Zwischen Handeln und Gelassenheit

Die drei Umweltvorlagen - 10 Fragen / 10 Antworten aus Sicht der evangelisch-reformierten Kirche

Zusammen mit allen christlichen Konfessionen gehört der Glaube, dass das gesamte irdische Leben von Gott erschaffen und den Menschen zur verantwortungsvollen, sorgfältigen Bebauung und Bewahrung anvertraut ist, zu unseren Grundlagen. Deshalb setzt sich die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) seit dem Aufkommen der ökologischen Fragestellung für die Bewahrung der Schöpfung ein.

Für die EKS steht die Frage im Zentrum, welche Haltung gegenüber Natur und Umwelt ihrer Wahrnehmung als Gottes Schöpfung entspricht. Die kirchlich-theologische Sicht betont einerseits die ethische Mitverantwortung für die Schöpfung und andererseits eine schöpfungsspirituelle Perspektive auf Natur und Umwelt. Aus evangelisch-reformierter Sicht prägen beide Zugänge den Umgang von Christinnen und Christen mit Natur und Umwelt und die Wahrnehmung der ökologischen Herausforderungen.

Am 13. Juni 2021 stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung über die beiden Volksinitiativen «Für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide» (Pestizid-Initiative) und «Für sauberes Trinkwasser und gesunde Nahrung – Keine Subventionen für den Pestizid- und den prophylaktischen Antibiotika-Einsatz» (Trinkwasser-Initiative) sowie das CO2-Gesetz ab. Es sind drei Vorlagen, die die Mitverantwortung von Christinnen und Christen als Bürgerinnen und Bürger der Schweiz für die Schöpfung herausfordern. Der Rat EKS versteht das Papier als Hilfestellung für Christinnen und Christen, in der Entscheidungsfindung dieser komplexen Vorlagen. Entlang von 10 Fragen – 10 Antworten bringt dieser Beitrag grundlegende kirchliche und theologische Perspektiven auf ökologische Fragen zur Sprache und nimmt aus dieser Warte die politischen Anliegen der drei Umweltinitiativen sowie der Agrarpolitik im grösseren Kontext in den Blick.

Frage 1: Wie kommen ökologische Themen in die Kirchen und in die Theologie?

Im Ausdruck Ökologie steckt das altgriechische Wort oikos, das Haus. Ökologie ist ursprünglich die Lehre von der Haushaltsführung. Die Reformatoren, besonders eindrücklich Zwingli in seinem Gerechtigkeitstraktat1, haben eingeschärft, dass die Welt nicht unser eigenes Haus, sondern der Haushalt Gottes ist, in den wir als «Hausgenossen Gottes» (Eph 2,19) berufen sind. Wenn die Welt das irdische Haus Gottes ist, dann gelten dort die Regeln der Hausordnung Gottes. Diese beschränken sich nicht auf ökologische Einsichten und Programme. Vielmehr geht es darum, als Geschöpfe im Respekt und in Anerkennung gegenüber allen anderen Geschöpfen zu leben. Als Mitglieder in Gottes Schöpfungsgemeinschaft zu leben, zeigt sich in einer Haltung und Praxis der gemeinsamen Verantwortung für das anvertraute Gut des Lebens.

Ökologische Fragen stellen sich aus biblisch-theologischer Sicht im Horizont des Schöpfungs-, Erhaltungs- und Erlösungshandelns Gottes. Sie stehen unter den Vorzeichen des Paradiesdramas, in dessen Folge die gesamte gute Schöpfung in den zerstörerischen Sog der menschlichen Sünde gerät. Wie die Menschen existiert seit Anbeginn auch alles Geschaffene im Modus der Hoffnung auf Befreiung (Röm 8,20–22):

«Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung seufzt und in Wehen liegt, bis zum heutigen Tag.» Die Zerstörung von Natur und Umwelt wird zum Spiegel der menschlichen Erlösungsbedürftigkeit. Genauso wenig wie uns selbst, können wir die Schöpfung Gottes retten. Wir haben den paradiesischen Auftrag des Bebauens und Bewahrens verspielt. Den Ausgangspunkt einer biblisch-theologischen Perspektive auf Natur und Umwelt bildet die doppelte Erkenntnis: 1. Wir können unsere eigene Schuld und unsere Schuld(en) gegenüber der Umwelt und Natur nicht selbst bezahlen und abarbeiten. 2. Genauso wie wir existiert die gesamte Schöpfung in der Hoffnung auf Erlösung. Der Grund unserer Hoffnung ist gleichzeitig das Hoffnungsfundament allen Seins.

Jedes ökologische Engagement der EKS beginnt mit dieser Einsicht. Die Gründe für den besorgniserregenden Zustand der Welt liegen auch in unserem Umgang mit Natur und Umwelt und lassen sich zum grossen Teil wissenschaftlich rekonstruieren und erklären. Die Ursachen für diesen Umgang liegen aber tiefer, aus biblischer Sicht im Schicksal der Schöpfung nach dem Sündenfall. Es war und ist ein Manko der reformatorischen Rechtfertigungslehre, diese bis heute nur auf einen kleinen Teil der Schöpfung – die Menschen – zu beschränken. Die aussermenschliche Schöpfung ist zwar nicht Täterin, aber gleichwohl Betroffene der biblischen Verfallsgeschichte. «Paradise Lost» lautet das Menetekel nicht nur der menschlichen Geschöpfe, sondern der gesamten Schöpfung. Alles Geschaffene sitzt nicht nur ökologisch, sondern auch theologisch in einem Boot.

Christinnen und Christen sind demzufolge gerufen, für die gesamte Schöpfung Verantwortung zu übernehmen und ihr Entscheiden und Handeln nach dieser Mitverantwortung auszurichten. Gleichzeitig ver- trauen sie darauf, dass die ganze Schöpfung in Gottes Hand liegt und letztendlich seiner Erlösung bedarf. Mutiges Handeln zugunsten eines gerechten, friedlichen und umweltbewussten Zusammenlebens der Menschen gehört ebenso zur Haltung von Christinnen und Christen wie Gelassenheit und Vertrauen in das erlösende Wirken Gottes.

Frage 2: Was kennzeichnet eine biblisch-theologische Sicht auf die drei Abstimmungsvorlagen?

Die biblisch-theologische Sicht auf Natur und Umwelt unterscheidet sich grundlegend von einem naturwissenschaftlichen Blick. Kirchen sehen Natur und Umwelt nicht als eine die Menschen umgebende Ob- jektwelt, sondern als Schöpfungsgaben Gottes. Sie sind einerseits für die Menschen von Nutzen und zu ihrem Gebrauch bestimmt. Andererseits sind sie Ausdruck von Gottes bleibender Zuwendung und Sorge für seine Schöpfung. Nicht zufällig symbolisiert das Naturschauspiel des Regenbogens das Bundesversprechen und die Treue Gottes gegenüber allen Geschöpfen (Gen 9,9–17): «Meinen Bogen stelle ich in die Wolken. Der soll ein Zeichen des Bundes zwischen mir und der Erde sein. […] Dies ist das Zeichen des Bundes, den ich aufrichte zwischen mir und allem Fleisch, das auf Erden ist.» Ausdrücklich bezieht Gott «alle Lebewesen» (Gen 9,16) in seinen Bund mit ein. Wie Johannes Calvin in seiner Genesisauslegung von 1554 resümiert, will Gott «den Glauben der Seinen üben; dass durch seine besondere Wohltat die Erde ihnen eine sichere Herberge ist, bis der Himmel sie aufnimmt». Was den vernunftbegabten Geschöpfen eine Übung ist, gilt der gesamten übrigen Schöpfung als göttliches Versprechen. Der ökologische Blick des Genfer Reformators zielt nicht auf die Einlösung des Versprechens durch die Menschen. Vielmehr geht es ihm um einen Umgang mit der Natur und Umwelt, der dieser göttlichen Zusage gegenüber seiner ganzen Schöpfung entspricht.

