Glaube, Liebe, Hoffnung Oder: Was die reformatorischen Kirchen angesichts der dreifachen Krise der Gegenwart beitragen können

Einleitung

Herzlich willkommen zum Ende der Geschichte![1] Zumindest, wenn man Francis Fukuyama und seinem erfolgreichen Buch „Das Ende der Geschichte“ (1992) folgt. Laut Fukuyama beobachtet die Menschheit nach Ende des Kalten Krieges „nicht nur … wie eine bestimmte Periode der Nachkriegsgeschichte vergeht, sondern das Ende der Geschichte selbst: das heißt den Endpunkt der ideellen Entwicklung der Menschheit und die Universalisierung der liberalen westlichen Demokratie als das finale Stadium menschlicher Regierungsformen“ (Fukuyama 2020: 2). Nach Jahrtausenden konkurrierender Möglichkeiten zur Bildung und Regierung von größeren menschlichen Gemeinschaften steht nun die Gewinnerin fest: die säkulare, westliche, liberale Demokratie mit ihrer freien Marktwirtschaft.

Oder etwa nicht? Wie sieht unsere Welt heute, also einige Jahrzehnte nach Fukuyamas Diagnose aus? Und wie steht es um die von Fukuyama genannten Eckpfeiler unserer Gesellschaften: säkular, freie Marktwirtschaft, westlich, liberale Demokratie?

Wie säkular ist unsere Welt? Seit Jahren kennen die Kirchenmitgliedschaftsstatistiken in der Schweiz, in Deutschland und in vielen Teilen Westeuropas nur eine Richtung: steil nach unten (Statista Research Department 2023). Doch das ist nur ein Teil der Realität. Sobald sich der Blick über Westeuropa hinaus weitet, zeigt sich ein völlig anderes Bild. Wie eine aktuelle Studie aufweist, gehören 85% der Weltbevölkerung einer Religion an (World Population Review 2022). Und fast alle großen Glaubenstraditionen werden im 21. Jahrhundert weiter wachsen (Pew Research Center 2015). Der Rückgang der institutionalisierten Kirchen, den wir in vielen Teilen Westeuropas erleben, ist global betrachtet die Ausnahme, nicht die Regel. Ist unsere Welt also säkular? Definitiv nicht.

Wie steht es um die freie Marktwirtschaft? Es ist noch nicht lange her, dass eine der großen globalen Banken zusammengebrochen ist und zwar im Herzen von Europa: die Crédit Suisse. Während die Crédit Suisse in den letzten zehn Jahren einen Verlust von drei Milliarden Franken verzeichnet hat, hat sie 32 Milliarden Franken an Vergütungen an Top-Manager ausgezahlt (Hüsser 2023). Auch die katastrophalen Folgen der globalen Bankenkrise von 2010 haben sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Hemmungslose Gier, Rücksichtslosigkeit und Exzess scheinen zu den dominierenden Merkmalen der freien Marktwirtschaft geworden zu sein und führen damit deren Reformbedürftigkeit drastisch vor Augen. 

Und wie sieht es mit dem westlichen Lifestyle als vorherrschendem globalen Paradigma aus? Nahezu überall auf der Welt lässt sich die Lieblingsfolge von „Friends“ anschauen und dabei einen Starbucks Caramel Latte auf dem Grönlind IKEA Sofa genießen. Die Menschenrechte sind zur globalen moralischen Sprache geworden. Und während der Warschauer Pakt nach dem Ende des Kalten Krieges aufgelöst wurde, besteht die NATO weiterhin und wird sogar erweitert. Doch hat nicht nur Russlands völkerrechtswidriger Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022 die Illusion von einem globalen westlichen Dorf radikal zerstört. Denn schon bevor Russlands offene Machtdemonstration seine imperialistischen Ambitionen untermauerte, hat Chinas Seidenstraßeninitiative seit 2013 den wirtschaftlichen und politischen Einfluss Chinas ausgeweitet und seine globalen Machtansprüche unterstrichen (McBride et al. 2023). Daneben gibt es – etwa mit den anderen BRICS-Ländern – weitere aufstrebende globale Akteure, die den westlichen Lebensstil, einschließlich seiner politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Auswirkungen, herausfordern bzw. teils radikal ablehnen.

