Theologische Anthropologie zwischen Schöpfung und Bund
«Wir haben uns nicht vom Möglichen zum Wirklichen verändert, als wir auf die Welt gekommen sind, sondern die Welt hat sich verändert. Nicht in unserer, sondern in ihrer Wirklichkeit gründet unsere Möglichkeit.»
Ingolf U. Dalferth
«Dass der wirkliche Mensch von Gott zum Leben mit Gott bestimmt ist, hat seine unangreifbare Entsprechung darin, dass sein geschöpfliches Sein ein Sein in der Begegnung ist [...] In dieser Begegnung ist es menschlich».
Karl Barth
In der Schweiz ist der Bundesbegriff überall präsent: in der föderalistischen Konstruktion der «Eidgenossenschaft», den zentralen staatlichen und politischen Institutionen der Bundesverfassung, -versammlung, -ämter, dem Bundesrat und Bundesgericht oder im Zusammenschluss der selbständigen Kantonalkirchen zu einem Kirchenbund (EKS). Das gilt auch für die Reformierten, nach deren Selbstverständnis der Bund und die Bundestheologie zu ihrer kirchlichen DNA gehören. Umso mehr erstaunt, dass ihren Theologien in jüngerer Zeit ein schon der alttestamentlichen Prophetie attestiertes «Bundesschweigen» nachgesagt wird. Hat der Bundesbegriff theologisch ausgedient oder ist die reformierte Bundestheologie am Ende Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden, insofern der Bund zu einer zentralen Kategorie in der liberalen Staatstheorie und im politischen Föderalismus wurde?
Theologiegeschichtlich ist der Bund eine Entdeckung der Schweizer Reformation. Heinrich Bullinger gilt als Begründer der Bundes- oder Föderaltheologie (von lat. foedus = Bund), der Gedanken von Huldrych Zwingli aufnimmt und dessen Überlegungen von Johannes Calvin übernommen wurden. Theologische Konzepte und kirchliche Dogmen reagieren in der Regel auf reale Konflikte. Im konkreten Fall ging es um die Ablehnung der Kindertaufe durch das entstehende Täufertum, gegen die Bullinger 1534 seine programmatische Schrift «Von dem einigen und ewigen Testament oder Bund Gottes» richtete. Seine Argumentation beruht im Kern auf der Behauptung einer Analogie zwischen dem jüdischen Bundeszeichen der Knabenbeschneidung und der christlichen Kindertaufe: «Damit aber niemand behauptet, diese Worte würden nur für das Volk des Alten Testaments gelten und nicht auch für die Menschen des Neuen, soll man Paulus anhören, der zu den Galatern sagt (Gal 3,29): ‹Alle, die Christus angehören, sind die Nachkommenschaft Abrahams.› Ebenso: ‹Die, die Erben sind, sind die Nachkommenschaft Abrahams.› Und wiederum: ‹Die, die heilig sind, sind die Nachkommenschaft Abrahams.› Wenn man diese Äusserungen miteinander verbindet – sie sind Kinder Christi, sie sind Erben, sie sind heilig –, so folgt daraus unmittelbar: also sind die Kinder die Nachkommenschaft Abrahams, also sind sie in seinem Bund. Darauf beziehen sich die Worte Christi [Lk 18,16]: ‹Lasset die Kinder zu mir kommen, denn solchen gehört das Reich Gottes› […]. […] Es steht ja zweifelsfrei fest, dass ihre Kinder, auch die von schlechten Eltern stammenden, beschnitten und zum Volk Gottes gezählt wurden. Deshalb haben wir auch in Bezug auf die Kinder der Christen keine Zweifel, sondern wir halten dafür, dass wir sie durch die Taufe ohne weiteres in die Kirche der Gläubigen aufnehmen sollen. […] Aus dem, was bis jetzt erörtert worden ist, dürfte klar geworden sein, wer die Nachkommen Abrahams sind und dass das Erbe für diese Nachkommen bestimmt ist.»