Calvin setzt nicht auf menschliche Strategien oder ökologische Programme. Stattdessen plädiert er für eine Haltung der Bescheidenheit und Dankbarkeit. Er fordert keine moralischen Demutsgesten, sondern – ganz im Gegenteil – den echten, sinnlichen Genuss bei «der Betrachtung von Gottes Werken». Aus biblisch-theologischer Sicht geht es um ein kontemplatives Gestimmtsein für die göttlichen Schöpfungsgaben, «denn in diesem wunderherrlichen Schauspiel hat er [der Mensch] ja seinen Platz als Zuschauer» (Inst. [1559], I,6,2). Knapp ein halbes Jahrtausend später, nach der Französischen und Industriellen Revolution, zwei Weltkriegen und der Etablierung der globalen Technologie- gesellschaft klingt die Aussage des Genfer Reformators aktueller denn je. Wir haben unseren Platz als Zuschauerinnen und Zuschauer gegen die Rolle von Akteurinnen und Akteuren auf der Bühne getauscht. Wir wollten die Schöpfung perfektionieren und unseren Effizienzmass- stäben anpassen. Noch schwerer wiegt in der Konsequenz, dass vom Standort auf der Bühne das «wunderherrliche Schauspiel» nicht mehr gesehen werden kann. Im Handlungsmodus verschwindet die Auf- merksamkeit für das Gegebene und die Dankbarkeit gegenüber dem Geber. Wir haben das Zuschauen und Zulassen – auch durch überzogene Eigenverantwortungszuschreibungen – immer mehr verlernt. Diesen fundamentalen Verlust und Selbstirrtum bekommen zuerst die Umwelt, dann die Menschen ohne Bühnenzutritt und schliesslich auch diejenigen zu spüren, die die menschlichen Schauspiele inszenieren.

Frage 3: Welche Rolle spielen biblisch-theologische Perspektiven im Rahmen der staatlichen CO2-Gesetzgebung?

In den 1980er Jahren gehörten die Kirchen in der Schweiz und als weltweite Gemeinschaft zu den ersten Stimmen, die vor dem Klimawandel warnten. In Zusammenarbeit mit der Europäischen Physikalischen Gesellschaft wurde das Thema auf der Ersten Europäischen Ökumenischen Versammlung in Basel (Pfingsten 1989) breit diskutiert und die Schlusserklärung aufgenommen. Seither hat eine fachlich gut abgestützte und theologisch-ethisch argumentierende Auseinandersetzung mit dieser Problematik stattgefunden, immer auch unter dem Gesichtspunkt des eigenen Verhaltens (zu den ethisch begründeten politischen Forderungen der Kampagne «Die Haut der Erde retten» Anfang der 1990er Jahre gehörte auch eine Selbstverpflichtungserklärung).

Die EKS hat wichtige Grundlagenarbeit geleistet. Erwähnt seien sozial- ethische Studien, die schon in den 1980er Jahren die Bedingungen eines nachhaltigen Energieverbrauchs untersuchten. Die 2008 veröffent- lichte Energieethik4 formulierte theologisch-ethische Leitsätze eines nachhaltigen, gerechten und friedensfördernden Umgangs mit Energie. Auf dieser Grundlage plädierte diese Grundlagenstudie für das damalige Konzept der 2000-Watt-Gesellschaft, eine deutliche Verminderung des Gesamtenergieverbrauchs. Der Übergang in ein neues Energiezeitalter wurde auch als gesamtgesellschaftliche spirituelle Heraus- forderung interpretiert – als Abschied von Übernutzung und Verschwendung. Wie in jedem Abschied zeigen sich auch hier die Phasen eines Trauerprozesses (Leugnen, Zorn, Feilschen, Depression und Annahme). Dieser Versuch, die leiblichen und die seelischen Aspekte von Energie und Energiepolitik theologisch zusammenzusehen, fand starke Beachtung, weit über die Kirchen hinaus.