Und wie steht es um unsere liberalen Demokratien, die Fukuyama als das „finale Stadium menschlicher Regierungsformen“ (Fukuyama 2020: 2) beschreibt? Und was ist mit unseren multilateralen Institutionen und der Art und Weise, unsere Gesellschaften und Organisationen miteinander zu verknüpfen, in der UN, in der EU? Der feste Glaube an das Motto „je mehr, desto besser“ erhielt einen empfindlichen Dämpfer, als Großbritannien im Juni 2016 für den Brexit stimmte. Nicht nur schätzen die Menschen lokale Gemeinschaften offenbar viel mehr, als viele von uns dachten, sondern der Aufstieg des Nationalismus in vielen Ländern zeigt deutlich, dass Liberalismus, Multilateralismus und Multikulturalismus offenbar ihre Grenzen haben. Der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien wie Fratelli d’Italia in Italien, der AfD in Deutschland oder der PVV in den Niederlanden nährt sich aus einer explosiven Mischung aus nationalistischen Idealen, sozialer Unzufriedenheit und Enttäuschung mit dem Liberalismus (Deneen 2018: 3).

Die Ergebnisse dieser Entwicklungen, wie sie hier zugegebenermaßen nur sehr holzschnittartig auf den unterschiedlichen Ebenen skizziert werden, verdichten sich zu einer dreifachen Krise der Gegenwart (cf. Tomlin 2023):

1. Eine Krise des Vertrauens: Wir erleben derzeit in Europa und darüber hinaus einen Vertrauensverlust auf vielen verschiedenen Ebenen. Die Finanzkrise etwa hat uns gelehrt, dass Banken nicht vertrauenswürdig sind. Das sogenannte Qatar Gate enthüllte Korruption im Herzen der EU. Und die Kirche scheint auch nicht besser zu sein, mit ihren zahlreichen Skandalen, die auch das verbliebene Restvertrauen noch untergraben.

2. Eine Krise der Sicherheit: Schon seit einiger Zeit befinden wir uns im ständigen Krisenmodus. Eine Krise scheint auf die andere zu folgen: Bankenkrise, die COVID-19 Pandemie, Russlands Angriffskrieg in der Ukraine, die Klimakrise, Krieg in Nahost, um nur einige davon zu nennen.

3. Eine Krise der Vision: Wir leben in einer Zeit, in der es nur wenige gemeinsame und tragfähige Visionen für die Zukunft gibt. Es fehlen verbindende Ideen und ein neues „social imaginary“ (Charles Taylor).

Es scheint, dass genau diese dreifache Krise des Vertrauens, der Sicherheit und der Vision zu der toxischen Mischung aus Vorurteilen, Misstrauen und Hass beiträgt, die in vielen aktuellen Kontexten zu Tage tritt. Doch zeigt sich in dieser dreifachen Krise der Gegenwart noch mehr, nämlich eine Krise der Liebe, der Hoffnung und des Glaubens. Und gerade hier können die reformatorischen Kirchen einen fundamental wichtigen Beitrag leisten. Denn liberale Gesellschaften beruhen auf Voraussetzungen, die sie sich selbst nicht geben können (Böckenförde). Wie aber kann der Beitrag reformatorischer Kirchen hier aussehen? Welche verbindenden ethischen Potenziale lassen sich fruchtbar machen?

1. Krise des Vertrauens: Liebe als Verantwortung

Der aktuellen Krise des Vertrauens lässt sich nur mit Verantwortung begegnen – ein schillernder Begriff, ebenso oft gebraucht wie missbraucht. Und der immer auch, wie von Spiderman Peter Parker zu lernen ist, mit Macht zusammenhängt. Damit Verantwortung also nicht unter der Hand zum Feigenblatt für Machtmissbrauch wird, ist die Rückbindung an die Liebe zentral. „Dilige et quod vis fac“, so sagte es Augustin. „Liebe – und tue, was Du willst”. Das klingt zwar gut, ist aber noch reichlich unkonkret. Um dem Verantwortungsbegriff als Gestalt von Liebe Kontur zu geben, soll im Folgenden auf Dietrich Bonhoeffer zurückgegriffen werden. Er definiert Verantwortung wie folgt: „Dieses Leben als Antwort auf das Leben Jesus Christi … nennen wir ‚Verantwortung‘“ (Bonhoeffer 1992, 254). Das Antwortgeben steckt bereits im Wort Verantwortung drin. Mit unserem Leben ver-antworten wir uns vor Christus; unser Leben ist damit eine Antwort auf Christi Leben. Daraus folgt nach Bonhoeffer mindestens zweierlei:

