An Pfingsten geht es um Macht, Autorität und Legitimation. Natürlich kommen in der biblischen Pfingstgeschichte auch Feuerzungen und Sprachwunder vor. Aber im Kern geht es um Fragen, die jedes Start-Up, viele Organisationen und fast alle politischen Bewegungen kennen: Was passiert, wenn die charismatische Gründerfigur ihren Platz räumt? Wie wird die Nachfolge geregelt? Wer kommt mit welcher Begründung an die Macht? Und wer bestimmt fortan die Zielsetzung und Ausrichtung?
Wie geht es weiter, nachdem Jesus in den Himmel aufgefahren ist? Das Christentum gibt zwei unterschiedliche Antworten auf die brennende Frage der Nachfolgeregelung: eine zentralistisch-hierarchische und eine dezentral-charismatische.
Die zentralistische Antwort lautet mit den Worten Jesu an Petrus aus dem Matthäusevangelium: «Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen.“ Daraus leitet die römisch-katholische Kirche ihre Berufung und Autorität ab. Petrus ist der Fels, auf dem Gottes Kirche steht. Der Bischof von Rom steht in seiner Nachfolge. Seine Bischöfe geben die Macht durch Handauflegung weiter.
Diese Legitimationserzählung aus dem Matthäusevangelium wird von der Pfingstgeschichte in der Apostelgeschichte subversiv unterlaufen. Alle Freunde Jesu sind in Jerusalem versammelt. Sie werden vom Heiligen Geist ergriffen und sprechen so, dass sie von allen Anwesenden verstanden werden. Das Pfingstwunder besteht darin, dass die Menschen von der Botschaft „mitten ins Herz“ getroffen werden. Petrus erklärt den staunenden Zuhörenden, wie sie zu einer oder einem wie er werden können, indem sie umkehren, sich taufen lassen und Gottes Geist empfangen. Gleiche unter Gleichen.
Wie soll also die Jesus-Bewegung mit Autorität und Macht umgehen? Indem sie auf einen berufenen Anführer setzt, der die Richtung vorgibt? Oder indem sie sich selbst als Bewegung begreift, die sich immer wieder über den Weg verständigen muss? Petrus kommt in beiden Geschichten vor: Im einen Fall als der Leader, auf dessen Schulter die ganze Kirche ruht, im anderen Fall als Mitglied der Gemeinschaft der Begeisterten, in der Gott selbst zu den Menschen kommt und sich ihrem Reden und Verstehen ausliefert.
Jahrhundertelang beanspruchten die Mächtigen für sich das erste Narrativ. Nicht nur geistliche, sondern auch weltliche Macht wurde durch die Beanspruchung einer göttlichen Autorität gerechtfertigt. Kaiser wurden vom Papst durch Gottes Gnaden autorisiert und gesalbt, Thron und Altar mit der Vorsehung und Erwählung Gottes legitimiert. Heute wirkt diese Verbindung zwischen Kreuz und Schwert – Gott sei Dank – entweder antiquiert oder bedrohlich. Nur autokratische Staatsführer brauchen eine übermenschliche Autorisierung. Vielleicht weil es ihnen genau an der Menschlichkeit fehlt.
Die politische und kirchliche Erfolgsgeschichte des zweiten pfingstlichen Modells beginnt mit der Reformation. Parlamente und Synoden wurden eingeführt und mit der Zeit immer repräsentativer besetzt. Es setzt auf die Beteiligung, Begeisterung und Inspiration jeder einzelnen Person und auf die Überzeugungskraft von Argumenten anstatt Herkunft. Eine pfingstliche Welt ist aufwändig und streitbar. Sie setzt voraus, dass sich Menschen mitverantwortlich fühlen, berühren lassen, Initiative ergreifen und gemeinsam Sorge tragen. Das gilt nicht nur in den Kirchen. Wir alle brauchen zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure, NPOs und Vereine, damit Demokratie nicht zur plumpen Macht der Mehrheit verkommt und unsere Gesellschaft als verbindende Gemeinschaft erfahrbar wird.
Dieser Beitrag ist am 25.5.2023 im Tagesanzeiger erschienen.
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