Krieg und Mitgefühl

100'000 vertriebene Christen in Berg Karabach, zermürbender Krieg gegen die Ukraine, Terrorismus gegen Israels Zivilbevölkerung durch die Hamas und die Wahrscheinlichkeit, dass bis zur Veröffentlichung dieses Beitrags in wenigen Tagen eine weitere Schreckensmeldung die Schlagzeilen dominieren wird: Wir kommen mit Entsetzen, Mitleid und Empörung kaum hinterher. Gleichzeitig etablieren sich klare Sprachregeln, die es einzuhalten gibt, um das Mitleid und die Empörung richtig zu äussern und es werden Erwartungen gestellt, wer sich wozu äussern soll, muss oder darf.

Parteinahme und Wording

Zu Beginn des Überfalls auf die Ukraine war es entscheidend, entgegen der russischen Propaganda, die diesen als «Spezialoperation» verkaufen wollte, von Krieg zu sprechen. Kurz darauf hat sich die Kombination «Angriffskrieg gegen die Ukraine» durchgesetzt. Sie macht klar, wer Täter und wer Opfer ist. Berg Karabach wurde in der deutschen Tagesschau als Konflikt und die Vertreibung der Bevölkerung als «Evakuierung» bezeichnet. Die schweizer NZZ hat von einem «Krieg zur Eroberung» und von «Vertreibung» gesprochen. Der ÖRK hat zu einem «sofortigen Waffenstillstand in Israel und Palästina» aufgerufen, der Spiegel spricht von «Hamas-Terror».

Warum schweigen jetzt alle zu Israel, nachdem sie mit der Ukraine so solidarisch waren? Weshalb sprichst du in deinen Posts nicht offen an, dass Christen durch das aserbaidschanische Militär vertrieben worden sind?

Bevor Staaten, Institutionen und einzelne Menschen ihre Empörung oder ihre Solidarität äussern können, zwingt sie das Minenfeld der Wordings zur Parteinahme. In der Diplomatie ist das keineswegs neu. Neuer ist, dass es Privatpersonen trifft. Und nicht nur, wenn sie etwas sagen oder in Sozialen Medien posten, sondern auch, wenn sie dies nicht tun. Warum schweigen jetzt alle zu Israel, nachdem sie mit der Ukraine so solidarisch waren? Weshalb sprichst du in deinen Posts nicht offen an, dass Christen durch das aserbaidschanische Militär vertrieben worden sind? Mitgefühl öffentlich zu äussern oder es nicht zu tun, ist innerhalb der Sozialen Medien politisch geworden. Als ob wir alle, jede und jeder für sich, kleine Pressebüros wären. Als ob die Beiträge, die wir publizieren oder nicht publizieren, das Mitgefühl, das wir ausdrücken oder für das wir keine Worte finden, über unsere moralische Integrität entscheiden. Und immer drohen die Doppelmoral, die falsche Solidarität und das fehlende Mitgefühl.

Empathie und Autonomie

Frank Mathwig hat in seinem Blogbeitrag «Die Moral vom richtigen Leben im falschen» die Frage nach der Verbindung von Moral und Empathie zugespitzt: «Entspricht es christlichen oder humanistischen Vorstellungen von Betroffenheit und Empathie, wenn sie von rechtlichen, politischen oder moralischen Urteilen darüber abhängig gemacht würden, wer einen Gewaltkonflikt angefangen hat oder die Verantwortung/Schuld dafür trägt?»

Wirklich sinnvoll lässt sich diese Frage nur auf Personen, das heisst auf Menschen beziehen, denen wir überhaupt Empathie und Moral unterstellen können. Ein Unternehmen mag zwar nach moralischen Standards handeln, aber es kann keine Empathie empfinden. Einem Hund dagegen mangelt es an Empathie nicht, aber wir behandeln ihn nicht – oder sollten das mindestens nicht – wie ein moralisches Subjekt. Im Kern trifft die Frage also Menschen, die als Personen von den Schreckensbildern und Nachrichten betroffen sind und darauf reagieren.