1.1 Verantwortung ist nicht privat, sondern öffentlich

Der Schlüsselgedanke ist dabei folgender: „Wie in Christus die Gotteswirklichkeit in die Weltwirklichkeit einging, so gibt es das Christliche nicht anders als im Weltlichen“ (Bonhoeffer 1992, 44). Dieser schlichte Satz hat explosiven Gehalt. Denn nach Bonhoeffer kann das Weltliche, das Säkulare nicht vom Christlichen getrennt werden. Unterschieden ja – sonst droht religiöser Fundamentalismus – aber nicht getrennt. Bonhoeffer distanziert sich hier klar von einer falsch verstandenen so genannten „Zwei-Reiche Lehre“. Insbesondere in der lutherischen Tradition hat dieses Missverständnis, das aus der „Zwei-Reiche Lehre“ eine „Zwei-Bereiche Lehre“ gemacht hat, viele Probleme bereitet. Vor diesem Hintergrund erklärt es sich, dass auch die Leuenberger Konkordie die Zwei-Reiche-Lehre als eines der Themen benennt, die es noch weiter zu bearbeiten gilt (§ 39).

In einer missverstandenen „Zwei-Reiche-Lehre“ wird das geistliche Reich nun nicht mehr nur vom weltlichen Reich unterschieden, sondern geschieden. Damit verliert es aber seine Relevanz für das weltliche Reich. Christliche Existenz wird somit unsichtbar im öffentlichen Raum. Dieses „pseudo-reformatorisches Denken“ (Bonhoeffer 1992, 41), wie Bonhoeffer es nennt, verstärkte sich durch das nach-aufklärerische Postulat, das den legitimen Ort der Religion primär in der Privatsphäre ausweist, nicht jedoch im öffentlichen Raum. Die Diskussion um den politischen Liberalismus wie er u.a. durch John Rawls und seine „öffentliche Vernunft“ geprägt wurde, die in zentralen Fragen nur „freistehende Argumente“ zulässt (Rawls 1998, 349f.), verstärkt diesen Trend ebenso wie die so genannte Säkularisierungsthese – obwohl sich letztere auch empirisch als unhaltbar erwiesen hat. Gleichwohl ist dieses Mindset bis heute einflussreich. Dagegen ist mit Bonhoeffer festzuhalten: Es gibt keine private Kirche. Theologie und Kirche sind immer öffentlich. Sie engagieren sich in den Herausforderungen unserer Gesellschaft und lassen sich selbst durch sie herausfordern. Verantwortliches Handeln, das auf die Privatsphäre begrenzt ist, ist ein Widerspruch in sich selbst.

1.2 Verantwortung ist nicht auf mich, sondern in Liebe auf den anderen gerichtet

„Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben kann“ (Bonhoeffer 1998, 25). Spätestens seit seinem Eintritt in den politischen Widerstand 1939 hatte Bonhoeffer den eigenen, gewaltsamen Tod als realistische Möglichkeit stets vor Augen. Doch richtet sich sein Blick vor allem auf die kommenden Generationen. Auch unsere jungen Generationen stehen nun wieder vor längst überwunden geglaubten Herausforderungen: Krieg an den Grenzen Europas oder das Erstarken nationalistischer Parteien innerhalb Europas. Dazu kommen neue Herausforderungen wie der weltweite Klimawandel. Als reformatorische Kirchen in Europa gilt es dabei, unseren Blick nicht nur auf uns selbst zu richten und auf unsere eigenen Herausforderungen – die ja zweifelsohne auch und reichlich vorhanden sind - sondern in Verantwortung aus Liebe auf den anderen zu richten. Oder wie es Bonhoeffer in einem Brief aus dem Gefängnis an seinen Freund Eberhard Bethge schreibt: „Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist“ (Bonhoeffer 1998: 560). Genau in diesem Geist zeigt sich übrigens auch die Leuenberger Konkordie, wenn sie die Christinnen und Christen „zu verantwortlichem Dienst in der Welt“ ruft (§ 11).

