Frieden aus Frauensicht

Frauen- und Genderkonferenz der EKS sucht nach Wegen zum Frieden

Frieden ist viel mehr als die nur Abwesenheit von Krieg: Das war einer der Kerngedanken der Herbsttagung 2024 der Frauen- und Genderkonferenz der EKS. Wer sich ernsthaft für den Frieden einsetzen will, muss sich aus feministischer Perspektive auch für mehr Gerechtigkeit in Wirtschaft und Gesellschaft; und Care engagieren. Die Teilnehmenden der Tagung diskutierten diese Wege zum Frieden anhand der Biografie der grossen Schweizer Pazifistin Clara Ragaz-Nadig.

Würde Clara Ragaz-Nadig, eine der Pionierinnen der Schweizer Friedensbewegung und Frauenrechtlerin, heute noch leben (2024 würde sie 150), wäre sie vermutlich enttäuscht, aber nicht entmutigt. Zwar haben sich die Lebensumstände vieler Teile der Weltbevölkerung verbessert, aber Kriege gibt es immer noch. So begann auch Kerstin Bonk, Mitglied des Ausschusses der Frauen- und Genderkonferenz, die aktuelle Tagung in Bern mit einer ernüchternden Bestandsaufnahme: Kriegerische Auseinandersetzungen nehmen zu, Geschlechterungerechtigkeiten verstärken sich, Hungersnöte betreffen immer noch zuerst Frauen und Kinder. «Wir stellen unsichtbare marginale Stimmen heute in den Mittelpunkt», sagte Bonk zur Ausrichtung des Treffens, zu dem mehr als 40 Teilnehmende gekommen waren. Im Namen des Rates begrüsste Michel Rudin die Anwesenden und erinnerte daran: «Wir müssen eine Kirche sein, die Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jh. hat. Erst, wenn man inklusiv ist, ist man auf dem richtigen Weg. Auch im Friedenszusammenhängen.»

Vorbild: Clara Ragaz-Nadig

Verschiedene Stimmen hören, genau hinsehen. Das tat auch schon vor über 100 Jahren Clara Ragaz-Nadig (1874-1957) in ihrem Wohnquartier in Zürich Aussersihl, damals von Armut und Proletariat geprägt. Die aus Chur stammende Lehrerin und religiöse Sozialistin war verheiratet mit Leonard Ragaz und auf vielen Gebieten eine Pionierin: im feministischen Pazifismus, in der Frauenbewegung und Soziale Arbeit. Ragaz-Nadig setzte sich sowohl in ihrem Umfeld als auch international für Frieden ein. «Eine gerechtere Welt ist im Diesseits möglich. Ragaz Theologie ist ganz verankert im Alltagsleben», beschrieb es Geneva Moser in ihrem Dialogvortrag mit Léa Burger. Die beiden Referentinnen sind Redaktorinnen der Zeitschrift Neue Wege, die einst von Leonard Ragaz mitgegründet wurde. In ihrer persönlichen Spurensuche nach Clara Ragaz-Nadig Erbe haben die Gedanken und der Einsatz dieser vielseitigen Frau sie tief ergriffen. Neue Wege widmete der Pionierin eine Sonderausgabe und ein Festival. Moser schwärmt: «Ihre Texte sprechen heutig. Sie verbindet eine tiefe Frömmigkeit, die im Leben verankert ist, mit einer Kapitalismuskritik.»

Ragaz-Nadig war überzeugt, dass Frauen und Männer sich gemeinsam für die Neugestaltung der Wirtschaft einsetzen müssten, dazu brauchten die Frauen aber auch Gleichberechtigung und Wahlrecht. Die Vordenkerin stellte die Geschlechterfrage auch in Bezug auf den Frieden und hielt 1915 ihren bekannten Vortrag «Die Frau und der Friede». Viele Frauen trugen die Kriegsbegeisterung mit, was Ragaz-Nadig enttäuschte. Sie fragte, warum nicht «weibliche» Tugenden die Welt gestalten sollten, und kämpfte durch internationale Netzwerke um Gehör. «Sich selbstständig in die Welt einbringen, das spricht auch in unsere Zeit hinein», so Geneva Moser. Ragaz-Nadig dachte also holistisch: Frieden, Frauenrechte, Machtverteilung gehören zusammen. So setzte sie sich im und nach dem Ersten Weltkrieg gegen ein männliches Heldennarrativ, für Abrüstung, Zivildienst, Flüchtlingshilfe und Völkerverständigung ein.