Spielt in diesem Zusammenhang die Schuldfrage eine entscheidende Rolle für die eigene Betroffenheit? Und falls ja, wie liesse sich die Schuld messen? Die Schuld des 19-jährigen Russen, der für den Krieg eingezogen und nach traumatischen Erfahrungen selbst zur Bestie wird. Oder die des Terroristen, der von Kind an antijüdisch, antiwestlich indoktriniert worden ist. Die Schuld all derer, die in Trainingslagern und militärischen Ausbildungsstätten gelernt haben, den Schiessbefehl deutlicher zu hören als das eigene Gewissen. Und falls ja, wie viel innere Distanznahme, Flughöhe und Selbstgewissheit brauchten wir, um all dies hinter unseren Smartphones im sicheren Frieden der Schweiz durchzurechnen, aufzurechnen und abzuwickeln?

Mitgefühl

Das Erste, was wir fühlen, ist nicht Geopolitik, nicht Zeitenwende, nicht Staatsform oder Geschichte. Zuerst spüren wir einen Schmerz durch das innere Bild, das wir haben, von verzweifelt schreienden Menschen, blutverschmierten Körpern, Todesangst, die sich in Gesichtszüge gefressen hat. Zuerst ist nicht Russe, noch Armenier, Demokratie oder Diktatur, Zeitenwende oder Wandel durch Handel, sondern ein entsetzliches inneres Aufschrecken, als ob es an einem selbst fühlbar wäre. Es geht uns nahe. Es betrifft uns, als ob ein Nächster betroffen wäre, ein Nachbar, eine, die uns begegnet.

Aber das ist nicht das Mitgefühl, das wir meinen, wenn wir unser Mitgefühl aussprechen. Mitgefühl kann man niemandem aussprechen, weil es in Wahrheit sprachlos macht. Das Mitgefühl, das wir meinen, sagt: Ich sehe dich und ich stehe dir bei. Viele Schweizerinnen und Schweizer haben ihr Mitgefühl gezeigt, indem sie geflüchteten Menschen aus der Ukraine Unterkunft geboten haben. Sie haben barmherzig gehandelt. Damit ist es wiederum ein ganz anderes Mitgefühl, als das diplomatische Mitgefühl. Die Schweiz kann der Ukraine ihr Mitgefühl ausdrücken, ohne ihr beizustehen. In den Sozialen Medien kann man Mitgefühl zeigen, indem man das Profilbild durch einen Profilbildrahmen ergänzt: Peace on Earth, Stand with Ukraine, Israel. Sie sind wie das diplomatische Mitgefühl kostenlos.

Barmherzigkeit

Im Lukasevangelium findet sich die Erzählung vom barmherzigen Samariter. Jesus soll sie erzählt haben, nachdem ein Gesetzeslehrer ihn gefragt hatte, wer sein Nächster sei. Die Erzählung ist oft missverstanden worden, als Aufruf zum Gewaltverzicht. Ihre Pointe besteht aber darin, dass Jesus die Ordnung umdreht und fragt: «Wer von diesen dreien, meinst du, ist dem, der unter die Räuber fiel, der Nächste geworden?» Die Frage ist rhetorisch. Es ist der Samariter, der den Verwundeten versorgt, in ein Wirtshaus bringt und für seine Unterbringung zahlt und danach nach ihm sieht. Es heisst von ihm, er habe Mitleid gefühlt.

Das Mitleid ist in dieser Geschichte eine Kraft, die dem Samariter hilft, dem Verwundeten zum Nächsten zu werden. Wir machen oft die Erfahrung, dass Nachrichten, die unser Mitleid auslösen, diese Kraft nicht haben. Weil der Verwundete zu weit weg ist. Weil es überall Verwundete gibt. Weil wir schon für andere zuständig sind. Der Samariter muss ein glücklicher Mann sein. Er kann seinem Mitleid entsprechend handeln. Er muss nicht verbittert fragen, weshalb die beiden Passanten vor ihm tatenlos geblieben sind. Er kann helfen und der Nächste werden.

Uns kann die Erzählung, auch dort, wo wir nicht zu helfen vermögen, wenigstens daran erinnern, dass wir keine kleinen Pressebüros sind. Das mag zwar manchmal so scheinen. In Wirklichkeit sind wir Menschen mit der Chance, einander nahezukommen. Indem wir miteinander reden, uns helfen oder auch schweigen.

Facebook
WhatsApp
Twitter
Email
Picture of Stephan Jütte

Stephan Jütte

Dr. theol.

Leiter Theologie und Ethik
Mitglied der Geschäftsleitung

Alle Beiträge

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.