Der Zürcher Reformator ist sich der weitreichenden Konsequenzen seiner Analogisierung von jüdischer Beschneidung und christlicher Taufe bewusst, allen voran für die theologischen Dichotomien von «altem» und «neuem» Bund, «Gesetz» und «Evangelium», «Altem» und «Neuem Testament», die er nacheinander abarbeitet. Ausgehend von Genesis 17 versteht Bullinger den Abraham-Bund als «das einzige und ewige Testament Gottes». Gott selbst habe es für gut befunden, «das Geheimnis der Einheit und Gemeinschaft mit dem Göttlichen auf menschliche Weise zu benennen, und [ist] der Schwachheit unseres Verstandes wegen sogar menschlicher Gewohnheit gefolgt […], indem er einen Bund oder ein Testament einrichtete.» Deshalb ist der Bund der einzige Standort und der alleinige Massstab für das Verständnis der ganzen Bibel: «Ja es ist sogar offenkundig, dass den Gläubigen aller Zeiten durch die ganze Heilige Schrift nichts anderes gelehrt wurde, als was in diesen Hauptpunkten des Bundes enthalten ist, ausser dass im Laufe der Zeit die einzelnen Punkte ausführlicher und klarer dargelegt worden sind. Denn was auch immer in der Heiligen Schrift über die Einheit, Macht, Erhabenheit, Güte und Ehre Gottes gesagt wird, ist in diesem einen Wort des Bundes eingeschlossen [Gen 17,1]: »‹Ich bin der Herr, die Allgenugsamkeit›. […] Vergleiche, wenn du willst, mit diesen Bedingungen des Bundes das Gesetz, die Propheten und sogar die Briefe der Apostel, und du wirst erkennen, dass sich alles, was darin gesagt wird, auf diesen Bund als Ziel und Zweck bezieht.» Daraus folgt, dass Christus, «nicht nur mit all seiner Lehre, sondern auch mit seiner wunderbaren Menschwerdung den ewigen Bund, den Gott mit dem Menschengeschlecht geschlossen hat, auf wundersame und lebendige Weise gewissermassen erklärt und bestätigt hat». Die Unterscheidungen Begriffe «‹Altes› und ‹Neues Testament›, ‹Geist› und ‹Volk›» sind für Bullinger «nicht aus dem Wesen des Bundes erwachsen», sondern «gewissen beigezogenen und äusserlichen Umständen» geschuldet. Entsprechend lautet sein Resümee: «Nun kann keine Ähnlichkeit oder Gleichheit zwischen Dingen bestehen, die sich ihrer Natur nach widersprechen. Wenn daher der Glaube und die Unschuld Abrahams nicht der wahre, christliche Glaube und die wahre, christliche Gottesfurcht gewesen wären, so hätte Gott ihn zu Unrecht den Christen zur Nachahmung empfohlen. Folglich gibt es nur einen Bund und nur eine einzige Kirche aller Gläubigen vor und nach Christus (Ps 14[15] und 23[24]), einen einzigen Weg zum Himmel und eine einzige, beständige Gottesverehrung aller Gläubigen.»
Bullingers Traktat wird heute aus einer anderen zeitgeschichtlichen Perspektive gelesen, als es geschrieben wurde. Zwar fiel die Reformation in die Anfangszeit des Kolonialismus, aber den damals lebenden Menschen war ein Bewusstsein für cultural appropriation vollständig fremd. Darüber hinaus bestand das reformatorische Anliegen geradezu entgegengesetzt in der Reinigung der Kirche von ihren kulturellen Kontaminationen. Der Zürcher Reformator geht konsequent (bundes)theologisch vor und argumentiert für die theologische Einheit der einen biblischen Botschaft von dem einen Gott, der sich von Anfang an in dem einen Bund mit seiner Schöpfung/seinen Geschöpfen verbunden hat. Das Anliegen widerspricht grundsätzlich dem Versuch einer christlichen Überbietung oder Perfektionierung der jüdischen Traditionen, wie sie aus einer hierarchischen Deutung des «alten» und «neuen Bundes» regelmässig abgeleitet wurden. Allerdings entgeht auch Bullinger nicht einer christozentrischen Engführung, wenn er die «Nachkommen Abrahams» unmittelbar als «Kinder Christi» anspricht und im Epilog – im Anschluss an Eusebius – das höhere theologische (nicht historische oder kulturgeschichtliche) Alter des Christentumsgegenüber dem Judentum behauptet. Dass die theologische Perspektive vor dem Hintergrund der engen Verbindungen und Verflechtungen zwischen Staat und Kirche politisch vereinnahmt und in diskriminierender und rassistischer Weise (auch mit Billigung der Kirche) instrumentalisiert wurde, mag ein Grund für die bundestheologische Zurückhaltung der Reformierten sein.
