Die Rückkehr des konventionellen Kriegs in Europa hatte die internationale sicherheitspolitische Expertise ebenso nicht im Blick wie die Kirchen und die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene ökumenische Friedensethik. Die nach 1989 verstärkten Bemühungen zur Normalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen durch internationales Recht und völkerrechtliche Vereinbarungen, Handelsverträge, institutionalisierte Konfliktprävention, die gleichzeitige Stärkung von nationalstaatlicher Souveränität und staatenübergreifender Zusammenarbeit und last but not least die alle Staaten verbindenden Einsicht in die gewaltigen globalen und planetarischen Herausforderungen schienen von einem Tag auf den anderen überholt. Wie in einer Zeitmaschine waren die für überholt erklärten Situationen, Rezepte und Rhetoriken wieder da: Kriegsflüchtlinge, die eigene Bedrohung durch den Krieg in der Nachbarschaft, konventionelle Aufrüstung, Krieg als Mittel der Politik, das Denken in Machtblöcken und politische Debatten, in denen in demokratischen Parlamenten scheinbar völlig selbstverständlich über militärische Erfolgsstrategien und gegnerische Niederlagen gestritten wird. Seither besteht Einigkeit darin, dass den ukrainischen Kriegsopfern und Flüchtlingen unsere Solidarität gehört. Kontrovers diskutiert werden dagegen die Fragen, ob und wie die angegriffene Ukraine militärisch unterstützt werden soll.
Die Verstörung über die Rückkehr des Kriegs in Europa zeigt sich symptomatisch in den kirchlichen Diskussionen über den Ukraine Krieg. Der vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs errungene ökumenische Konsens, dass Krieg nach dem Willen Gottes nicht sein soll, der später in die Zielformulierung «Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung» mündete, wird quasi über Nacht als weltfremder Utopismus verdächtigt und diskreditiert. Karl Barths Paradigma vom gerechten Frieden als Ernstfall und das daran anschliessende Konzept der rechtserhaltenden Gewalt setzen auf die universale Reichweite der politisch-liberalen Trias von Frieden, Recht und Freiheit – in radikaler Abgrenzung einerseits gegenüber einem konsequentialistischen Machiavellismus und andererseits gegenüber einer kommunitaristischen Beschränkung auf die eigene Gemeinschaft. Die Kernidee ist bestechend einfach: Wenn Menschen zum Schutz ihrer Freiheit aus freien Stücken Gesetzen zustimmen und sich diesen freiwillig unterwerfen, würde ein Bruch des Rechtsfriedens den ureigensten Interessen jeder Person widersprechen. Unfrieden wäre nicht länger eine rationale und aussichtsreiche Option. Der Angriff der Russischen Föderation auf die Ukraine zeigt die Grenzen der völkerrechtlichen Übertragung des Modells liberaler Gesellschaften auf die Staatengemeinschaft auf. Für Gesellschaften wie für die Staatengemeinschaft gilt: Es ist nicht rational, davon auszugehen, dass sich Gesellschaftsmitglieder und Staatsoberhäupter stets rational verhalten. Der staatliche Bruch des Völkerrechts war immer eine – leider aussichtsreiche – Option.
Die aktuelle Kritik der Realitätsferne der theologischen Friedensethik verweist selbst auf ein prekär verengtes Weltbild. Denn der Vorwurf einer eurozentrischen Bubble-Perspektive verkennt, dass die ökumenische Friedensethik aus den realen Erfahrungen staatlicher Gewalt und Unterdrückung hervorgegangen ist, sich in dieser Wirklichkeit bewähren musste und weiterentwickelt wurde. Die Kritik erfolgt aus einem postkolonialistischen Blick auf die Welt und urteilt am grünen Tisch über die Konsequenzen und Perspektiven, die Menschen und Kirchen in anderen Weltregionen aus ihren leidvollen Gewalt- und Kriegserfahrungen gezogen und entwickelt haben. Die theologisch und kirchlich geführte Kontroverse zwischen den Theorien des gerechten Friedens und des gerechten Kriegs wird zum belanglosen Streit um Wörter, wenn die Pointe der Unterscheidung unterschlagen wird. Wer aus theologischer Sicht die scholastische bellum iustum-Lehre vertritt, betrachtet den Krieg als eine politische Option, die gemäss verallgemeinerbarer Kriterien gewählt und deren Rechtmässigkeit rational begründet werden kann. Das Konzept des gerechten Friedens bestreitet weder die Kriterien noch die Möglichkeit einer rationalen Entscheidung. Es verwirft aber erstens ihre theologische Legitimität und zweitens jeden Versuch, den Krieg als gerecht in einem biblisch-theologischen Sinn zu qualifizieren. Kategorisch zurückgewiesen wird genau die kirchlich-theologische Legitimation und Rechtfertigung von Krieg, wie sie Patriarch Kyrill I. im Blick auf die russische Invasion vorgenommen hat.
Der Ukraine Krieg bedeutet für die Kirchen einen Kampf zwischen biblischer Friedenssehnsucht und politischem Realismus. Die Notwendigkeit der militärischen Unterstützung der Ukraine zu erkennen, kollidiert mit den biblischen Seligpreisungen. Mit den Jesusworten eine Ablehnung der NATO-Unterstützung der Ukraine zu begründen, wäre umgekehrt blanker Zynismus. Das Drama von Friedenswunsch und Gewaltwirklichkeit ist die Tragik der Welt und der Kirche. Deshalb gilt auch: Ein Krieg ohne moralische Skrupel und Zweifel, ohne innere und äussere Widerstände, ohne die Verstrickung in existenzielle Widersprüche, ohne die bedrückende Gewissheit, eine Entscheidung getroffen zu haben, die sich keiner Freiheit, sondern blanker Not (und Notwendigkeit) verdankt, wäre eine grausame Vergötterung der Gewalt.
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