2. Krise der Sicherheit: Hoffnung als „Arbeit für eine bessere Zukunft“

Ende der 1980er Jahre eroberte Eddy Grant mit seinem Lied „Gimme Hope Jo’Anna“ die internationalen Musikcharts. Gut verpackt in Reggae Beats ist dieses Lied eine scharfzüngige Kritik am herrschenden Apartheidsregime in Südafrika. Eddy Grant weiß, dass Hoffnung für Menschen überlebenswichtig ist. So ruft er auch nicht zunächst nach Geld („Gimme Money!“), auch nicht nach Freiheit („Gimme Freedom!“), sondern es ist die Hoffnung, die er besingt. Auch die christliche Tradition weiß um die tragende Bedeutung von Hoffnung. So Paulus schreibt an die junge Kirche in Korinth: „So bleiben nun Glaube, Hoffnung, Liebe“ (1. Kor 13,13). Nur um dann schnell hinzuzufügen: „Die Liebe aber ist die größte unter ihnen.“ Im Laufe der Kirchen- und Theologiegeschichte, vor allem im reformatorischen Bereich, machte dann aber eine der anderen Schwestern Karriere: der Glaube. Sola fide! Und Hoffnung, die dritte im Bunde? Sie blieb fast ein bisschen blass im Schatten ihrer beiden großen Schwestern. Es passt daher ins Bild, dass die Hoffnung - anders als Glaube und Liebe – übrigens auch in der Leuenberger Konkordie an keiner Stelle genannt wird. Ein Verlust, wie ich meine. Denn auch die Theologie hat allen Grund, eine Ode an die Hoffnung zu singen (vgl. Schliesser 2022a, Thomas 2021).

Doch scheint die Signatur unserer Zeit die Krise zu sein. Immer wieder werden in der Theologie daher Rufe nach einer „Theologie der Krise“ laut. Es ist jedoch nicht eine „Theologie der Krise“, die dringend benötigt wird, sondern eine neue „Theologie der Hoffnung“. Drei Punkte sollen dafür kurz skizziert werden.

1. Hoffnungswurzeln. Hoffnung, so der große Theologe der Hoffnung Jürgen Moltmann, ist vorweggenommene Freude. Freude im Wissen um Erfüllung. Im Wissen darum, dass in Jesus Christus der Himmel auf die Erde gekommen ist, ja, das Reich Gottes selbst bereits angefangen hat, gründet sich die Hoffnung und damit auch die Motivation und das Engagement, sich für eine bessere, für eine gerechtere Welt einzusetzen. Diese Hoffnung weist schon voraus auf ihre Erfüllung. Hoffnung ist fest gegründet in Gottes Versöhnungshandeln mit uns Menschen, sie ist gegründet im Tod und in der Auferstehung Jesu Christi. Die Hoffnung stirbt daher auch nicht zuletzt. Sondern die Hoffnung ist auferstanden.

2. Hoffnungswumms. Hoffnung ist nicht zu verwechseln mit Naivität oder schlichtem Optimismus. „Dann hoffen wir mal das Beste!“ – das ist keine Hoffnung, sondern Wunschdenken. Hoffnung ist also gerade nicht Apathie oder Trägheit, sondern Hoffnung nimmt Gestalt an, indem sie tätig wird. Christliche Hoffnung ist damit auch das genaue Gegenteil von Resignation oder Vertröstung auf ein besseres Jenseits, deren lähmende Auswirkungen Marx oder Nietzsche völlig zu Recht kritisierten. Denn wahre Hoffnung bewegt! Im Deutschen steckt in Hoffnung das Wort „hüpfen“ drin. Vor Erwartung unruhig zappeln – das ist der Modus der Hoffnung. Und Hoffnung ist aktiv. Der Psychologe Matthew Gallagher beschreibt Hoffnung daher als einen „active coping approach“. „Hoffnung ist die Art und Weise, wie wir über unsere Ziele für die Zukunft nachdenken können, inwieweit wir Wege oder Strategien zum Erreichen dieser Ziele identifizieren können und dann auch die Motivation oder die Handlungsfähigkeit aufrechterhalten können, selbst angesichts von Hindernissen“ (zitiert in: Dastagier 2020, Übersetzung CS). Hoffnung also als aktive Bewältigungsstrategie angesichts von Hindernissen. Damit aber kein falscher „Hoffnungsdruck“ entsteht, ist Folgendes wichtig: Nicht wir halten die Hoffnung fest. Sondern die Hoffnung hält uns fest.