Der theologischen Entwicklung gegenüber steht die juristische und staatstheoretische Erfolgsgeschichte des reformiert-reformatorischen Bundestopos, die allerdings eine selbstgemachte Alternative oder Konkurrenz hervorbrachte. Bereits Philipp Melanchthon und Zacharias Ursinus leiteten eine Entwicklung ein, in der die alte Dichotomie in Form eines ursprünglichen «Werk-» und soteriologischen «Gnadenbunds» zurückkehrte und sich der Natur- oder Schöpfungsbund mit der scholastischen Naturrechtslehre verband. Die reformierten Juristen des 16. Jahrhunderts, allen voran Johannes Althusius, der den Bund als Vertrag zwischen Herrscher und Volk (als Träger der Staatsgewalt) konzipierte, und Hugo Grotius, der als Vater des Völkerrechts gilt, waren entscheidende Wegbereiter des staatstheoretischen Kontraktualismus (Lehre vom Gesellschaftsvertrag) in der Neuzeit, der von Thomas Hobbes über John Locke und Jean-Jacques Rousseau bis zu John Rawls weiterentwickelt wurde. Der Beitrag der Reformierten/Calvinisten an den staatstheoretischen und politisch-philosophischen Ideen des neuzeitlichen Staats- und Völkerrechts ist unverkennbar. Der Einfluss beruht allerdings auf der sukzessiven Ersetzung des Bunds (covenant) durch den Vertrag (contract). Die Transformation hatte einen naheliegenden Grund: Die biblischen Vorstellungen von einem asymmetrischen Bundesverhältnis zwischen dem souveränen, bundesstiftenden Gott und seinen Geschöpfen liessen sich nicht auf die neuzeitlichen Beziehungen einerseits zwischen dem souveränen Volk und der staatlichen Herrschaft und andererseits zwischen gleichberechtigten souveränen Staaten übertragen. Einseitige Bünde können nur von der den Bund setzenden Seite gekündigt werden. Dagegen sind Verträge konditionale Konstrukte, auf die sich gleichberechtigte Vertragsparteien einigen, deren wechselseitige Einhaltung sanktioniert werden kann und die gemäss den vereinbarten Regeln von beiden Seiten aufgekündigt werden können. Folgerichtig bezeichnete Hobbes den Staat in seinem grossen staatstheoretischen Entwurf mit dem Namen des Monsters aus dem Hiobbuch «Leviathan» und als «sterblichen Gott».
Der staatsphilosophische Kontraktualismus folgt grob einem Dreischritt. (1.) Die Ausgangssituation besteht in einem quasi postlapsarischen «Naturzustand», in dem souveräne, eigeninteressierte und rational kalkulierende Individuen in einem anarchischen Zustand ohne soziale Ordnungen und Regeln leben. Das ist der Zustand, den Hobbes im Anschluss an Plautus als einen feinseligen beschrieben hat, in dem jeder Mensch jedem anderen Menschen als Wolf begegnet («Homo homini lupus est»). Um dieser permanenten Bedrohung zu begegnen, sei es (2.) für alle Menschen vernünftig, auf ihre Freiheit zur Gewalt zu verzichten und die Gewaltausübung an eine übergeordnete Instanz zu übertragen. Wenn alle Personen in der Weise auf ihre Gewalt verzichten, können sie von einer Ordnungsmacht profitieren, die ihr Gewaltmonopol zum Schutz der dieser Institution unterworfenen Personen einsetzt. Damit sind (3.) die wesentlichen Voraussetzungen für einen Staat, eine Gesellschaft und Sozialordnung geschaffen, die durch die wechselseitige Übereinkunft der Bürger:innen zu ihrem gegenseitigen Nutzen legitimiert sind. Das Vertragsverhältnis zwischen Bürger:innen und Staat und dessen Herrschaftslegitimation beruhen auf dem prinzipiell freiwillig eingegangenen Kontrakt freier Bürger:innen, wie sie heute in der demokratischen Wahl von Regierung und Parlamenten zum Ausdruck kommt.
Die kontraktualistische Ausgangsbedingung des Naturzustands verweist bereits auf eine theologisch fundamentale Herausforderung: die Vermittlung von Schöpfungs- und Bundestheologie als Fundament theologischer Anthropologie. Das Verhältnis zwischen Schöpfung und Bund kann grundsätzlich auf dreierlei Weise bestimmt werden:
1. Schöpfung ohne Bund: Die Position bildet im Kern die Umkehrung der kontraktualistischen Hypothese vom Naturzustand. Weil die paradiesischen Kreaturen friedliche Lämmer (und keine Wölfe) sind, brauchen sie keinen Bund. Der Sündenfall verschärft die Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpfen, fügt ihr aber grundsätzlich nichts Neues hinzu: Vor und nach dem Sündenfall besteht die Schöpfer-Geschöpf-Relation aus einem konsequenten Besitz- und Herrschaftsverhältnis, das einem Subjekt-Objekt-Schema folgt. Es geht nicht nur um ein hierarchisches Verhältnis schöpferischer Über- und geschöpflicher Unterordnung, sondern um eine Ursache-Wirkung-Relation, die sich aus neuzeitlicher Sicht genau darin erschöpfen muss, um nicht mit der menschlichen Freiheit und Verantwortung zu kollidieren. Dieser Konflikt begünstigte die vereinfachende Vorstellung von einer schöpferischen Initialzündung oder creatio continua, die eine Entwicklung kausal in Gang setzt und anschliessend der Freiheit des Geschaffenen überlässt.