In diesem viel breiteren und theologisch durchdachten Zusammenhang war es möglich, zu einzelnen politischen Vorlagen Stellung zu nehmen. Insbesondere hat sich die EKS schon mit früheren Revisionen des CO2-Gesetzes Stellung befasst und sich differenziert, aber befürwortend geäussert.

Frage 4: Welche Gründe gibt es, der neuen Fassung des CO2-Gesetzes zuzustimmen?

Die in der Totalrevision des CO2-Gesetzes formulierten Massnahmen sind konsequente Weiterführungen des eingeschlagenen Weges. Sie machen diesen berechenbar und fördern die Konkurrenzfähigkeit zu- kunftsweisender Innovationen. Die vorhersehbaren Verschärfungen bestehender Regelungen wirken in diesem Sinne (z. B. bei Brennstoffen und Automobilimporten). Die Aufhebung einer systemwidrigen Aus- nahme (Kerosin) ist überfällig. Mit dem Einbezug der Finanzwirtschaft wird ein Ansatz zur Schliessung einer weiteren Lücke geschaffen.

Das Gesetz ist nicht in allen Teilen problemgerecht. «Kompensation» beispielsweise bedeutet immer ein Sich-Freikaufen von nötigen Veränderungen bei sich selbst. Dennoch ist das Gesetz ein wichtiger Schritt hin zu mehr Klimagerechtigkeit.

Aus dieser Position ergibt sich natürlich ein Anspruch an das Umweltmanagement der Kirche als Institution. Diesem Anspruch stellt sich die EKS in Zusammenarbeit mit oeku Kirche und Umwelt (Umweltleit- linien, Zertifizierungsprozess «Grüner Güggel»).

Frage 5: Was verbindet und was unterscheidet die beiden Initiativen zu Trinkwasser und Pestiziden?

Beide nehmen ein wichtiges Anliegen auf: Nicht nur die Chemie der Atmosphäre (Klima), sondern auch die Stoffkreisläufe in Wasser, Boden und Nahrungskette sind zunehmend gestört – mit Folgen für die län- gerfristige Verfügbarkeit des Lebensmittels Trinkwasser, die Gesundheit und die Biodiversität. Gestört ist auch das Vertrauen weiter Teile der Bevölkerung, dass Vorbeugung und Vorsorge, so wie sie bisher gehandhabt werden, ausreichen.

Die Trinkwasser-Initiative bezieht sich ausschliesslich auf die schweizerische Landwirtschaft. Sie setzt bei dem Instrument der Direktzahlungen an, indem sie die Anforderungen für den Ökologischen Leistungsnachweis (ÖLN) drastisch erhöht. In dieser Hinsicht ist ihr Fokus eng: was ausserhalb des ÖLN passiert (im In- und Ausland), beeinflusst die Initiative nicht. Relativ breit ist dagegen der Einbezug problematischer Stoffe, neben Pestiziden auch prophylaktisch angewandte Antibiotika, sowie die unausgeglichene Nährstoffbilanz (Stickstoff, Phosphor) durch den Import von Futtermitteln (mit gravierenden Folgen für alle nährstoffarmen Lebensräume: Moore, Klarwasserseen, Magerwiesen usw.).

Die Pestizid-Initiative hat das umgekehrte Profil: sie will das Verbot synthetischer Pestizide (und nur dieser), allerdings in sämtlichen Anwendungsbereichen (nicht nur Landwirtschaft) und mit den gleichen Anforderungen für einheimische und importierte Produkte.

Beide Initiativen gehen also in die richtige Richtung. Sie sind aber auch mit Problemen behaftet, teils sachlicher und «handwerklicher» Art, teils im Hinblick auf ihre indirekten Wirkungen.