3. Hoffnungswut. Hoffnung wartet nicht etwa geduldig in der Schlange bis sie irgendwann mal an der Reihe ist, sondern Hoffnung drängt nach vorne. Hoffnung erinnert Gott immer wieder: „Dein Reich komme!“ Wir stecken immer noch fest irgendwo zwischen Versöhnung und Erlösung. Gottes Reich ist bereits hereingebrochen, aber es ist noch nicht vollendet. Gemeinsam mit aller Kreatur seufzen und schreien wir nach Erlösung. Wir kommen vor Gott und bedrängen ihn mit unserer Wut, unserer Ohnmacht, unserer Angst und ja, auch unserer Hoffnungslosigkeit. Hoffnung verbindet sich mit dem Gestern, Hoffnung streckt sich nach dem Morgen aus, aber Hoffnung lebt im Hier und Jetzt. Weil wir wissen, was kommt, können wir lieben, was ist. Hier stehen wir Seite and Seite mit Nietzsche und rufen gemeinsam „Brüder – und Schwestern –, bleibt der Erde treu!“ Bonhoeffer spricht von der tiefen Diesseitigkeit des Lebens, die genau das zum Ausdruck bringen will. Weder Weltflucht noch Weltromantik, sondern in der Gewissheit, das Beste kommt noch, heute das eigene Beste geben. „Es gibt Menschen, die es für unernst, Christen, die es für unfromm halten, auf eine bessere irdische Zukunft zu hoffen und sich auf sie vorzubereiten. Sie glauben an das Chaos, die Unordnung, die Katastrophe als den Sinn des gegenwärtigen Geschehens und entziehen sich in Resignation oder frommer Weltflucht der Verantwortung für das Weiterleben, für den neuen Aufbau, für die kommenden Geschlechter. „Mag sein, dass der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht“ (Bonhoeffer 1998, 36).

3. Krise der Vision: Glaube als Öffentliche Theologie

Wie aber können reformatorische Kirchen in Europa mit ihrer Liebe, ihrer Hoffnung und ihrem Glauben in ihre jeweiligen pluralen Kontexte ausstrahlen, um ein neues „Social Imaginary“ (Charles Taylor) zu entfalten? Wie können sie in einer Weise sprechen, die einerseits ein klares theologisches Profil zeigt, die aber zugleich für ihre nicht- oder andersreligiösen Gegenüber verständlich ist? Um diese Fragen zu beantworten, soll abschließend das Paradigma der Öffentlichen Theologie im Sinne einer „Tool-Box“ kurz vorgestellt werden (vgl. Schliesser 2022b).

Laut Wolfgang Huber geht es Öffentlicher Theologie darum, „die Fragen des gemeinsamen Lebens und seiner institutionellen Ausgestaltung in ihrer theologischen Relevanz zu interpretieren und den Beitrag des christlichen Glaubens zur verantwortlichen Gestaltung unserer Lebenswelt zu ermitteln“ (Huber 1996, 14). Öffentliche Theologie hält demnach sowohl an der Öffentlichkeitsrelevanz der Theologie als auch an der Theologierelevanz der Öffentlichkeit fest. Als internationales Phänomen weist Öffentliche Theologie je nach Kontext unterschiedliche Schwerpunktsetzungen auf. Der südafrikanische Öffentliche Theologe John de Gruchy weist dabei auf folgende allgemeine Merkmale Öffentlicher Theologie hin (de Gruchy 2007, 40): Sie ist engagiert in Fragen öffentlicher Relevanz. Sie ist zweisprachig, d.h. sie kommuniziert sowohl in ihrer eigenen, theologischen Sprache als auch mit Hilfe säkular verständlicher Sprachspiele. Sie ist interdisziplinär. Indem sie ihren je partikularen, lokalen Kontext mit einer globalen Perspektive verbindet, ist Öffentliche Theologie „glocal“. Sie ist kirchlich verwurzelt und zeichnet sich durch eine lebendige Spiritualität aus. Und sie ist christozentrisch.