2. Schöpfung plus postlapsarische/r Bünde/Bund: Die Konstellation begegnet in der verbreiteten Auffassung, dass Gottes Bundespolitik erst nach der Sintflut mit dem Noah-Bund beginnt. Der Bund wird aus dieser Perspektive zu einer Art Korrektur- oder Reparaturprogramm für die gefallenen Geschöpfe. Wie im kontraktualistischen Staat der Vertrag für die Menschen, bildet auch der von Gott gestiftete Bund für die Geschöpfe lediglich die zweitbeste Lösung. Der Bund begründet die Hoffnung und ermöglicht einen Prozess, der auf die Versöhnung mit dem Schöpfer und Bundesstifter zielt. Die Konzeption einer nachträglichen Bundeskonstellation muss entweder einen beziehungsneutralen Ausgangszustand der Schöpfung behaupten oder den Bund als ein sekundäres Verhältnis gegenüber einer ursprünglich anderen Beziehung zwischen Schöpfer und Schöpfung konzipieren.
3. Schöpfung als Bund: Der Bund bestimmt die Geselligkeit Gottes und seiner Geschöpfe als Sinn und Zweck der Schöpfung. Die Geschöpfe sind nicht nur aus Gott, sondern mit Gott, weil Gott sich von Anfang an mit ihnen verbündet. Die Schöpfung ist zugleich göttliche Verursachung und göttliche Beziehungsstiftung. Die ursprüngliche Bedeutung des Bunds als Sozialverhältnis erklärt die wechselvolle Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung als turbulente Familienchronik. Deshalb wird Gott als «Vater» angesprochen, eine Anrede, die aus der Perspektive einer Ursache-Wirkung-Relation oder unter der Annahme, dass Gott erst nach dem menschlichen Versagen zum Familienoberhaupt geworden wäre, unverständlich bliebe.
Die Bestimmung des Verhältnisses von Schöpfung und Bund hat unmittelbare Konsequenzen für die Anthropologie, wie im Anschluss an die Bundestheologie Karl Barths exemplarisch verdeutlicht werden kann.
Die Geschichte der reformierten Bundestheologie ist komplex und wechselvoll. Das spiegelt sich auch in der Theologie Karl Barths wider, der sie zunächst nur zögerlich zu Kenntnis nahm, dann mehrmals revidierte, bevor sie schliesslich zu einem wichtigen Bezugspunkt seiner Theologie wurde. Entscheidend war sein Schritt, von dem, besonders in der altreformierten Föderaltheologie analog zu den Antagonismen von den zwei civitates, Sünde und Gnade, alter und neuer Mensch, Evangelium und Gesetz entwickelten Dualismus zwischen einem alten Schöpfungs-, Werk-; Natur- oder Israelbund und einem neuen Gnadenbund zum ursprünglichen Zürcher Verständnis von einem einzigen Bund zurückzukehren. Der eine Bund – der mit der Schöpfung gestiftet wird – ist ein Versöhnungsbund, der mit der endgültigen Überwindung der sündhaften Entzweiung erfüllt wird. «Alles Geschehen des Willens Gottes ist das Geschehen seines Bundeswillens. Als sein Bundeswille streitet und siegt er in der in Jesus Christus geschehenen Versöhnung gegen des Menschen Sünde und ihre Folgen. Er ist aber zuerst, er ist schon vor des Menschen Sünde und vor Gottes Streit und Sieg gegen sie und ihre Folgen sein Bundeswille. Er bewährt sich in diesem Gegensatz, Streit und Sieg. Er kommt in ihm zur Erfüllung.» Die konstitutive Bedeutung von Versöhnung und Bund (kein Bund ohne Versöhnung und keine Versöhnung ohne Bund), bildet das Fundament für die theologische Anthropologie, «dass Gott sich selbst zum Genossen und Freund des Menschen und dass er den Menschen zu seinem Genossen und Freund erwählt und bestimmt hat. Das ist Gottes Gnadengedanke, Gnadenwille, Gnadenbeschluss im Blick auf die Welt, bevor sie war. Das ist der Sinn und die Absicht, in der er sie geschaffen hat.»