Frage 6: Welche kritischen Aspekte weist die Trinkwasser-Initiative auf?

Beide Initiativen sind schon dadurch polarisierend, dass sie in einem Bereich, in dem Konsumgewohnheiten und Konsumentenverhalten eine grosse Rolle spielen, ausschliesslich bei der Produktion ansetzen (mag es dafür auch sachliche Gründe geben).

Dieses Ungleichgewicht wird bei der Trinkwasser-Initiative noch dadurch verstärkt, dass nur die Landwirtschaft behandelt und das heikle Instrument der Direktzahlungen als Hebel benutzt wird (statt der Preise). Die legitime Erwartung seitens der Landwirtinnen und Landwirte, in ihrer beruflichen Kompetenz anerkannt zu werden, über Planungssicherheit zu verfügen und angesichts ohnehin unauflösbarer Konflikte zwischen den verfassungsgemässen Zielen der Landwirtschaft Gestaltungsspielräume zu behalten, wird brüskiert. Frei von jeder Einschränkung bedienen sich derweil Konsumentinnen und Konsumenten beim Discounter jenseits der Grenze.

Diese Situation fördert die Neuausrichtungen nicht, die notwendig sind und innerhalb des bäuerlichen Berufsmilieus durchaus diskutiert werden, auch zwischen den Generationen. Eine kirchliche Stimme kann hier zwar sehr wohl die Modellisierung der Auswirkungen der Trinkwasser-Initiative auf den Agrarbereich und die Umwelt zur Kenntnis nehmen (mit konträren Effekten für die Inlands- und Auslandsproduktion), aber sie muss in erster Linie den Menschen zuhören und die Menschen im Auge behalten.

Frage 7: Wie sind Inhalt und Auswirkungen der Pestizid-Initiative zu beurteilen?

Da der Begriff der «synthetischen Pestizide» nicht definiert ist, ist schwer zu entscheiden, welche Stoffe im Einzelnen betroffen sind. Ein Importverbot für Produkte, die mit synthetischen Pestiziden erzeugt wurden, erscheint kaum vereinbar mit den derzeit geltenden Freihandelsbeziehungen der Schweiz (EU, WTO). Eine so allgemein gehaltene Einschränkung würde als Handelshemmnis gelten, ausser in den Einzelfällen, in denen die Gefährdung von Gesundheit, Umwelt und anderen Schutzgütern nachgewiesen ist. Die Sensibilisierung wächst allerdings, was sich auch an Gerichtsentscheidungen ablesen lässt (z. B. in Frankreich).

Die pauschale Gleichsetzung von natürlich und gesund, synthetisch und giftig lässt sich risiko-theoretisch und ethisch nicht halten. «Natürliche» Pestizide sind nicht risikofrei, als gebe es bei ihnen kein wo, wie und wieviel. Die verallgemeinernde Abwehr von synthetischen Pestiziden ist verständlich als Reaktion auf viele Schadens- und Verdachtsfälle, mit weitaus tragischeren Auswirkungen in Ländern des Südens als im Norden. Solche Beispiele zeigen tiefgreifende Probleme im Verfahren (der Prüfung und Zulassung, der Erfassung und Überwachung, usw.), nicht Probleme einer zur Stoffklasse erhobenen Produktionsform an sich. Viel zu viel wurde viel zu schnell zugelassen, das ist wahr: dort ist anzusetzen (was seit einigen Jahren auch geschieht), nicht mit einem pauschalen Verbot, sondern mit unabhängigeren Verfahren und strengeren Kriterien. Das Risikowissen ist unzureichend, solange das Zusammenspiel mehrerer Substanzen und die Wirkung von Abbauprodukten (Metaboliten) nicht vorausgesagt werden können.

Frage 8: Wie ist es zu bewerten, dass das Parlament die Agrarpolitik ab 2022 sistiert hat?