Der letzte Punkt ist hier besonders wichtig, ist er doch quasi der Markenkern christlicher Öffentlicher Theologie. Aber worin zeigt sich diese Christozentrik konkret? Dabei eignet sich die klassische Denkfigur des munus triplex, d.h. des dreifachen Amtes Christi als König, Prophet und Priester,– nicht zuletzt auch aufgrund ihres einzigartigen ökumenischen Charakters – in besonderer Weise, um die christologische Zentrierung wie Ausrichtung Öffentlicher Theologie deutlich zu machen. Den drei Ämtern Christi als König, Prophet und Priester lassen sich Jesu vorösterliches Leben, Kreuz und Auferstehung zuordnen (Welker 2013). Auf diese Weise lässt sich konkrete Orientierung für eine lokal verankerte und global ausgerichtete Öffentliche Theologie generieren. Wie kann das aussehen?

Die Rückbindung des königlichen Amtes Christi auf seine Inkarnation und sein irdisches Leben richtet den Fokus auf ganz bestimmte Facetten des Reiches Gottes. In der von Jesus praktizierten geschwisterlichen Liebe, Tischgemeinschaft und Solidarität mit den Marginalisierten und Ausgestoßenen zeigt sich zugleich eine Herrschafts- und Machtkritik, die auf ein egalitäres und demokratisches Ethos weist. In Jesu gelebter „servant leadership“ scheinen alternative Modelle zu hergebrachten Hierarchien auf, die sich am gemeinschaftlichen Wohl statt an Dominanz orientieren.

Im Licht und im Schatten des Kreuzes erhält das prophetische Amt Tiefe und Kontur. Das Kreuz zeigt schonungslos die Brutalität und Verlorenheit der Menschheit auf. Doch weist das Kreuz nicht nur auf die Fragilität der conditio humana, sondern ebenso auf konstruktive Wege durch Versöhnung und Vergebung mit den eigenen Unzulänglichkeiten und mit Schuld umzugehen. Zugleich verbindet sich mit dem zu Tode gefolterten Gottessohn der Aufschrei gegen alle Ungerechtigkeit und Unterdrückung und für Gerechtigkeit und Frieden. Zugleich klingt hier inmitten der Realität des Leidens, Mitleidens und Protests bereits eine neue Wirklichkeit an, die Hoffnungsbotschaft der Auferstehung.

Gedeutet aus dem Licht der Auferstehung weist das priesterliche Amt Christi eine radikale Hoffnungsperspektive auf. Die frühe Kirche hat das Zeugnis von der Auferstehung insbesondere mit symbolhaften Handlungen wie der Feier des Abendmahls verbunden. Das Zeugnis einer radikalen Hoffnung wird hier lebendig und überschreitet die Grenzen des Hier und Jetzt. Diese verwegene Hoffnungsbotschaft kreativ, intelligent und verständlich zu bezeugen – vielleicht ist dies aktuell die hervorragendste Aufgabe Öffentlicher Theologie. „Cultural Witness“, eine neue Initiative der Church of England, hat sich dieser Aufgabe verschrieben und kann hier als Inspiration dienen (Cultural Witness 2023). Graham Tomlin beschreibt deren Vision wie folgt: „We need a serious attempt to make the case for Christian faith in public, and to defend and proclaim that faith intelligently, imaginatively in our current climate. While public media tends to listen to the Church when it speaks on political issues or engages in social action, it has been harder to get much hearing in public discourse for the heart of the church’s core message as gospel, centred on Jesus Christ, and its creative and imaginative power. We need a serious engagement with a kind of broad cultural witness that underpins our evangelistic and church-building efforts and aims to change the public narrative about Christian faith, as an expression of the aspiration to be ‘bolder’ as a church“ (Tomlin 2023).

Und zugleich gilt natürlich: Glaube, Hoffnung, Liebe gehören zusammen. Der gegenwärtigen dreifachen Krise von Vertrauen, Sicherheit und Vision, wie sie aktuell auf vielen Ebenen sichtbar wird, begegnen die reformatorischen Kirchen in Europa, indem sie Liebe als Verantwortung, Hoffnung als „tätige Arbeit für eine bessere Zukunft“ und Glaube als Öffentliche Theologie in ihre jeweiligen Gesellschaften hinein ausstrahlen.