Barths Verhältnisbestimmung von Schöpfung und Bund mündet in die Doppelthese: «Die Schöpfung ist der äussere […] Grund des Bundes» und «Der Bund ist der innere Grund der Schöpfung.» Schöpfung und Bund sind gleichursprünglich, aber nicht identisch. «Die Geschichte dieses Bundes ist ebenso das Ziel der Schöpfung wie die Schöpfung selbst der Anfang dieser Geschichte ist.» Die Schöpfung verhält sich zum Bund, wie die formalen Bedingungen – Barth spricht von der «technischen Ermöglichung», der «Bereitstellung» und «Ausstattung des Raumes», der «Natur» – zur Absicht und zum Ziel – Barth verwendet den etwas verwirrenden Begriff der «materiale[n] Voraussetzung» –, wozu sie geschaffen wurden. Die Betonung liegt darauf, «[d]ass der Bund das Ziel der Schöpfung ist, das kommt zu der in ihr gesetzten Wirklichkeit des Geschöpfs nicht erst später hinzu, […] charakterisiert vielmehr schon die Schöpfung selbst und als solche […] auch das Wesen und die Existenz des Geschöpfs». Die Gegenüberstellung zielt nicht auf eine teleologisch oder metaphysisch aufgeladene Naturgeschichte oder Ontologie, sondern präsentiert, wie im Kern schon bei Bullinger, ein hermeneutisches Programm. Die Menschen können die Schöpfung und sich als Geschöpfe nur erkennen, wenn ihnen der Schöpfer als der bundesstiftende Gott, das heisst als der seine Geschöpfe liebende Gott begegnet.
Die Verhältnisbestimmung rückt den verwirrenden Streit über die Verursachung von Natur und Welt zwischen Evolutionstheorie, Biologie und Kreationismus in ein anders Licht. Ob das Natürliche als Wirkungen eines göttlichen Schöpfungsaktes oder als naturhaft oder biologisch selbständige Prozesse verstanden wird, trägt für den eigentlichen Konflikt nichts aus. Denn die Behauptung der göttlichen Schöpfung nimmt zwar gegenüber naturwissenschaftlichen Theorien eine Umadressierung des Ursprungs der Welt vor, enthält aber selbst noch keine normative Bestimmung der Schöpfung. Das kreationistische Anliegen, aus dem «Sein» ein «Sollen» abzuleiten, benötigt ein Konzept des Natürlichen, das ind der Behauptung der göttlichen Schöpfung nicht enthalten ist. Barths Bundestheologie bietet eine solche Erweiterung, allerdings um den Preis des Verlassens der ontologischen Ebene des Natürlichen, das den Streit zwischen Kreationismus, Evolutionstheorie und Biologie als sinnlos entlarvt.
Die anthropologischen Pointen aus dem konstitutiven Verhältnis von Schöpfung und Bund zeigen sich unmittelbar im zentralen Topos der Gottebenbildlichkeit (hebr. sӕlӕm/demut;griech. eikon/homoiosis; lat. imago/similitudo; Bild, Abbild, Statue/Nachbildung, Gestalt, Abbild; vgl. Gen 1,26f.; 5,1; 9,6; Ps 8,6 sowie allgemein 1Kor 11,7; Kol 3,10; Jak 3,7 und für Christus 2Kor 4,4; Kol 1,15; Hebr 1,3). Aus dem geschöpflichen Sonderstatus der Menschen folgt zweierlei: (1.) die dreistufige (Herrschafts-)Hierarchie Schöpfergott – menschliche Geschöpfe – übrige Schöpfung als Gott-Mensch- und Mensch-Schöpfung-Relation sowie (2.) die formale Egalität der menschlichen Geschöpfe aufgrund eines ihnen gemeinsamen Wesensmerkmals. Die formalen Bestimmungen sagen nichts darüber aus, was aus den hierarchischen Verhältnissen und aus der formalen Egalität der Menschen für das menschliche Selbstverständnis, Denken und Handeln folgt oder folgen sollte. Die markante ethische Leerstelle versuchte das Neuluthertum durch eine sachlich und politisch höchst umstrittene Theologie der Schöpfungsordnungen (Kirche, Staat, Wirtschaft, Familie) aufzufüllen.