Als vorläufiges Scheitern eines komplexen Aushandlungsprozesses zeigt der Vorgang (auch mit dem knappen Stimmenmehr im Nationalrat) die starke Polarisierung der agrarpolitischen Leitbilder. Es fehlt jedoch nicht nur der Konsens über die zukünftige Agrarpolitik. Eine ganze Reihe von Massnahmen, die die Vorlage enthielt und die auf breitere Zustimmung stossen, treten damit vorab nicht in Kraft. Sie betreffen nicht nur ökologische Anliegen (z. B. Entwicklung von besseren Produktionssystemen, sowie technische und logistische Massnahmen, um die Dosis und die Umweltwirkungen problematischer Stoffe zu reduzieren). Auch die bessere Absicherung von in der Landwirtschaft tätigen Frauen war Teil der Vorlage. Manche Elemente der AP 22+ sollen nun als Einzelgesetze vorgelegt werden.

Frage 9: Ein Beispiel ist die parlamentarische Initiative «Das Risiko beim Einsatz von Pestiziden reduzieren» und das daraus hervorgegangene Bundesgesetz vom 18.3.2020. Sind damit wesentliche Anliegen der beiden Initiativen vorweggenommen?

Teilweise ist das der Fall, hauptsächlich im Hinblick auf Pestizide und eine bessere Vorbeugung vor Stoffeinträgen, die Trinkwasserreserven langfristig oder sogar irreversibel schädigen (strengere Grenzwerte, auch für Substanzen, die Zeigerwert haben; Ausweisung und Überwachung von Zuströmbereichen). Nicht alle Anliegen der Initiativen sind jedoch aufgenommen; so ist es nicht gelungen, einen verbindlichen Absenkpfad für Nährstoffüberschüsse festzulegen. Dieses Ergebnis zeigt, dass die Biodiversität neben der menschlichen Gesundheit zu wenig Gewicht hat, und dass akute und lokale Grenzwertüberschreitungen ernster genommen werden als langfristige und globale Belastungen.

Frage 10: Die beiden Volksinitiativen wollen den Landwirtschaftsartikel (Art. 104) der Bundesverfassung neu fassen. Welche zusätzlichen Möglichkeiten bietet schon der geltende Artikel, um den Übergang zu ökologisch verträglicheren Formen der Landwirtschaft zu fördern, auch im Bereich der Pestizide, der Nährstoffbilanz und der Dichte des Tierbestands?

Aus der Sicht der Evangelisch-reformierten Kirche kommt Art. 104, 3e, «Beratung und Ausbildung» eine grosse Bedeutung zu. Das hängt mit dem Menschenbild zusammen, das die Reformatoren aus den biblischen Schriften entnahmen und in ihrem Glauben an die Freiheit in Christus lebten und verkündigten. Freiheit ist immer Freiheit von (Fremdbestimmungen, «Götzen» in biblischer Sprache) und Freiheit zu (lebensförderlichen Beziehungen, eigenverantwortlichem Leben). Zur Freiheit gehört die Verantwortung. Und Bildung als lebenslanges Lernen ermöglicht es, dieser Freiheit in Verantwortung immer neue Gestalten zu geben. Das gilt auf allen Gebieten des Lebens.

Die Bildung der jungen Generation hat eine Schlüsselfunktion für neue, zukunftsorientierte Entwicklungen. Sie ist nicht nur Ausbildung (für eine unmittelbar anwendbare Berufskompetenz), sondern auch Fort- und Weiterbildung, ein «Lernen lernen», das sich ständig erneuert. Landwirte, die ihre Wirtschaftsweise verändert haben, betonen den Mut, den sie brauchten, und die Bereitschaft, jahrelang dazuzulernen. Die EKS ist überzeugt, dass auf diesem Feld neue Impulse nötig sind, auch im Miteinander von Landwirtschaft und anderen Berufs- und Lebensbereichen.

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