«Wir haben schon so viele tote Kinder gesehen, was sollten noch mehr tote Kinder verändern?»
Mstyslav Chernov
In einer Welt, die von zahlreichen bewaffneten Konflikten und beispielloser Gewalt erschüttert wird, erscheint der Wunsch nach Frieden oftmals unerreichbar. Im Jahr 2023 gab es weltweit 59 militärische Auseinandersetzungen – die höchste Zahl seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Schätzungsweise jede siebte Person auf der Welt ist direkt von gewaltsamen Konflikten betroffen. Die humanitären Konsequenzen dieser Gewalt sind erschütternd: Mehr als 117 Millionen Menschen befinden sich auf der Flucht, davon 47 Millionen Kinder. Angesichts solcher Zahlen stellt sich die Frage, was wir als Einzelne und als Gesellschaft tun können, um Frieden zu schaffen.
Frieden und Gewalt sind nicht einfach Gegensätze; sie stehen in einem komplexen Verhältnis zueinander. Gewalt tritt in vielen Formen auf – physisch, psychisch, strukturell – und jene, die die Definitionsmacht darüber besitzen, was als Gewalt gilt, entscheiden zugleich darüber, welche Formen der Gewalt wahrgenommen und bekämpft werden. Strukturelle Ungerechtigkeit kann auf diese Weise oft unbemerkt bleiben. Nur wenn Unrecht und Ungerechtigkeit als solche erkannt wird, können wir sie auch als Form der Gewalt verstehen und bekämpfen.
Die Herausforderung besteht jedoch nicht allein darin, Gewalt zu erkennen. Sie liegt ebenso in der Frage auf der Gegenseite, was Frieden tatsächlich bedeutet. In der christlichen Tradition wird Frieden in der Bergpredigt Jesu thematisiert: „Selig sind, die Frieden stiften“. Doch was heisst es, Frieden zu „stiften“? Handelt es sich dabei um eine innere Haltung der Friedfertigkeit, die wir kultivieren sollen, oder um eine aktive, konfliktüberwindende Rolle in der Welt?
Die Frage nach der Verantwortung der Kirche im Umgang mit Frieden und Gewalt ist seit Jahrhunderten Gegenstand theologischer Diskussionen. Im 20. Jahrhundert setzte sich im Rahmen des Ökumenischen Rates der Kirchen das klare Bekenntnis durch: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.“ Diese Überzeugung fand Ausdruck in dem „Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“, der 1983 in Vancouver ins Leben gerufen wurde. In diesem Prozess wurde betont, dass Frieden untrennbar mit Gerechtigkeit verbunden ist. Frieden ist demnach kein statischer Zustand, sondern ein fortlaufender Prozess der Gewaltreduzierung und der Schaffung gerechter Lebensbedingungen für alle Menschen.
Historisch gesehen legitimierte die Theorie des „gerechten Krieges“ militärische Gewalt unter bestimmten moralischen Bedingungen. Diese Theorie, massgeblich entwickelt von Augustinus und Thomas von Aquin, sollte kriegerische Auseinandersetzungen in rechtliche Bahnen lenken und so die schlimmsten Auswüchse der Gewalt eindämmen. Doch angesichts der katastrophalen Zerstörungskraft moderner Waffensysteme, insbesondere der nuklearen Bedrohung, erscheint dieses Konzept heute mehr als fragwürdig.
Stattdessen fordern Theologen und Ethiker immer häufiger das Konzept eines „gerechten Friedens“. Dieses Paradigma geht davon aus, dass wir uns nicht länger auf die Frage fokussieren sollten, wann Krieg gerechtfertigt ist, sondern darauf, wie wir die Ursachen von Konflikten beseitigen und präventiv Frieden schaffen können. Karl Barth, einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts, brachte diese Idee auf den Punkt, als er forderte: „Si non vis bellum, para pacem!“ – „Wenn du Krieg nicht willst, bereite Frieden vor!“
Ist Frieden tatsächlich mehr als ein idealistischer Traum? Sowohl die christliche Theologie als auch die Philosophie bieten Antworten auf diese Frage. Für Immanuel Kant war Frieden kein natürlicher Zustand, sondern ein Ziel, das aktiv gestiftet werden muss. In seinem Werk „Zum ewigen Frieden“ beschreibt Kant den Frieden als etwas, das auf dem Fundament einer rechtsstaatlichen und internationalen Ordnung aufbaut, die das friedliche Zusammenleben von Staaten gewährleistet. Frieden ist demnach nicht das Ergebnis eines passiven Wartens, sondern das Produkt politischer und gesellschaftlicher Anstrengungen.
Auch Jesu Worte aus der Bergpredigt über die „Friedensstifter“ deuten darauf hin, dass Frieden eine Aufgabe ist, die aktiv verfolgt werden muss. Frieden zu stiften bedeutet nicht, Konflikten aus dem Weg zu gehen, sondern aktiv nach Wegen zu suchen, diese zu überwinden. Dabei ist Frieden kein bloss innerer Zustand, sondern immer auch eine soziale Praxis, die die Schaffung von Gerechtigkeit und die Überwindung von Ungerechtigkeit einschließt.
In der christlichen Lehre wird Frieden als Gabe Gottes verstanden, aber diese Gabe verpflichtet zugleich zu einem aktiven Handeln in der Welt. Die Bibel spricht nicht von einem ausschliesslich inneren Frieden, sondern von einem Frieden, der sich in den Beziehungen zwischen Menschen und Nationen manifestiert. Frieden zu stiften ist daher keine Option, sondern ein Gebot, das alle Gläubigen betrifft.
Angesichts der globalen Herausforderungen, der weltweiten Gewalt, von der die Ukraine und Gaza nur die Spitze des Eisbergs sind, stellt sich die Frage: Ist Frieden wirklich möglich? Die Antwort lautet: Frieden ist keine Strategie und kein Rezept, die technisch umgesetzt werden können, aber Frieden muss kein utopischer Wunsch bleiben. Es erfordert den Mut, nicht nur über das eigene Handeln, sondern auch über sich selbst hinauszugehen und sich in den Dienst des Friedens zu stellen – sei es im persönlichen Umfeld oder auf der globalen Bühne.
Original mit Fussnoten und Quellenangaben:
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