Aus bundestheologischer Perspektive verweist die schöpfungstheologische Ursache-Wirkung-Relation von Anfang an auf die Schöpfer-Geschöpf-Beziehung im Sinn einer sozialen und kommunikativen Praxis. «Es ist die Koexistenz Gottes und des Menschen einerseits und die eigentümliche Existenz des Menschen andererseits, in welcher das in Gott selbst bestehende reale und doch einmütige Gegenüber geschöpfliche Gestalt gewinnt und dem Geschöpf offenbar wird.» Gott hat die Menschen als seine Partnerinnen geschaffen. Das Prädikat der Partnerschaftlichkeit irritiert, weil sie jener menschlichen Hybris des playing God Vorschub zu leisten scheint, die in der Geschichte vom Turmbau zu Babel in einem gewaltigen Trümmerhaufen endete. Eine geschöpfliche Sonderstellung kann also nur im Blick auf den Schöpfer bestehen, nicht aber in einem (stellvertretenden) Herrschaftsstatus in und über der Schöpfung. Partnerschaft verweist zunächst auf die soziale Existenz: «Gott ist wirklich nicht allein» und «Auch der Mensch ist nicht allein». Gott existiert nicht nur für sich allein, sondern auch in einem «Weltraum» mit «von ihm selbst verschiedene[n] Wesen», in dem er handelt und sich offenbart. Und der Mensch lebt, «weil Gott lebt, weil Gott auch für ihn lebt, und es ist Gottes freier Wille, dass er auch für ihn leben will. So lebt der Mensch als Gottes Geschöpf.» Eine Anthropologie auf bundestheologischem Fundament ruht auf drei Säulen:
1. Gott stiftet, erhält und vollendet den Gnadenbund frei und einseitig in zweifacher Hinsicht: Einerseits ist die Gnade Gottes frei und einseitig, die die Geschöpfe dazu befähigt, Bundespartner:innen zu werden. Der Bund ist kein Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpfen, sondern zwischen dem Schöpfer und den von ihm begnadeten Geschöpfen. Ebenso frei und einseitig ist andererseits die Erhaltung und Erfüllung des Bundes durch Gottes Selbstbindung an sein ewiges Treueversprechen. Die Treue Gottes zeigt sich darin, dass er angesichts der geschöpflichen Untreue selbst für die «Gegentreue und also für die Erfüllung des Bundes auch von seiner Seite [der Seite der Geschöpfe] aufkommt und sorgt».
2. Die Bundeszugehörigkeit bringt die Bundespartner:innen erst hervor. Wie der Bund «Israel als solches nicht etwa schon vor[findet], sondern schafft», gilt «dass Gott seinen Partner im Menschen nicht sowohl vorfindet und hat, sondern schafft». «Gottesvolk und Mensch werden im Bund, was sie zuvor nicht waren: Gottes Partner, in Jesus Christus Versöhnte und Geheiligte.» Aus politischer Perspektive hat der Philosoph Christoph Menke die transformative Kraft des Bundes gegenüber dem Vertrag betont: «Ein Bund ist kein Vertrag. Das Wesen des Vertrags ist, dass er eine Verbindlichkeit stiftet, die daran gebunden ist, dass die Partner so sind – und bleiben. Nur weil und wenn die Vertragspartner bestimmte Interessen und Absichten haben, gehen sie die Verbindung ein, und sie halten sie auch nur ein, soweit dies ihren Interessen und Absichten dient. Der Vertrag ist die bedingte Verbindung: bedingt dadurch, wie die Einzelnen sind. Der Bund dagegen verändert die, die ihn schliessen. Er macht sie zu anderen. […] Im Gegensatz zu einem Vertrag bringt der Bund eine Verbindung zwischen den Einzelnen hervor, die über die Einzelnen hinausgeht. Durch den Bund gehen die Einzelnen über sich hinaus.»
3. Gott schafft sich seine Partner:innen als begnadete freie Subjekte. Er spricht sein Volk mit der Übergabe der Gebotstafeln bei der Bundesfeier am Sinai als zum Urteilen und Entscheiden befähigte Subjekte an. Der bundestheologische Zugang schliesst die Lücke, die die schöpfungstheologische Sicht offenliess. Der Dekalog bildet das zentrale Ethos der Bundesgemeinschaft, das durch den Bundesstifter legitimiert ist, an den der Anfang des Dekalogs erinnert. Die Weisungen des Dekalogs und der Bergpredigt präsentieren keine Universalmoral, sondern das biblische Bundesethos, das nicht die Form moralischer Normen, sondern göttlicher Gebote und Weisungen hat. Sie gewinnen ihre Verbindlichkeit nicht aus einem ethischen Universalismus oder der Vorstellung von einer einzigen Menschheitsfamilie, auf die sich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als quasi schöpfungstheologische Genealogie beruft, sondern durch den mit den Geschöpfen eingegangenen Gnadenbund Gottes. Die Gnade befähigt zum «freien Gehorsam» der «mündig gesprochen und auch als mündig behandelt[en]» Person. Die auf den ersten Blick widersprüchliche Verbindung von Freiheit und Gehorsam zielt nicht auf die Freiheit gegenüber anderen, sondern der eigenen Person und schliesst damit an eine fundamentale rationale Überlegung an: «Frei ist nicht der, der Tun und Lassen kann, was er will, auch nicht der, der seine Ansichten anderen aufzwingen kann, sondern wer zu seinem eigenen Wünschen und Wollen Nein sagen kann, wer damit rechnet, dass er sich irren und der andere recht haben könnte, und wer daher nicht aufhört, sich selbst gegenüber kritisch und misstrauisch zu bleiben.»