Angst und Sicherheit

Annemarie Sancar sprach als zweite Expertin an diesem Tag über «Wege zum Frieden, eine feministische Perspektive». Die Berner Sozialanthropologin, und Expertin für feminist peace policies and gender justice bei Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF), machte zunächst klar: Frieden ist vielmehr als nur die Abwesenheit von Krieg. Die Menschen suchen primär nach Sicherheit. Doch bringen Waffen wirklich diese Sicherheit? Das schälte die Expertin als eine Kernfrage heraus. Derzeit werden diffuse Gefahren benannt und übertrieben, um politische oder wirtschaftliche Ziele zu erreichen. Sancar nannte den Diskurs um Migration als Beispiel, die als Bedrohung unserer Identität, Sicherheit und unseres Sozialwesens gedeutet wird. Man begegnet dieser Flüchtlingskrise dann mit Grenzschliessungen und der Klassierung als minderwertig. «Die Feindesbilder verschleiern die eigentlichen Ursachen der Enttäuschungen, die Gründe für die Ängste», so Sancar. Da hilft nur genau hinzuschauen, was die die Unsicherheit bewirkt. «Sicherheit ist viel komplexer als es das mit fremden Drohungen begründete Sicherheitsverständnis vorgibt.» 

Die Arbeit für den Frieden beginnt also mit der Dekonstruktion von Diskursen und Ängsten. Die Referentin staunte darüber, wie weitsichtig Ragaz-Nadig in diesem Zusammenhang schon war. Die Themen sind ähnlich: «Wie damals sind Patriarchat und Militarisierung bedeutende Stolpersteine in der feministischen Friedensarbeit. Wie damals gilt auch für heute die Kritik an der von Gewinnmaximierung getriebenen patriarchalen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die sich in den Strukturen und Institutionen verfestigt hat.» Zudem zementiert Krieg alte Rollenbilder und fördert kostenlose Carearbeit von Frauen. Feministische Friedensarbeit sieht deshalb Wirtschaft, Sicherheit und Frieden als verflochten an.

Für den Frieden einsetzen heisst soziale Bedingungen zu verbessern

«Was es braucht, um Sicherheit zu erzeugen, ist eine gerechte soziale Grundversorgung, die nicht nach der gewinnorientierten Logik funktioniert, wie u.a. Rüstungsindustrie oder Forschung in militärrelevante Technologien. Was es braucht, sind strenge Gesetze und Regulierungsmassnahmen für KI, dies zum Schutz der Menschenrechte, auch wenn solche Massnahmen einen finanziellen Mehraufwand und Streitigkeiten bedeuten – was ja demokratiepolitisch durchaus wünschenswert ist.»

Sancar nannte auch Beispiele, was Frauen konkret tun können: Geschlechterrollen analysieren, sich selbst hinterfragen, Faktenanalyse. Aber es ginge auch darum, die eigenen Einflussbereiche zu kennen, Bündnisse und Netzwerke zu schmieden. Mit WILPF sammelt sie Geschichten von Frauen, die in ihren komplexen Kontexten Frieden leben und versucht ihnen eine Bühne zu bieten. «Neben einer oft sehr anstrengenden, manchmal gefährlichen Friedenspraxis - ich denke da an unsere Mitstreiterinnen in Libanon, Belarus oder Bosnien-Herzegowina - braucht es die Vision, dass Frieden möglich ist.»

Auf Nachfragen der Teilnehmenden gab Sancar offen zu, dass es kein Musterbeispiel gibt, wie sich Kirche für den Frieden engagieren kann. Sie riet dazu, für Kleinstprojekte innerhalb kirchlicher Strukturen Zeit, Wert und Sichtbarkeit zu generieren. Geostrategische Debatten lenken dabei ab, das Hervorheben lokaler Friedensprojekte könnte eine wertvolle Lösung sein.

Sprache der Liebe statt des Geldes sprechen

Während des anschliessenden Mittagessens lud eine von Christina Caprez konzipierte Ausstellung über Clara Ragaz-Nadig auch zur Diskussion ein. Danach stiegen die Teilnehmenden in Workshops noch tiefer in das Thema Friedensarbeit ein.

Im von Juliane Ineichen geleiteten Workshop «Interreligiöser Friedensdialog» fragt sich die Teilnehmenden, wie sie aus der Rolle des Opfers heraustreten und selbst zu Friedensstifterinnen werden können. Besonders wichtig ist es dabei, die individuellen Kompetenzen und Ressourcen jedes Einzelnen in den Vordergrund zu stellen. Um den Frieden zu fördern, müssen die Kirchen ein neues Narrativ zu entwickeln. Anders als die Welt, die oft in der Sprache des Geldes spricht, sollten sie diesen Massstab nicht unterstützen, sondern in der Sprache der Liebe sprechen.

Um Konflikte im kirchlichen Umfeld ging es in dem von Dietlind Mus geleiteten Workshop, der die Teilnehmenden ermutigte, dem Gegenüber zuzuhören und Feedbackkultur einzuüben. Oft fehle noch der Mut, auf Probleme einzugehen.

In Annemarie Sancars Workshop «Feministische Wege zum Frieden» reflektierten die Teilnehmenden den Vortrag. Sancar erinnerte daran, Frauen zu fragen: «Was gibt dir Sicherheit?» Diese Erzählung haben eine grosse Kraft. Wer sich auf Bündnisse einlässt, kann daran mitwirken, im Alltag Frieden zu schaffen.

Fotos der Tagung

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Collage mit Frauenfotos
Picture of Michèle Graf-Kaiser

Michèle Graf-Kaiser

Fachmitarbeiterin für Medienkommunikation Deutschschweiz/Collaboratrice pour communication médias suisse-alémanique

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