Literatur

Bonhoeffer, Dietrich. 1998. Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft (= Dietrich Bonhoeffer Werke Bd. 8), hg. v. Christian Gremmels u.a., Gütersloh.

Bonhoeffer, Dietrich. 1992. Ethik (= Dietrich Bonhoeffer Werke Bd. 6), hg. v. Ilse Tödt u.a., München.

Cultural Witness. 2023. https://www.archbishopofcanterbury.org/priorities/centre-cultural-witness.

Dastagir, Alia E. 2020. Why it’s so important to hope, USA Today, October 10, 2020. https://eu.usatoday.com/story/news/nation/2020/10/10/hope-essential-mental-health-and-well-being-psychologists-say/5942107002/.

Deneen, Patrick J. 2018. Why Liberalism Failed. New Haven.

Fukuyama, Francis. 1992. The End of History and the Last Man, New York. Deutsche Übersetzung:  https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&ved=2ahUKEwjw7veh_tuBAxXGhP0HHbL5ANsQFnoECBIQAQ&url=https%3A%2F%2Fharp.tf%2Fwp-content%2Fuploads%2F2020%2F12%2FBroschuere-final_pdf.pdf&usg=AOvVaw1LIwPfY9kkfpGY40xF7Sy1&opi=89978449

Hüsser, Noemi. 30 March 2023. Wie können Boni zurückgeholt werden? In: SRF Schweizer Radio und Fernsehen. https://www.srf.ch/news/wirtschaft/uebernahme-der-cs-durch-die-ubs-wie-koennen-boni-zurueckgeholt-werden

Leuenberger Konkordie. https://www.leuenberg50.org/

McBride, James, Noah Berman and Andrew Chatzky. 2 February 2023. China’s massive belt and road initiative. In: Council on Foreign Relations. https://www.cfr.org/backgrounder/chinas-massive-belt-and-road-initiative.

Pew Research Center. 2015. The Future of World Religions: Population Growth Projections,

2010-2050. https://www.pewresearch.org/religion/2015/04/02/

religious-projections-2010-2050/.

Rawls, John. 1998. Politischer Liberalismus, Frankfurt am Main.

Schliesser, Christine. 2022a. Heaven Is a Place on Earth?! Hope as Signature of Christian Existence, in: Cursor. Zeitschrift für explorative Theologie. https://cursor.pubpub.org/hopeless

Schliesser, Christine. 2022b. Dietrich Bonhoeffer und Öffentliche Theologie – Plädoyer für eine christologische Kontur Öffentlicher Theologie. In: Kritische Öffentliche Theologie. Festschrift für Wolfgang Huber. Heinrich Bedford-Strohm, Peter Bubmann, Hans-Ulrich Dallmann, Helga Kuhlmann und Torsten Meireis (Hg.), Leipzig, 127-136.

Statista Research Department, Statistiken zur Religion in der Schweiz, 16.02.2023. https://de.statista.com/themen/2184/religion-in-der-schweiz/#topicOverview

Thomas, Günter. 2021. Heaven is (not) a Place on Earth. In: Junge.Kirche 82:12-16.

Tomlin, Graham. 2023. Reviving post-liberal society. https://www.seenandunseen.com/reviving-post-liberal-society.

Tomlin, Graham. 2023. Internes Dokument.

Welker, Michael. 2013. Global Public Theology and Christology, in: Bedford-Strohm, Heinrich, Höhne, Florian, Reitmeier, Tobias (Hg.), Contextuality and Intercontextuality. Münster, 281-290.

World Population Review. 2022. Religion by Country 2022. Viewed from: https://

worldpopulationreview.com/country-rankings/religion-by-country.


[1] Der vorliegende Beitrag wurde als Vortrag auf der Jubiläumstagung der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz EKS „‚Suchet der Stadt Bestes‘ (Jer 29, 7). Wie miteinander in Europa? Ethische Konsequenzen ‚versöhnter Verschiedenheit‘“ anlässlich 50 Jahre Leuenberger Konkordie gehalten, die vom 3.-5. November 2023 in Bern stattfand. Der Vortrag wurde für den Druck geringfügig überarbeitet.

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Christine Schliesser

PD Dr. theol.

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