«Ich bin ein Mensch» heisst im Bundesjargon: «Ich bin Gottes Geschöpf und sein/e begnadete/r Partner/in». Das gilt in doppelter Hinsicht: (1.) In der vertikalen Gott-Geschöpf-Beziehung gibt sich das Geschöpf «selbst zur Antwort auf das Wort Gottes her[…]», es verhält «sich selbst als dessen Beantwortung». Sich pathisch als Antwort auf Gottes Wort ihm hinzugeben (selbst zur Antwort Gottes zu werden) bedeutet, den eigenen Subjektstatus durch die hybride Existenz des paulinischen Bekenntnisses zu ersetzen: «Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir» (Gal 2,20). (2.) Für die horizontale Geschöpf-Geschöpf-Beziehung gilt: «‹Ich bin, indem Du bist›». Das «indem» bezeichnet nicht die Ursache, sondern die Art und Weise, wie das «Ich»-Sein auf das «Du»-Sein bezogen ist. Es ist das Verhältnis «zweier aus sich herausgehender, […] sich begegnender Seinskomplexe. Als zwei Geschichten begegnen sich das ‹Ich bin› und das ‹Du bist›. [… I]n und mit ihrer Erschaffung und also in und mit dem beiderseitigen Beginn ihrer Bewegung und Geschichte sind sie in der Begegnung.» Barth wendet sich gegen die Anschauung «eines reinen Subjekts», das nicht das Subjekt «in dieser Begegnung» ist und setzt dagegen die Vorstellung von der menschlichen Existenz «in dieser Bewegung […] des Menschen mit seinem Mitmenschen».
In der westlichen Welt bildet der «‹Bund› […] eine Grundmetapher des menschlichen Zusammenlebens, […] des Politischen und Sozialen». Darin kulminieren komplexe Vorstellungen von Sozialität, ihren Bedingungen, Ansprüchen und Konsequenzen: «Verbundenheit, gemeinsames Risiko, Freundschaft, Gegenseitigkeit, gegenseitige Abhängigkeit, Gemeinschaft, Zusammenarbeit, gemeinsames Ziel, Vertrag, Abkommen, Engagement, Treue, Loyalität, Vertrauen, gemeinsame Werte, natürliche Ordnung, […] religiöser Glaube». Mit den Begriffen werden Haltungen und Praktiken bezeichnet, die darauf zielen, «miteinander nicht nur nach Massgabe des logos und des ethos, sondern auch des pathos [zu] leben». Der durch den Bund konstituierte Beziehungsraum gehört nicht nur auf die Ebenen der (theologischen) Erkenntnis und des (nachvollziehenden) Handelns, sondern wesentlich auf die phänomenologische Ebene des (zustossenden) Erlebens und Entdeckens. Folgerichtig entfaltet Barth den Gnadenbund und die göttliche Bundestreue nicht als einen herausgehobenen Status von besonders ausgezeichneten «Verbündeten». An den Stellen seiner Ausführungen, die den Beziehungsbegriff nahelegen, taucht konsequent der Ausdruck «Begegnung» auf. Das «Sein in Begegnung» zeigt sich darin, «dass man sich gegenseitig gerne sieht und voneinander sehen lässt, gerne miteinander redet und gerne aufeinander hört, gerne Beistand empfängt und gerne Beistand leistet». Begegnung findet dort statt, wo Personen (1.) gerne, (2.) sehen und gesehen werden, (3.) reden und hören, (4.) unterstützen und unterstützt werden. Begegnung ist eine geteilte Praxis im Vollzug, die sich ereignet, wenn Geschöpfe miteinander kommunizieren und füreinander handeln, und die so lange bestehen bleibt, wie Personen miteinander kommunizieren und füreinander handeln. Das Verständnis schliesst unmittelbar an den Politikbegriff Hannah Arendts an: «[D]er Mensch ist a-politisch. Politik entsteht in dem Zwischen-den-Menschen, also durchaus ausserhalb des Menschen. Es gibt daher keine eigentliche politische Substanz.» Die theologische Paraphrase der Bundespolitik Gottes könnte lauten: Die Geschöpfe an sich sind unverbunden. Der Bund entsteht in dem Zwischen-den-Geschöpfen, also durchaus ausserhalb der Geschöpfe. Es gibt daher keine eigentliche Substanz des Bundes. Der Bund und die Bundestreue Gottes sind weder ein Beziehungsattribut noch das Merkmal einer Natur oder Struktur, sondern zeigen sich in den immer neuen, hinwendenden und bestätigenden Begegnungen.
