimmer zu machen, damit das Selbst in Übereinstimmung mit sich darin zuhause sein kann.
Die Rationalität, Aufmerksamkeit und Betroffenheit zu verteilen, zu konditionieren und zu kontrollieren, erzeugt einen enormen moralischen Stress, der sich nicht zuletzt in den aufgeheizten Debatten über das moralisch «Richtige» entlädt. Das vom Westen während des Ukraine-Kriegs eingeübte Bekenntnismantra, das jeder Äusserung über den Krieg eine Verurteilung Putins und eine Legitimation der kriegerischen Verteidigung der ukrainischen Souveränität voranstellt, hat eine aus den Fugen geratene Welt mit Hilfe der binären Codierung von Gut und Böse überschaubar gehalten. Auch Moral kommt ohne Disziplin nicht aus und auch die moralischen Truppen müssen zusammengehalten werden. Hinter der zentripetalen moralischen Einigelung steht die «allzumenschliche» Sehnsucht nach Klarheit und Bestätigung des Richtigen, gerade wenn in der Realität zu vieles falsch zu laufen scheint. Moral bildet zwar die effizienteste Form von Komplexitätsreduktion, mit der eine unüberschaubar, ambivalent und widersprüchlich wahrgenommene Welt in einen entscheidbaren Moralkosmos transformiert werden kann. Das macht sie so attraktiv, aber eben auch hoch riskant, denn «What you see is what you get; what you don't see gets you.»
Susan Sontag hat darauf bestanden, zwischen der in der Erschütterung aufscheinenden Sehnsucht nach dem Richtigen und dem Wunsch, die Selbstzweifel an der eigenen Richtigkeit abzublocken, sorgfältig zu unterscheiden. «Die imaginäre Nähe zum Leiden anderer, die uns Bilder verschaffen, suggeriert eine Verbindung zwischen den fernen in Grossaufnahme auf dem Bildschirm erscheinenden Leidenden und dem privilegierten Zuschauer, die in sich einfach unwahr ist – nur eine Täuschung mehr, was unsere wirklichen Beziehungen zur Macht angeht. Solange wir Mitgefühl empfinden, kommen wir uns nicht wie Komplizen dessen vor, wodurch das Leiden verursacht wurde. Unser Mitgefühl beteuert unsere Unschuld und unsere Ohnmacht. Insofern kann es (unseren guten Absichten zum Trotz) zu einer impertinenten – und völlig unangebrachten – Reaktion werden. Das Mitgefühl, das wir für andere, vom Krieg und einer mörderischen Politik betroffene Menschen aufbringen, beiseite zu rücken und statt dessen darüber nachdenken, wie unsere Privilegien und ihr Leiden überhaupt auf der gleichen Landkarte Platz finden und wie diese Privilegien – auf eine Weise, die wir uns vielleicht lieber gar nicht vorstellen mögen – mit ihren Leiden verbunden sind, […] das ist eine Aufgabe, zu deren Bewältigung schmerzliche, aufwühlende Bilder allenfalls die Initialzündung geben können.» Eigentlich geht es um zwei Initialzündungen: einen mitmenschlichen Impuls und eine politisch-ethische Veranlassung im Blick auf die Frage nach der Verbindung zwischen den Opfern und uns, die ihre Bilder sehen und die Berichte über sie lesen.
Was verbindet uns mit den Menschen auf beiden Seiten des tödlichen Konflikts? Die politisch-ethische Perspektive fokussiert auf die «viele[n] Opportunitätsgründe», durch die wir viel enger mit dem Schicksal der Menschen verbunden sind, als es den Anschein hat und uns angenehm sein kann. Die Opportunitätsgründe gehören sachlich zur Ausnahme B der Taxonomie vom Anfang, die auf die eigenen Vorteile spekuliert. Sie bildet den Normalfall pragmatischer Politik, der die ethische Dimension bis zu einem imaginären Schwellenwert ausblendet, bei dessen Überschreitung jener Widerstand «in uns selber» aufbrechen kann, auf den Adorno setzt. Zur Eskalation kommt es – mit den Worten der nach dem Juristen Gustav Radbruch benannten Formel – dann, wenn «der Widerspruch des positiven Gesetzes [analog: einer üblichen politischen Praxis; FM] zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Mass erreicht, dass das Gesetz [analog: diese Praxis; FM] als ‹unrichtiges Recht› [analog: falsche Praxis; FM] der Gerechtigkeit [analog: einer gerechten Politik; FM] zu weichen hat». Die Verbindung zwischen den Opfern und den sie Betrachtenden besteht faktisch in einer Politik, die sich auf beide Seiten höchst unterschiedlich auswirkt, und ethisch in dem egalitären Anspruch, beide Seiten zu ihrem Recht kommen zu lassen.
Die damit inkommensurable mitmenschliche Initialzündung verlangt einen Respekt gegenüber der Person um ihrer selbst willen. Ihr Leiden zählt in dem Sinn absolut, als sie unsere Betroffenheit und Solidarität für sich als Person weckt und beansprucht, vor und unabhängig von jeder Kategorisierung und jedem Urteil, das im Hinausgehen über den blossen Anblick der Person vorgenommen und gefällt werden kann. In dieser ursprünglichen moralischen Enthaltsamkeit gründet und bewegt uns unsere Mitmenschlichkeit.
Text im Original mit Fussnoten und Quellenangaben:
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