Das dynamische Bundesverständnis in der Begegnung grenzt sich gegenüber zwei diametralen Missverständnissen ab: (1.) Die Begegnung meint nicht den kommunitären Umgang zwischen Gemeinschaftsmitgliedern und findet nicht zwischen Subjekten statt, die genealogisch oder auf andere Weise miteinander verbunden sind. Auch an dieser Stelle kann nochmals auf Arendts postfundamentalistischen Politikbegriff zurückgegriffen werden: «Der Ruin der Politik nach beiden Seiten entsteht aus der Entwicklung politischer Körper aus der Familie. [...] Familien werden gegründet als Unterkünfte und feste Burgen in einer unwirtlichen, fremdartigen Welt, in die man Verwandtschaft tragen möchte. Dies Begehren führt zu der grundsätzlichen Perversion des Politischen, weil es die Grundqualität der Pluralität aufhebt oder vielmehr verwirkt durch die Einführung des Begriffes der Verwandtschaft.» Wiederum bundestheologisch gewendet geht es um die Offenheit des Bundes für die in der Schöpfung angelegte Pluralität, die im Bund nicht harmonisiert, sondern inkludiert wird. (2.) Die Begegnung folgt umgekehrt auch nicht aus einem individuellen Impuls, Motiv oder Anliegen. Sie resultiert nicht aus einem «innere[n] Bedürfnis des mit Gott versöhnten menschlichen Ich» oder einem «Einbruch des göttlichen Geistes in den menschlichen Geist». Als Bundespartner:innen entsprechen die Geschöpfe nicht den autonomen, geselligen Subjekten der neuzeitlichen Philosophie, sondern den Anwesenden beim Pfingstereignis in Jerusalem, an dem sich Gottes Geist – als Bundesgeist – nicht in ihnen, sondern zwischen ihnen offenbarte.
Das Verständnis des in der Schöpfung angelegten Gnadenbunds analog zum politischen Begegnungsraum bei Arendt weicht in der Verschärfung der Frage nach den Bundessubjekten (analog zu Arendts Frage nach dem Wesen der politischen Subjekte) von Barths Bundestheologie ab. Seine Perspektive auf die Geschöpfe als Gottes Bundes:partnerinnen fokussiert – aus der Subjektperspektive – auf deren Begabung, Berufen- und Aufgefordertsein zu einer kooperativen Bundespraxis. Dagegen setzt die göttliche Bundespolitik als Zwischenraum auf Subjekte-in-Begegnung, die aus sich selbst heraustreten, um zu Begegnenden zwischen-den-Subjekten zu werden. Das «zwischen-den-Subjekten» meint keine räumliche Lokalisierung, sondern die Gestalt oder Form der Subjekte-in-Begegnung bzw. der Subjektivität der Bundespartner:innen. Aus der Personperspektive könnten die Subjekte-in-Begegnung im Anschluss an den Ethnologen Victor Turner als «Schwellenpersonen» oder «Grenzgänger» beschrieben werden, deren Eigenschaften notwendigerweise unbestimmt seien, weil «diese Personen durch das Netz der Klassifikationen, die normalerweise Zustände und Positionen im kulturellen Raum fixieren, hindurchschlüpfen. Schwellenwesen sind weder hier noch dort; sie existieren zwischen [betwixt and between] den von Gesetz, Tradition, Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen». Aus der Perspektive zwischen-den-Subjekten bzw. der Bundesperspektive legt sich Jean-Luc Nancys Bestimmung des sozialen «Wir» nahe, als «der Raum selbst, das Eröffnen eines Raums der Erfahrung des Draussen, das Ausser-Sich-Sein». Das «Wir» der Bundespartner:innen ginge dann aus keiner vorgegebenen (sozialen) Ordnung oder einer stabilen (substantiellen oder normativen) Identität hervor, sondern bestünde «im Erscheinen des Zwischen als solchem: du und ich (das Zwischen-uns); in dieser Formulierung hat das und nicht die Funktion des Nebeneinandersetzens, sondern des Aussetzens.» Der Bund als Zwischenraum lässt die Geschöpfe nicht in ihrer Subjektivität bei sich, sondern anders/neu werden in der Begegnung.
Ganzer Text mit Quellenangaben und Fussnoten:
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